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Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Moden von gestern

Ansichten eines fiktiven Pfarrers

von Verena Flick

Der folgende Text ist ein geschlossener Abschnitt aus meinem Romanprojekt:"Ottilie. Eine Gespenstergeschichte", in dem versucht werden soll, mittels einer imaginären Vorgeschichte von Goethes "Wahlverwandtschaften" dieses Werk unter neuen Aspekten zu sehen. Der Ich-Erzähler,ein junger Kunsthistoriker, sucht einen pensionierten Pfarrer auf, der über diese Vorgeschichte einiges weiß. Im Dialog zwischen Kunsthistoriker und Pfarrer findet sich nun eine Passage, die unabhängig vom Kontext verstanden werden kann und zum Thema "Kirche und Kultur" einiges aussagt. Sie wird im folgenden abgedruckt.


Rasch verließ er das Zimmer und kehrte nach einer kurzen Zeit mit einer Flasche Wein zurück. Es war der beste Wein, den ich seit langem getrunken hatte, und er ermutigte mich schon nach ein paar kleinen Schlucken, mich gründlich über die Gottesdienstmethoden seiner Nachfolgerin zu beschweren. Er winkte mit einem leichten Seufzen ab. "Sie brauchen mir nicht viel zu sagen. Doch glauben Sie nur nicht, daß die Männer besser sind. Wenn ich da an die Mitbewerber für meine Nachfolge denke! Der eine war ein echter Workoholic im Kampf gegen alles Böse der Welt, von morgens bis abends an nichts als an alle Armen und Elenden denkend und vor allem von nichts anderem redend. Durch ihn verstand ich etwas, das ich bislang nie verstehen wollte: daß in bestimmten Intellektuellenkreisen das Wort "Gutmensch" ein schweres Schimpfwort ist.

Der zweite war ein Experte in Meditation, in einem Ashram in Indien gründlich ausgebildet, weshalb er auch mit Todesverachtung von unsrem Ego sprach. Leider hatte er das Talent entwickelt, die fernöstliche Strenge durch typisch westlichen Kitsch aufzulockern, was bei Christen, die etwas vom Osten lernen wollen, freilich keine Seltenheit ist.

Nun, und der Dritte war der erste Vorsitzende des bekannten Klubs motorradfahrender Pfarrer. Ach ja..."

Diese Liste hatte mir gerade noch gefehlt. Nicht nur, daß mich das alles an Lisa erinnerte, was nach dem Ende der Beziehung besonders peinigend war, es schien mir auch die Harmonie des Raums zu stören, ja selbst den Wein ein wenig zu trüben. Etwas unwirsch machte ich meinem Ärger Luft:

"Das ist ja eine exakte Beschreibung aller Moden von gestern! Nimmt man dann den Feminismus Ihrer Nachfolgerin dazu, so wird alles noch exakter. Und diese vergangenen Stile sind in der Kirche bis jetzt pure Präsenz, aufrecht nebeneinander stehend wie die Heringe in der Dose! Wie halten die Leute das aus?"

"Gut beschrieben", sagte der Pfarrer. "Nur etwas unvollständig. Nur haben Sie die Jugendbewegung alten Schlags vergessen. Dabei hat ihre aufreizende Bravheit die Kirche bis heute verseucht. Ach, ich weiß, wie diese Klampfentypen meine Studienzeit vergifteten! Kaum waren wir den Hitler - leider meist unfreiwillig - losgeworden, galvanisierte man schon wieder all die Wandervogel - Biederkeiten , als seien sie genau so schuldlos, wie sie sich gaben.. Dabei schaute draußen in der Welt die Jugend, alles Deutschen müde, konsequent nach Amerika und lachte über den alten Plunder, den wir da hegten und pflegten. Gerade dadurch änderten sich die Zeiten und mit ihnen die Jugendbewegungen. Was sich aber nicht geändert hat, sind wir. Immer noch galvanisieren wir die Jugendkulte von gestern, als müsse das so sein, und tun das mit der gleichen Verbissenheit wie eh und je. Denn das Galvanisieren ist kein Vergnügen! Man muß nur unseren Gutmenschen erleben, wenn er mit einem der Armen konfrontiert wird, für die er so streitbar im Stil der Achtundsechziger kämpft. Da hört man nichts als den gereizten Tonfall von schwer gestreßten Krankenpflegern. Und warum verzuckert der andere seinen fernen Osten mit so viel westlichem Kitsch? Weil er sein Ego dafür trösten muß, daß er Tag für Tag gezwungen ist, es zu schmähen. Und den verehrten Herrn Vorsitzenden des Klubs motorradfahrender Pfarrer habe ich einmal gesehen, wie er um die Kurve bog. Wie ein Hund hat er gelitten! Und daß meine Nachfolgerin von Zeit zu Zeit keine Frauenstimme mehr hören kann, ist hier ein offenes Geheimnis."

"Warum machen sie trotzdem weiter? Walter Benjamin hat doch nicht ohne Grund gesagt, daß die Mode von gestern das größte Antiaphrodisiacum ist, das es gibt. Deswegen werden die Kirchen leerer und leerer. Merkt das denn niemand?"

"Ach, neuerdings merkt man es immer mehr. Deshalb schaltet die Kirchenleitung auch Werbeagenturen ein, um die Leute auf den Stand der Mode von heute zu bringen. Nun heißt es, sich auf den Business - Look zu trimmen, der corporate identity des Unternehmens Kirche nicht zu schaden und mit jedem Schritt zu beweisen, daß man zwei Herren dienen kann: Gott und dem Mammon. Gott sei Dank hängen wir an all den Antiaphrodisiaca so sehr , daß wir nie wie perfekte Reiche aussehen werden. Und wenn man uns so auf die Gegenwart dressiert, daß wir keinen freien Schritt mehr wagen können - wir bringen es schon fertig, die Mode von heute wie die Mode von gestern aussehen zu lasen. Trinken wir also auf die Antiaphrodisiaca!" Und er goß mir Wein nach.

"Aber...Sie haben doch selbst..." Ich war ganz verwirrt. Er blieb aber ruhig.

"Daß ich den Schlamassel, in den wir geraten sind, als solchen empfinde, haben Sie ja gemerkt. Doch er bietet uns einige Chancen. Schon allein die Tatsache, daß Katholiken wie Protestanten gleichermaßen in ihn gelangt sind, läßt hoffen. Sie glauben gar nicht, wie sich unsere Gemeinden ähneln! Die gleichen Bastelkreise, die gleichen kindischen Selbsterfahrungsspielchen, die gleiche kreuzbrav angejazzte Kirchenmusik, die sich Sacro-Pop nennt und doch dem deutschen Schlager zum Verwechseln ähnlich ist. Und was die sogenannte protestantische Nüchternheit betrifft, so ist sie von den Katholiken längst überboten. Dahin ist der Glanz und die Pracht einer Kirche, die bei uns in unsrer Jugend Neid erweckte, weil sie den Sinnen mehr bot. In beiden Kirchen gibt es die Gemeindesäle mit dem gleichen grellen Licht, das sich auch in den Dorfcafés und in den Fenstern der Wohnblocks findet, hier wie dort als Zeichen der Armut. Ja, genau das ist es, was beide Kirchen mehr als anderes eint: der Hauch von Armut. Da reden wir so leicht von oben über die vielen Armen da unten, die es unter vielen Opfern zu betreuen gilt, und vergessen, daß wir selbst zu ihnen gehören."

"Diesen Hauch von Armut habe ich auch gespürt, ich war ja eine Zeitlang mit einer Theologin befreundet.(Seltsam, wie leicht mir dieser Satz aus dem Mund herausfuhr und wie ich dann doch nach ein paar Sekunden ins Schlottern geriet. ) Doch dieser Hauch war richtig geisterhaft, weil die meisten Leute in der Kirche zum Mittelstand gehörten und also kaum Geldsorgen hatten."

"Ist denn Armut nur eine Sache des Geldes? Ein Hilfsarbeiter, der Millionen im Lotto gewinnt und sich als erstes dafür eine Schrankwand in echt Buche-Nachbildung kauft, ist genau so arm wie zuvor, auch wenn er dem Konto nach reich ist. Wirklich reich ist man nur, wenn man die Zeichensprache spricht, mit der sich alle, die oben sind, vom Rest der Menschheit unterscheiden. Und die lernt ein Christ nie! Wie soll er die federnde Präsenz im Hier und Jetzt gewinnen, die einen Reichen von heute auszeichnet, die Leichtigkeit, die allen Ballast abgeworfen hat, um restlos offen für den Erfolg zu sein? Wenn wir Christen den Ballast von Jahrtausenden abwerfen würden, den wir herumtragen, wäre das zugleich das Ende unseren Glaubens. Also hilft es nichts: wir bleiben unten. Und da gehören wir auch hin! Nachdem wir Jahrhunderte lang so hoch oben waren, daß wir straflos Hexen, Ketzer und Juden massakrieren durften, nur weil sie unsre Herrschaft in Frage stellten, haben wir jetzt die Quittung bekommen. Denn wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden - so hat doch Jesus klipp und klar gesagt. Und das ist eingetroffen. Was ist dabei? Der Spruch hat doch auch eine zweite Hälfte: wer sich selbst erniedrigt, soll erhöht werden. Daher sollten wir uns freuen, daß wir unten sind ."

"Freuen? Das geht doch gegen alle menschliche Natur. Nichts erträgt der Mensch ja schlechter als die Erniedrigung, und zwar , weil er nicht weiß, was das ist. Warum wollen wir alle lieber böse als blöd, lieber durchtrieben als behindert, lieber mafiös als arbeitslos sein? Weil sich die Wut der Menschen gegen alle, die auf irgendeine Weise unten sind, viel unverständlicher und qualvoller äußert als der Zorn auf das Böse. Wenn wir etwas Böses getan haben, werden wir dafür bestraft und wissen warum. Wenn wir unten sind, dann werden wir ausgelacht, und dieses Lachen ist mit einer Wut vermischt, die wir nicht verstehen. Nicht umsonst klingt der Zorn auf das Böse meist so pathetisch, weil er sich durch Nachdruck die Kraft holen will, die er von Natur aus nicht hat. Wenn jedoch ein Haufen Skinheads einen Behinderten verspottet und verprügelt, braucht ihre Wut keinen Nachdruck, denn sie ist eine Urkraft, die nichts ihresgleichen hat. Warum? Wer bringt Licht in solche Dunkelheit? Bestimmt nicht die Kirchen"

So plötzlich, daß ich nicht ohne Angst zusammenzuckte, klopfte mir der Pfarrer auf die Schulter. "Junge! Das ist eine Überraschung! Erst die Fraktale, dann die Erniedrigung! Also interessieren Sie sich für die gleichen Themen, die mich mehr als alle anderen fesseln!" Dann wurde er wieder still und ernst. "Nein, die Kirchen helfen uns hier nicht weiter. Denn sie fürchten sich wie alle anderen vor dem großen Eingeständnis , das einzig Licht in dieses Dunkel bringen kann. Denn wenn wir ehrlich sind, so müssen wir gestehen, daß der Skinhead, der auf Behinderte losprügelt, in jedem von uns lebt. Wir alle reagieren auf die Leidenden, als hätten sie uns etwas getan. Und stets ist es das Auge, das sich gegen unseren Kopf mit einem uralten Gefühl verbindet. Wenn wir Leidende, Unglückliche, Fremdartige erblicken, zucken wir zusammen, als wären wir vom bösen Blick getroffen. Und da will etwas Dunkles in uns diese Menschen gleichzeitig nachäffen, auslachen und so grausam wie möglich quälen. Warum? Die Menschen haben uns ja nichts getan. Doch wir hänseln sie nicht als Privatpersonen, sondern attackieren mit unsrer Wut den Tod, an den uns ihr Leiden gemahnt. Doch damit handeln wir genau so wie die Hexen , die mit Nadeln Puppen durchstechen, um das Urbild der Puppen zu treffen."

"Aber kommt ein Wort wie hänseln nicht von Hanse? Das habe ich jedenfalls in einem Lexikon gelesen. Gehänselt wurden die Neuankömmlinge, die in der Hanse etwas werden wollen . Und das geht nur, indem sie eine große Mutprobe machen, die auch richtig gefährlich ist. So etwas gibt es heute noch in Frankreich auf den Schulen. Und vor allem in Japan: da bringen sich Schüler deswegen um."

"Und wenn es hierzulande auch weniger extrem zugeht als vielleicht in Japan: ähnliches haben wir auch bei uns. Immer noch wird durch Riten entschieden, wer oben und wer unten sein wird. Immer das Gleiche: wer gehänselt wird, kann sich von der Schande, Ikone des Todes zu sein, nur auf eine Weise befreien: er muß dem Tod entgegentreten und ihn besiegen.

Freilich kann man so etwas in Reinkultur bei uns in der Tat nur auf Schulhöfen sehen. Wir sind ja nach geglückter Umerziehung ein aufgeklärtes Volk geworden und wissen gut, daß alle Mühen , den Tod zu töten, null und nichtig sind, da alle Menschen sterben müssen. Nur die Kultur, die Kultur...Warum kreist sie so um die Gewalt, daß sie nichts anderes mehr wahrnimmt? Von der trivialsten Fernsehserie bis zur hochgelobten Theaterinszenierung sieht man doch immer nur die gleichen Schulhof-Riten."

"Da stimmt doch etwas mit unserer Aufklärung nicht."

