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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lichtschnitte in Herz und Stein

Zu den AORTA-Projektionen von Karin Veldhues und Gottfried Schumacher

Ulrich Engel

I.

Anlässlich des zehnjährigen Bestehens ihres Cityseelsorge-Projekts "Sankt Andreas - Offene Kirche der Dominikaner"[1] haben die Düsseldorfer Predigerbrüder Karin Veldhues und Gottfried Schumacher (Hürth bei Köln) zu einer Projektionsarbeit eingeladen. Diese wurde in den Nächten vom 25. bis zum 27. Mai 2001 unter dem Gesamttitel "AORTA" an und in der Andreaskirche (Baubeginn 1622) gezeigt.[2] Das Bemühen um eine Kooperation mit der Stiftung Kunst und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen und dem Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf spiegelt das Interesse wider, einen Dialog zwischen Kirche und stadtöffentlicher Kultur zu etablieren.

Karin Veldhues und Gottfried Schumacher haben ihre Düsseldorfer Projektion genau an der Schnittstelle zwischen stadtöffentlichem und kirchlichem Raum angesiedelt. Dabei schufen sie einen Ort, nicht eine Umgebung. Auf die klar strukturierte, weiß-gelbe Hauptfassade der ehemaligen kurfürstlichen Hof- und Jesuitenkirche projizierten sie drei Nächte lang eine lateinisch kommentierte Medizinlehrbuchdarstellung des menschlichen Herzens und seiner Funktionen (Abb. 1). Die Zeichnung lag direkt auf dem Stein des Kirchenbaus. Das war konsequent, hat doch Karin Veldhues ihre Lichtprojektionen ursprünglich von der Zeichnung her entwickelt. Das Licht und sein unabdingbares Anderes, der Schatten, nutzt sie wie Zeichenstifte; mit Licht und Schatten "bemalt" sie - quasi in Form des Graffito - die Wände ganz verschiedenenartiger Gebäude.

Nicht jedoch als Ornament funktionieren die Arbeiten von Veldhues und Schumacher; vielmehr erlangen sie ihre ästhetische Relevanz durch die radikalen Veränderungen des Vertrauten, denen sich die Betrachter der Projektionen gegenübersehen. Hervorgerufen werden diese Modifikationen durch das Über- und Ineinander von Zwei- und Dreidimensionalität: Das Licht erlangt (im Anschluss an entsprechende barocke Prinzipien) skulpturale Qualität, wie auch umgekehrt die Architektur, bedingt durch die künstlerische Belichtung, zur Skulptur gerinnt. Radikal wirken diese Verwandlungen und Modifikationen vor allem dort, wo der künstlerische Eingriff in die Gegebenheiten vor Ort, in die Topographie des Kontextes, minimal, unspektakulär und still ausfällt.

Wo auf der Außenseite der Kirche das offengelegte Herz, der Einschnitt in den menschlichen Körper, die Wunde als Zeichnung präsentiert wurde, zeigten die Künstler im Innern der Kirche einen wirklichen Schnitt. Wörter und Worte, über den Heiligen Dominikus, den Gründer der heute die Kirche betreuenden Predigerbrüder (Dominikaner) gesagt, hat Karin Veldhues mit dem Skalpell in den Corpus (= Körper) des unbelichteten Films, den sogenannten Schwarzfilm geritzt. In der Korrespondenz zwischen Außen und Innen, Kreislaufsystem und Wortfetzen erfüllt sich, was der junge belgische Schriftsteller Peter Verhelst so vehement eingeklagt hat, als er schrieb: "Es muss Wörter geben, die zungenförmig sind, fingerförmig. Es muss Wörter geben, die ihren Ursprung nicht im Geist haben, sondern im Körper selbst. Sinnliche Wörter. Mehr noch. Als käme der Schreibstift wie ein Fingernagel aus der Fingerspitze. Als wäre der Computer nicht ans Stromnetz angeschlossen, sondern an den Blutkreislauf."[3] (Von diesem Kreislauf erzählt auch das von dem Düsseldorfer Musiker Bernd Liffers eigens für den Vernissage-Abend entwickelte "Arbeitsprojekt Corazón" für Orgel und Tape!)

Und die Kreuzform, die ebenfalls in den Kirchenraum projiziert wurde, ist genauso entstanden wie die Dominikus-Wörter: durch den künstlerisch gewollten, mut-willigen Angriff auf die Materie, auf das Filmmaterial (Abb. 2). Zwei sich kreuzende Linien. Der Künstler - um noch einmal an Verhelst anzuschließen - "ist das Messer, das die Wunde beibringt, oder besser, das Messer, mit dem der Betrachter* sich selbst eine Wunde beibringt."[4] Das so geritzte Kreuz ist mehr als eine geometrische Figur, trägt es doch unabdingbar die gläubige oder ungläubige, auf jeden Fall aber gegenwärtige Erinnerung an den gemordeten und auferweckten Christus an sich. Ich denke hier unweigerlich an das Gemälde "Der ungläubige Thomas" von Michelangelo Merisi da Caravaggio: "Jesus, der Thomas' ausgestreckten Zeigefinger in die mundförmige, vaginaförmige, augenförmige Wunde führt. Leidend. Genießend. Ruhig."[5] Im Anblick dieser Projektion des lichten Wund-Kreuzes habe ich zum ersten Mal "verstanden", was Jean-François Lyotard meinte, als er sagte: "Es gibt eine Heiligkeit der Linie an sich."[6]

II.

Karin Veldhues und Gottfried Schumacher arbeiten mit Licht und seinem Anderen, dem Schatten. Ihre Projektionen erleuchten oder verdunkeln, heben hervor und lassen verschwinden, kreieren und negieren. Oftmals tun sie beides. Dabei fordern sie die Betrachter heraus. Sie verführen - zu eigenen Pro-Jektionen. Sie animieren zu eigenen Vor-Entwürfen und Re-Konstruktionen, weil die Arbeiten Leerstellen lassen, Freiräume schaffen, in ästhetischer Hinsicht nicht dogmatisch sind. Die in der Andreaskirche präsentierten Projektionen eröffnen Zwischenräume, Räume zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, zwischen Repräsentation und Abstraktion. Solche Zwischenräume funktionieren "virtuell", im Sinne der Bedeutung, welche die mittelalterliche Theologie diesem Wort zumaß. Der Begriff "virtuell" geht auf das lateinische Wort "virtus" zurück. "Die virtus (...) bezeichnet (...) die souveräne Mächtigkeit dessen, was nicht sichtbar in Erscheinung tritt."[7]

Von diesem Zusammenhang wusste auch Immanuel Kant. In seiner Kritik der Urteilskraft skizzierte er, man könne nicht im Raum und in der Zeit das Unendliche der Macht oder das Absolute der Größe darstellen, die reine Ideen sind. Aber man könne zumindest - so Kant - darauf anspielen, sie "hervorrufen" durch das, was er "negative Darstellung" nennt.

In den AORTA-Projektionen steht die Wunde für die ästhetisch geforderte Leerstelle zwischen Affirmation und Bestreitung: der gewaltsam geöffnete Körper, der im markanten Schlitz im Fleisch sichtbar wird. Aus dieser Wunde, aus dieser Öffnung - so weiß die christliche Tradition - entspringt alles Heil. Die Leerstelle, der geöffnete Raum, der Zwischenraum ist die Quelle des Lebens, fons vitae. "Die Erlösungstat Christi war eine des Körpers und dessen Verwundung das eigentlich heilseröffnende Geschehen."[8] Erst der Schnitt ins Fleisch konstituiert den erlösten Menschen

III.

In der Verwendung des Herz-Symbols assoziiert die "Aorta"-Projektion den unmittelbaren Kontext des Ortes: Ich denke vor allem an die Herz-Jesu-Mystik Joseph Beuys", der seinerzeit gegenüber der Andreaskirche und direkt neben dem Dominikanerkloster sein "Büro für direkte Demokratie" betrieb (Andreasstraße 25), Beuys, der mit seiner Kunst immer wieder und anhaltend und intensiv die Wunde demonstrierte.[9] Ich denke ebenso an die Herz-Jesu-Spiritualität der Jesuiten, welche die Kirche lange Zeit seelsorglich betreuten.[10]

Ich denke aber auch an das aus dem Leichnam von Herzog Wolfgang Wilhelm aus dem Hause Pfalz Neuburg (gemäß seinem eigenem Willen) entfernte Herz - aus Angst vor einer Bestattung als "Scheintoter"! Damit korrespondierte die im Mausoleum über die Sarkophage der kurfürstlichen Familie gezeigte "Ahorngarten"-Projektion (aufgelesenes Material: Samen und Staub, verwelkte Blätter und Insektenteile) im Sinne einer Leerstelle, die das Herz als Symbol des Lebens hier via negationis um-schreibt, um-grenzt, um-leuchtet, mit der positiv markierten "Aorta"-Arbeit auf der Außenfassade der Kirche. Im "Zwischen" von Anwesendem und Abwesendem, von Affirmation und Bestreitung, öffneten Veldhues und Schumacher einen Raum, der (ob erfüllt oder unerfüllt) "Liebe, Begehren und Sehnsucht in Formen gießt. Und dieser Ort ist das Herz."[11]

