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Magazin für Theologie und Ästhetik


Begrenzung und Verwandlung

Wort und Musik im Brahms-Requiem

Volker Keding

1. Eine unkonventionelle Kirchenmusik

1868 wurde Brahms mit der Uraufführung seines Werkes Ein Deutsches Requiems nach Worten der Heiligen Schrift (op 45) in ganz Europa berühmt. Das besondere hierbei war, dass er statt des sonst üblichen lateinischen Textes die deutsche Bibelübersetzung Luthers als Textgrundlage verwandte. Brahms hat die Bibeltexte selbst ausgewählt. Eine schwebende Balance zwischen Subjektivität und Objektivität ist damit gegeben: einerseits ist die Bibel ein millionenfach gelesenes Buch und damit transsubjektiv; andererseits hat Brahms sich an keine dogmatische Konvention gehalten; sein subjektives Empfinden leitete die Auswahl. Die Gesamtstimmung ist eher philosophisch als kirchlich-dogmatisch. Gerichtstexte wie Dies irae und "christologische" Texte wie Domine Jesu Christe und Agnus Dei werden ausgeblendet. Gleichwohl ist das Requiem nicht ohne (verborgene) Christusbotschaft.

Das Requiem konzentriert sich auf den Schmerz der Trauernden und ermutigt die Hörer, Todesangst zu überwinden. Sein Augenmerk ist nicht auf das Schicksal der Toten gerichtet, sondern auf die Lebenden, die über Trennung Schmerz empfinden und die Sterblichkeit als "Existential" zu verarbeiten haben. Die Rede vom "Sein zum Tode" (Heidegger) ist bei Brahms eindrücklich antizipiert.

2. Dialektik der Hoffnung

Brahms entwickelt in seiner Auswahl eine eigentümliche Systematik, die trotz der lockereren Aufeinanderfolge von 16 Bibelzitaten als triadisch erkennbar ist. Das Requiem kündet vom Vergänglichen, vom Bleibenden und von der Verwandlung. Philosophisch betrachtet, lässt sich analog zu Hegels Dialektik beobachten: Die These (das Vergängliche und Schmerzvolle, der empirische Vordergrund), wird negiert von der Antithese (dem Ewigen und Bleibenden, dem transzendenten Hintergrund); als Synthese erwächst daraus die prozesshafte Vermittlung der beiden Gegensätze als Hoffnung. Auf dem dritten Aspekt liegt das ganze Gewicht: der Einbruch des Ewigen in die Realität des Vergänglichen löst alles aus Todesstarre und Angst. Hoffnung und Vorfreude auf die ewige Ruhe wären sonst nicht möglich. Im Unterschied zu Ernst Bloch können wir von Brahms lernen: Hoffnung ist nicht die Summe menschlicher Möglichkeiten, sondern die Folge der Übermacht des Bleibenden im Vergehenden.

Zu jedem der drei Grundworte gesellen sich emotionale Begleiter: Zu Vergänglichkeit und Tod gehören Schmerz, Trauer, Seufzen und Weinen. Das Bleibende und Ewige setzt Freude, Lob, Wonne und Jauchzen frei. Korrelate zur Verwandlung bilden Geduld, Trost und Hoffnung. Durch Umgruppierung der biblischen Gedanken lässt sich dieser Dreischritt demonstrieren.

Das Vergängliche

Alles Fleisch ist wie Gras. Das Gras ist verdorrt und die Blume abgefallen. - Herr, lehre doch mich, dass es ein Ende mit mir haben muß - mein Leben ist wie nichts vor dir. Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben. - Wir haben hier keine bleibende Statt.

Das Bleibende

Neben das ehrliche Feststellen der Vergänglichkeit stellt Brahms als große Antithese den Hinweis auf den bleibenden Grund des Seins:

Aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit. - Herr, du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen haben sie das Wesen. - Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine Qual rührt sie an. - Und eure Freude soll niemand von euch nehmen. - Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. - Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben. Sie ruhen von ihrer Arbeit.

Die Verwandlung

Weil es diese Doppelung von Vergehendem und Bleibendem gibt, darum gibt es den dynamischen Übergang, das Sehnen, Suchen, Hoffen, das Verwandelt- und Getröstetwerden. Aus dem Tod ins Leben geht die Bewegung, aus der Verweslichkeit in die Unverweslichkeit, aus dem Schmerz zur Freude, aus dem Seufzen zum Jauchzen, aus dem Leid zur Seligkeit.

Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein. - Meine Seele verlangt und sehnt sich nach den Vorhöfen des Herrn. - Die zukünftige Statt suchen wir. - Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. - Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. - Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet. - Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen.

Die positiven, hellen Worte sind bei der Textauswahl von Johannes Brahms quantitativ und qualitativ weitaus gewichtiger als die dunklen, schmerzlichen. Das Requiem betont mehr die Freude als den Schmerz, ohne ihn zu beschönigen; es spricht verheißungsorientiert von der hoffnungstragenden Verwandlung.

3. Worte der Heiligen Schrift im Klangbild
Satz 1

Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden (Matthäus 5,4).

Trost ist die Überschrift des Werkes. Der Satzanfang heißt wörtlich: "Selig die Trauernden". Die Lutherübersetzung trägt eine Bedeutung, die im Deutschen tiefsinnig gedeutet werden kann: Selig sind, die da Leid tragen. "Leid tragen" ist ein Akt menschlicher Würde. Es unterscheidet sich von anderen Haltungen: in Leid versinken, verbissen über sein Leid murren, an seinem Leid zerbrechen - oder, dem entgegengesetzt: das Leid zwar erleben, aber vor ihm fliehen, es verdrängen, es schönfärben. Als ob Brahms die Gefahr des Mangels an Tiefe beschwören wollte, lässt er hier nur die tiefen Streicher hören. "Leid tragen" heißt: Realitätsgerecht Ja sagen zu der Situation und doch - in Schmerz und Hoffnung - den Lebensweg aufrechten Ganges weitergehen.

Brahms fügt mitten in die Ausmalung dieses Trostwortes ein Psalmwort (126,5.6):

Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und tragen edlen Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben.

Das Weinen ist wie das Leidtragen etwas Produktives. In der Bibel fehlt die preußische Ethik "ein Mann weint nicht". Joseph weint beim Wiedersehen mit seinen Brüdern, auch David, Jeremia und Jesus weinen - gerade die großen Gestalten: Patriarchen, Propheten und Könige weinen. Die Bibel ist klug. Sie unterdrückt die Gefühle nicht, sondern gibt ihnen Raum. Weinen reinigt die Seele; Tränensaat erntet Lachen.

Brahms gestaltet den Wechsel vom Weinen zur Freude auf schöne Weise. Aus getragenem stillem Schmerz wird Takt 55ff. bewegte helle Leichtigkeit.

Satz 2

Denn alles Fleisch, es ist wie Gras, und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen. Das Gras ist verdorret und die Blume abgefallen. Aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit. (I Petrus 1,24-25 [Jesaja 40,6-8]).

Der in con sordino-Klängen gefärbte gruselige Trauermarsch interpretiert einen biblischen Gedanken, der die Vergänglichkeit alles Geschaffenen kündet. I Petrus 1,24 ist ein wörtliches Zitat aus dem Jesajabuch (40,6-8): "Es spricht eine Stimme: Predige!, und ich sprach: Was soll ich predigen? Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt, aber das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich."

Ist das ein Wort der Tröstung? Es scheint vom Propheten so gemeint zu sein. Jesaja 40 beginnt mit dem Ruf: "Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott". Ja, es ist in einer tieferen Weise als der Augenschein vorgibt, ein Trost. Die Exilsgemeinde weiß: Der Zerbruch ist kein Einzelfall. In dem "Alles" liegt der erste große Trost. Wer einen Menschen durch Tod oder Zerbruch einer Beziehung verloren hat, sucht Menschen gleicher Erfahrung auf, denn Solidarität im Leiden tröstet und ermutigt. Eigenes Leid wird transparent für universales Leid, man ist damit nicht allein, man steht in Leidensgenossenschaft, man ist einfach nur Mensch, nur Kreatur.

"Fleisch" ist eine Metapher für alles Geschaffene, das dem Werden und Vergehen unterworfen ist. Das Geschaffene, so sehr es sich auch als lebens- und konkurrenzfähig erweist, ist radikal begrenzt (der "11. September", die Katastrophe des World Trade Centre hat es neu demonstriert). