Das katoptrische Universum


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Wie in einem Spiegel?

Andreas Mertin

Titelschriftbild

Für die meisten Leserinnen und Leser fangen die Probleme mit dem Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik schon beim Lesen des Titelschriftbildes an: tà katoptrizómena – was soll das denn bedeuten? Wer ist schon des Altgriechischen mächtig? [Den Titel hätten Sie doch auch verständlicher auswählen können - meinte jemand bei einem Vortrag.] Und wenn man endlich weiß, was es heißt, was soll damit ausgesagt werden? Man könnte es sich scheinbar leicht machen und im Editorial der Erstausgabe des Magazins nachschlagen:

Zur näheren Erklärung des Titelschriftbildes verweisen wir auf Dietrich Neuhaus' Aufsatz "Der Theologe als Dandy". Dort heißt es: Der Protestant, der befreite Christ schlechthin, ist wie der Dandy ein Phänomen des Übergangs, er lebt "Zwischen den Zeiten", wie die "Dialektische Theologie" unermüdlich einschärfte. Das Erkenntnisprinzip des Protestanten ist wie bei Baudelaire der Spiegel, denn - gut paulinisch - zwischen den Zeiten erkennen wir alles wie in einem Spiegel, dann erst von Angesicht zu Angesicht (1. Kor. 13, 12). Das in der Parallelstelle 2. Korinther 3, 18 für den Spiegel verwendete griechische Wort bildet das Titelschriftbild unseres Magazins.

tà katoptrizómena bedeutet: das im Spiegel Geschaute.

Nun ist dieser Hinweis ebenso erhellend wie irreführend. Erhellend ist er, weil deutlich wird, dass der Eigenname des Magazins sich auf die Erkenntnisfunktion des Spiegels und die Spiegelfunktion von Erkenntnis bezieht, irreführend ist er, weil es so scheint, als ob die relativierende paulinische Einschätzung des Spiegels im ersten Korintherbrief der korrekte Bezugspunkt wäre, während dem zweiten Korintherbrief nur das konkrete Wort für Spiegel entnommen wurde. Das trifft nicht ganz zu. Denn im zweiten Korintherbrief nimmt Paulus eine Korrektur seines Spiegelbegriffs vor. Er verwendet nicht umsonst an beiden Stellen unterschiedliche Worte.

Im ersten Korintherbrief nutzt Paulus das Wort esoptron, das Luther mit Spiegel wiedergibt, aber „durch einen Spiegel“ schauen ist zumindest etwas missverständlich (auch wenn das "durch einen Spiegel gehen" literarisch eine wunderbare Wirkungsgeschichte gehabt hat). Vielleicht sollte man eher „wie in einem Glas“ assoziieren (so auch schon 1525 die Übersetzung von William Tyndale).

Im zweiten Korintherbrief benutzt Paulus dagegen das Wort katoptron, das viel präziser die damaligen polierten Metallspiegel charakterisiert. Und er beschreibt den Spiegel ganz positiv als Erkenntnismittel. Ja, die Christen sind wie Spiegel, in denen sich die Herrlichkeit Gottes zeigt. Das ist etwas ganz anderes, als der einschränkende Gebrauch im ersten Korintherbrief. [Der Differenz zwischen Esoptron und Katoptron bei Paulus müsste noch genauer nachgegangen werden.]

Es geht aber um mehr, als nur die Differenz von Worten. Ein wenig erinnert das an eine Stelle in Platons Kratylos, in der Sokrates selbst auf den Spiegel zu sprechen kommt:

Sokrates: Mein Bester, du weißt nicht, dass schon die ersten Namen, gleich als sie gebildet waren, von anderen verdunkelt wurden, die ihnen einen hochtrabenden Klang beibringen wollten und deshalb um des Wohllauts willen Buchstaben einsetzten und wegließen und sie von allen Seiten drehten und wendeten, aus Sucht zu verschönern und durch den Einfluss der Zeit. Denn kommt dir nicht auch in dem Worte katoptron, Spiegel, die Einschiebung des r albern genug vor? Das tun, denke ich, Leute, die sich um die Wahrheit nicht kümmern und nur eine mundgerechte Aussprache zu bilden suchen, so dass sie es durch ihre vielen Zusätze an die ersten Worte zuletzt dahin bringen, dass nicht ein einziger Mensch den eigentlichen Sinn des Wortes versteht. ...

Hermogenes: Das ist leider so, o Sokrates.

Sokrates: Wenn man jedoch jeden in die Worte einschieben und daraus wegnehmen lässt, was ihm beliebt, so wird es leicht dahin kommen, dass man jedes Wort für jedes Ding passend machen kann.

Worauf Platon hier anspielt, ist seine Vermutung, dass das Wort Katoptron (Spiegel) mit katopton (Sichtbares) und katoptês (Spion) zusammenzuhängt. Grundsätzlich geht es aber im Kratylos um die Frage, was die Namen mit den Dingen zu tun haben, die sie bezeichnen sollen.

Das kann man nun auch im Blick auf das Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik fragen. Was ist die Sache, was die Idee, die hier „wie in einem Spiegel“ betrachtet werden soll? Was ist das, was, wenn man den Ausführungen des Paulus aus dem 2. Korintherbrief folgt, sich in den Autorinnen und Autoren wie den Leserinnen und Lesern inkorporiert? Und was ist das „im Spiegel Geschaute“? Das ist umso schwerer zu sagen, als sich das Konzept einer Zeitschrift im Verlaufe von 18 Jahren mit den verschiedenen Herausgeberinnen und Herausgebern, den zahlreichen Autorinnen und Autoren und auch den vielen Leserinnen und Lesern wandelt.

Perspektiven

Am Anfang einte die Mehrzahl der Herausgeber ein barthianischer Ansatz. Theologie war das eine, Kultur das andere. Anders aber als manche Hardcore-Barthianer es der Öffentlichkeit nahelegen wollten, meinten wir, dass man sich dadurch die Arbeit mit der Kultur nicht vermiesen lassen sollte.

Ganz im Gegenteil, wir sahen in Barths Überlegungen zur Kultur die präziseste Möglichkeit, dieser in ihrem Eigensinn  gerecht zu werden (und genau darum geht es bis in die Gegenwart!). Es ging nicht um eine Form der Vermischung oder Rechtfertigung, nicht um den Nützlichkeitserweis der Kultur für die Kirche oder der Religion für die Kultur. An dieser Position halten wir – das meine ich sagen zu können – unbeirrt fest.

Aber unsere Haltung ist postmoderner geworden, jedoch nicht relativistisch. Eher perspektivischer im Sinne eines Perspektivkasten wie rechts von Samuel van Hoogstraten oder wie unten von Pieter Janssens Elinga:


Pieter Janssens Elinga, Perspektivkasten, 1670

Perspektivischer meint hier, einzusehen, dass man je nach eingenommenem Standort zu anderen Sichtweisen kommen kann. Und dass dies keine Katastrophe, sondern ein Gewinn ist. Und so haben wir in den vergangen 17 Jahren mehr als 1200 Texte (!) von über 230 Autorinnen und Autoren mit unterschiedlichen Perspektiven publiziert. Wenn jedes Magazinheft im Schnitt 100 Seiten umfasst, dann sind es bis zu dieser Ausgabe mithin 10.000 Seiten Lektüre.

Und das Publikationsinteresse besteht allein und ausschließlich darin, ob es uns einen Erkenntnisgewinn verspricht, ja, ob es Spaß macht, ob es innovativ ist oder vielleicht auch: schräg. Wer die wissenschaftlichen und kirchenoffiziösen Magazine liest, möchte manchmal ersticken ob der Stromlinienförmigkeit ihrer Argumente. Das ist alles so schrecklich wahr und in keiner Weise verstörend oder eine Torheit. Eben langweilig. Alle diese Periodika haben ihren Ort und ihren Sinn. Wir berufen uns auf sie, wenn wir qualitätvolle Texte lesen wollen oder wissen wollen, was man im Jetset-Protestantismus so denkt. Aber Freude bereitet es nicht.

Introspektion

Sich dagegen in ein Kunstwerk von Jan van Eyck zu versenken (Heft 97), in ein literarisches Epochenwerk wie die Göttliche Komödie (Heft 95), in Überlegungen, was Aliens wohl von der Kreuzigung Christi halten (Heft 89), in den White Cube der reformierten Theologie (Heft 83) – ja das finden wir interessant. Uns auf Biennalen (Heft 49, Heft 73), auf der documenta (Heft 18, Heft 48, Heft 78) oder auf Messen (Heft 28, Heft 82, Heft 89) zu tummeln – sowieso.

Es hat eine Zeit in der Entwicklung des Magazins gegeben, in der es für den akademischen Mittelbau der Theologie interessant war. Es war eine schnelle und effiziente Möglichkeit, neue Texte zu publizieren. Manchmal, wenn ich die Biographien früherer Autorinnen und Autoren verfolge, bin ich erstaunt. Manche akademische Karrieren haben mit dem Theomag begonnen.  Man hört nur so wenig von diesen Autoren, wenn sie etabliert sind, sie haben nun andere Publikationswege, das sei ihnen gegönnt [Dabei fällt mir ein, dass dies eine verbreitete Klage von Galeristen ist, die junge Künstlerinnen und Künstler fördern]. Dieser Aspekt wird aber auch weiterhin ein wichtiger des Magazins sein. Wer interessante Texte hat, die von den etablierten theologischen Medien nicht oder nur unter großen Einschränkungen oder mit Verzögerungen publiziert werden, ist bei uns immer noch an der richtigen Adresse.

Inzwischen funktioniert die „Logik“ des Magazins in manchen Dingen aber anders, wir sind idiosynkratischer geworden. Heute verabreden wir uns lange im Voraus auf Themen, die uns als Herausgeber persönlich interessieren, geben uns Fragestellungen vor, von denen wir immer schon mal vorhatten, uns ihnen intensiver zu widmen. Ein Text für eine Ausgabe entwickelt sich so manchmal über Jahre. Warum sollte man sich nicht 2017 mit Marcel Duchamp ausein­andersetzen oder 2018 mit Harvey Cox? Das Interessante ist, dass es genügend Abonnentinnen und Abonnenten und zigtausende von Leserinnen und Lesern gibt, die uns dabei folgen. Es gibt sie also noch, die Protestanten und Katholiken, die an kultureller Bildung, an postmodernen Spielen und an nicht an Konventionen gebundene Ansichten interessiert sind.

Wir sind – leider – kein Spiegel (des Protestantismus). Wir sind – Gott sei Dank – kein Spiegel (des Protestantismus). Das im Spiegel Geschaute ist – nach der Lesart des zweiten Korintherbriefes - das, was wir in der Kultur und bei den sie betreibenden Menschen beobachten, das, wo sich die Herrlichkeit Gottes spiegelt oder verdunkelt. Unsere „öffentliche Theologie“ ist eine andere als die der EKD. Wir rufen nicht die prominenten Namen auf, die zu irgendeinem Thema etwas gesagt haben (als ob Prominenz oder Titel jemandem Kompetenz verleihen würden). Wir setzen auf das Argument und den öffentlichen Austausch. Öffentlich ist unsere Theologie, weil sie die Grenzen der Wissenschaftsdiskurse überschreitet, weil sie jedermann / jederfrau zugänglich ist.

Im ersten Heft des Magazins haben wir zur Konzeption geschrieben:

Von den verschiedenen Bedeutungen, die das Wort Magazin annehmen kann, greifen wir auf die traditionelle vom Anfang des 16. Jahrhunderts zurück: das Magazin als Vorratsraum und Lagerhaus - in diesem Fall für Gedanken, Argumente und Darstellungen.

Die Wasserkirche in Zürich ist Mitte des 17. Jahr­hunderts eine derartige Kombination von theo-ästhetischem Setting, Lagerhaus, Bibliothek, öffentlichem Forum zum interdisziplinärem Gespräch. Sie beherbergt alte Schriften und neue Einsichten, Bilder und naturkundliche Exponate, vor allem aber gibt sie Raum zum Gedankenaustausch.

Daran nehmen wir uns ein Vorbild.

Aktuelles Heft

Für das aktuelle Jubiläumsheft haben wir einfach einige Autoren des Magazins gebeten, sich Gedanken zum Thema Spiegel im Kontext ihrer eigenen Disziplin und ihres eigenen Denkens zu machen. Das Ergebnis ist ein perspektivenreiches Heft mit Überlegungen zum Antlitz als Spiegel (Wolfgang Vögele); exegetische Überlegungen zum Titel der Zeitschrift (Horst Schwebel); Studien über das Denken vor dem Spiegel der Ewigkeit (Karin Wendt); ein Kaleidoskop zum Thema Spiegelungen (Andreas Mertin); Beobachtungen zur Literatur als Spiegelung (Hans-Jürgen Benedict); kurze philosophische Notizen zur „Philosophie des Zwischen“ (Frauke Kurbacher); apokalyptische Filme (Inge Kirsner) und Science-Fiction-Filme und –Literatur (Michael Waltemathe) als Spiegelungen. Und schließlich noch Kirchengebäude als Spiegel von Geschichte (Andreas Mertin). Abgeschlossen wird das Ganze mit einer Bilderfolge vom Anfang des 17. Jahrhunderts, in der über 12 Arten nachgedacht wird, mittels von Spiegeln Gott zu sehen.

Stellvertretend für alle Herausgeberinnen und Herausgeber des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik der letzten 100 Ausgaben sage ich unseren Leserinnen und Lesern, unseren Autorinnen und Autoren Danke für ihre Treue und Neugier und wünsche für das aktuelle Heft eine angenehme und erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/100/am536.htm
© Andreas Mertin, 2016