Gleichsam in mikroskopischer Aufsicht präsentieren die Künstler an den Wänden des Mausoleums - über und auf die Sarkophage projiziert - Naturbilder: feingliedrig-strukturierte Flügel von Ahornkapseln, die als organisches Material von Vergehen und Verfall gezeichnet sind (Abb. 3 + 4). Der "Ahorngarten" funktionierte hier als ein Garten des Todes - der im christlich-sakralen Kontext aber auch sein Spiegelbild, den Paradiesesgarten evoziert. In diesem Sinne konnte die im Mausoleum der Andreaskirche zum Verweilen einladende, stille Lichtprojektion in doppelter Weise als Erinnerungsarbeit gelesen werden: im Gedenken an das Vergangene wie in der hoffnungsgeleiteten Memoria des ersehnten Paradieses. Hier kommt die Kunst ihrem Ursprung wie ihrem Ziel nahe, hat doch die Kunst - um noch einmal mit Lyotard zu sprechen, "ihren Ursprung und ihr Ziel in dem Versuch, die 'Präsenz' einzufangen. Die Präsenz ist der Augenblick, der das Chaos der Geschichte unterbricht und daran erinnert oder nur sagt, dass 'etwas da ist', bevor das, was da ist, irgendeine Bedeutung hat."[12]

Von diesem Versuch legten die nur temporär existierenden Projektionen von Karin Veldhues und Gottfried Schumacher Zeugnis ab.


Anmerkungen
  1. Zum Pastoralprojekt vgl. U. Engel, City-Seelsorge. Perspektiven für Kirche und Stadt am Ende des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1998, bes. 57-68.
  2. Zur theologisch-ästhetischen Dimension des Projekts vgl. auch Herz/Schmerz. Theologisch-ästhetische Auskünfte zu den "Aorta"- und "Ahorngarten"-Projektionen von Karin Veldhues und Gottfried Schumacher in Düsseldorf, in: Aorta. Karin Veldhues und Gottfried Schumacher. Projektionen, hrsg. vom Dominikanerkloster Düsseldorf (Katalogdokumentation zur gleichnamigen Projektion, Dominikanerkirche Sankt Andreas Düsseldorf, 25.-27.5.2001), Düsseldorf 2001, 5-12.
  3. Peter Verhelst, Winziger zungenförmiger Traum vom göttlichen Theater. Aus dem Flämischen übersetzt von Barbara Heller, in: Theaterschrift Nr. 13, September 1998 ("Utopie: Spiritualität?"), 162-169, hier 164.
  4. Ebd., 168. - * Verhelst benutzt hier das Wort "toeschouwer".
  5. Ebd.
  6. J.-F. Lyotard, Der Augenblick, Newman, in: Ders., Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. Aus dem Französischen übersetzt von Marianne Karbe, Berlin 1986, 7-23, hier 18. - Lyotard bezieht sich auf Barnett Newman; zur Erläuterung sei der Zusammenhang zitiert: "Bei Newman besteht die Befreiung nicht aus dem Überschreiten der Grenzen, die der Barock und die Renaissance dem figurativen Raum gesetzt haben, sondern im Abziehen der Ereigniszeit, in der die legendäre oder historische 'Szene' stattgefunden hat, von der Präsentation des bildlichen Objekts selbst. Der (...) Werkstoff, seine Beziehung zum Materiellen (...) und seine Verteilung (Größe, Format, Proportionen), dass allein muß die bewundernde Überraschung, das Staunen darüber, dass etwas ist, mehr als nichts, auslösen. Das Chaos droht, aber das Leuchten des Tzimtzum, das Zip, zerteilt die Dunkelheit, zerlegt das Licht wie ein Prisma in Farben und verteilt sie auf der Fläche in einem Universum. Newman hat gesagt, dass er zuerst Zeichner war. Es gibt eine Heiligkeit der Linie an sich." (Ebd.)
  7. G. Didi-Huberman, Vor einem Bild. Aus dem Französischen übersetzt von R. Werner, München - Wien 2000, 26.
  8. Th. Lentes, Nur der geöffnete Körper schafft Heil. Das Bild als Verdoppelung des Körpers, in: Glaube Hoffnung Liebe Tod (Ausstellungskatalog), hrsg. von Ch. Geissmar-Brandi / E. Louis, Wien - Klagenfurt 1995, 152-155, hier 152.
  9. Vgl. J. Stüttgen, Einige Notizen über einen Zeitraum von dreiunddreißig Jahren, in: Gisela Groener - Stephan Stüttgen. Arbeiten auf Papier (Ausstellungskatalog), Aachen 2000, o.S. - Zur Beuys'schen Arbeit "Zeige deine Wunde" s. U. Engel, Das große Leiden und das noch größere Leiden. Anmerkungen zu Joseph Beuys, in: Wort und Antwort 29 (1988), 172-177
  10. Vgl. A. Walzer, Art. "Herz Jesu", in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2, Freiburg/Br. 1970 [Reprint 1994], Sp. 250-254, hier 250.
  11. M. Damianovic, Dialoge der Sehnsucht / Dialogues of Longing, in: La Casa, il corpo, il cuore. Konstruktionen der Identitäten (Ausstellungskatalog), Wien 1999, 153-156, hier 156.
  12. J.-F. Lyotard, Der Augenblick, Newman, a.a.O., 20.

© Ulrich Engel OP 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 13/2001
https://www.theomag.de/13/ue1.htm