"Wie sollte es auch stimmen! Hat doch das Wort den Wert verloren , vergötzen wir die Bilder wie zu uralten Zeiten, denken wir doch alle magisch, ohne es zu ahnen. Was sind dagegen die vernünftigen Gedanken, die man nicht hören und sehen und anfassen kann! Nun, immerhin erklärt das auch, warum wir Kirchen uns so antiaphrodisiakisch verhalten. Denn da im Zentrum unsres Glaubens der leidende Christus steht, wir uns um Leidende kümmern und dazu noch überaltert sind, erscheinen wir als die idealen Ikonen des Todes. Und das in einem Jahrhundert, in dem der Jugendkult in immer neuen Gestalten die Kultur veränderte! Da zum Jugendkult die Gesten des Hänselns gehören wie das Amen zur Kirche, läßt sich ahnen, was wir da mitgemacht hatten.

Wie reagiert denn im allgemeinen ein Mensch, der bis aus Blut beleidigt wird? Wenn er seinen Impulsen frei nachgeben kann, bevorzugt er wohl das Duell. Warum haben sich denn so viele gestandene Männer wegen irgendwelcher Nichtigkeiten totschießen lassen, und das jahrhundertelang? Schwieriger wird es freilich, wenn solche Möglichkeit nicht vorhanden ist. Dann fühlen wir uns vor dem Beleidiger so klein und häßlich, daß wir am liebsten in der Erde versinken, uns zumindest unsichtbar machen wollen. Das letztere ist auch in gewissen Grenzen erreichbar, wenn man sich dem Beleidiger bis in die feinsten Eigenheiten anpaßt. Was blieb den Kirchen aber in unserem Jahrhundert anderes übrig, als sich zusammen mit der Unterschicht für diese letzte Lösung zu entscheiden? Sie hatte ja die Waffen verloren, mit denen sie früher so prächtig Duell führen konnte. Der lange Arm der Inquisition war vernichtet, die Throne waren gestürzt, die den Altar so sicher stützten. Und in diesem Zustand mußten sie nach 1968 den Ansturm einer Jugendszene nach der anderen nicht nur über sich ergehen lassen, sondern sich diesen Szenen auch anpassen, obwohl sie so schnell gar nicht mitkommen konnten."

"Und die Szenen, die sie schon eingeholt haben, gibt es nicht mehr, und dennoch glimmt ihr Licht in Kirchenkreisen weiter wie das Licht von erloschenen Sternen. Das ist doch gespenstisch! Was zwingt die Kirchen zu solchem Spuk?"

"Das Gefühl, das uns auch dazu zwingt, lieber böse als blöd sein zu wollen, wie Sie vorhin so richtig sagten. Da haben diese Szenen mit kleinen, kaum merklichen Gesten die Kirchen gehänselt und sie so zur Unterwerfung gezwungen, und das soll keine Spuren hinterlassen haben? So eine Erniedrigung brennt sich doch ein bis auf Mark und Bein! Die andern können ihren Kulturmüll leicht hinter sich lassen, denn sie wurden ja nicht beleidigt. Aber wir? Ach, manchmal, wenn mich die Melancholie packt, vor allem in der Adventszeit, die meine Frau seinerzeit so schön zu sich selbst kommen ließ, dann nähern sich die schwarzen Gedanken. Dann will mir scheinen, daß unsere Leute die toten Szenen vor allem deshalb galvanisieren, um die anderen zu strafen und das Duell so insgeheim doch noch zu führen. Wie herrlich kann man doch mit einem möglichst penetranten Apo-Veteranenton seine Mitmenschen nerven und der ölig-sanfte Meditationston ist dafür genau so gut geeignet. Und erst die künstliche Ruppigkeit, wo man bei jedem Kraftausdruck die Absicht spürt!

Ist das nicht schon wie bei Dostojewski?" Er ging ins Nebenzimmer und kam mit einer alten Ausgabe von Dostojewskis "Idiot" zurück. "Hören Sie einmal, was da eine Nebenfigur über gewisse Japaner erzählt: >...der Beleidigte soll dort zu dem Beleidiger hingehen und zu ihm sagen: 'Du hast mich beleidigt, und ich bin gekommen, um mir vor deinen Augen den Bauch aufzuschlitzen', er schlitzt sich mit diesen Worten vor den Augen desjenigen, der ihm Unrecht getan hat, den Bauch auf und fühlt dabei wohl eine außerordentliche Befriedigung, als hätte er sich tatsächlich gerächt.< Nun, ganz so weit sind wir noch nicht, doch bewegen wir uns immer sicherer dorthin."

"Doch eben sagten Sie noch, daß die Kirchen sich freuen sollten, unten zu sein?"

"Ja, so schwer es mir auch fällt. Denn das Gefühl der eigenen Erniedrigung wird einmal so unerträglich werden, daß wir uns aufmachen müssen, um diese dunkelste Seite der menschlichen Seele zu erhellen. Dann werden wir endlich auch die anderen zum Staunen bringen. Zum Beispiel über die Erkenntnis, daß auch sie recht tief gesunken sind. Denn wenn sie mit uns die Erniedrigungsspiele spielen, dann zeigen sie, daß sie sich auf gleicher Ebene mit uns befinden, wenn sie uns auch auf dieser Ebene leicht unterwerfen können. Denn wir sind alle aus unsrer Zeit gefallen, weit hinter die Ära Christi zurück, ja selbst Mose und die Gesetze vom Sinai liegen Jahrhunderte vor uns. Wir können die Trennung von Gott und Welt nicht einmal ahnen, und so sind wir den Bildern gnadenlos ausgeliefert und müssen ihnen dienen, solange ihre Heilskraft dauert, und müssen panikartig vor ihnen fliehen, wenn ihr Charisma erlischt. Wenn ich nur daran denke, wie man in den Siebzigern das Üppige und Bunte lieben und dann in den Achtzigern von Herzen hassen mußte! Und niemand hat aufbegehrt, als müßte es so sein, wie es sein muß, daß wir alle sterben müssen. Und wer nur ein wenig an den alten Bildern hing, der landete mit ihnen auf dem Müll, weshalb auch wir so tief gesunken sind.

Müssen wir nicht von dieser Ebene aus die alten Worte vom Sinai so hören, als seien sie eben neu gesprochen? "Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!" Und das ist es, was ich meine, wenn ich davon rede, daß wir uns freuen müßten, unten zu sein. Denn wenn wir die Worte vom Sinai so hören, als seien sie zum ersten Mal für uns gesprochen, dann haben wir die Möglichkeit, unseren Glauben von den Wurzeln aus zu erneuern. Alles, alles fing ja mit dieser Operation an, die mit einem harten Schnitt den Menschen von seinen Bildern trennt. Jede Sehnsucht der Armen und Elenden nach einem besseren Leben, nach einem Land, wo Milch und Honig fließt, wo die Blinden sehen und die Lahmen gehen, - sie wurzelt einzig und allein in diesem Schnitt. Niemand kann den Tod durch Quälen der Ikonen des Todes töten, und so sind die Ikonen des Todes freigesprochen, dürfen leben und atmen und glauben und lieben und hoffen."

Bei dem Wort "Bilderverbot" dachte ich gegen meinen Willen an endlose graue Wohnblocks und reagierte entsprechend gereizt. "Das mag ja die Moral beträchtlich vorangetrieben haben. Aber die Farben? Klänge? Gerüche?"

"Glauben Sie denn im Ernst, daß unsere Gesellschaft dem Verbot der Bilder Respekt erweist, weil ihre Bilder karger und strenger als die der anderen sind? Das genaue Gegenteil ist hier der Fall. Je strenger ein Bild ist, desto mehr Respekt erzeugt es - die üppigen Bilder dagegen nimmt kaum jemand ernst. Wenn man das Verbot der Bilder jedoch ernst nimmt, dann darf es keine strengen Bilder geben. Denn Bilder dürfen nichts vom Menschen fordern, weil sie unter ihm stehen. Dafür hat der Mensch die Freiheit erhalten, die Bilder menschlich zu gestalten. Entlassen ist er aus dem Dienst von Göttern, die im Hier und Jetzt die letzte, äußerste Präsenz ausstrahlen und vom Menschen das Gleiche verlangen. Nun darf er zwei Kräfte entfalten, mit denen er so lange nichts anfangen konnte: die Hoffnung und die Erinnerung. Treffen sie zusammen, so entsteht die neue Kraft der Phantasie. Traumbilder, Sehnsuchtsbilder, Angstbilder, Wunschbilder - sie alle können nun beginnen und etwas Neues erscheinen lassen, vor dem das Immergleiche der Götzen verblaßt. So hat gerade das Bilderverbot die Bilder befreit. Ach, und diese Freiheit verlieren wir wieder, die Bilder haben die alte Macht zurückgewonnen, und darum ist auch unsre Welt so kahl. Wenn wir Kirchen doch erkennen könnten, daß wir die tote Phantasie zum Leben erwecken würden, wenn wir dem Götzendienst der Bilder entsagten!"


© Verena Flick 1999
Magazin für Theologie und Ästhetik 4/1999
https://www.theomag.de/04/vf1.htm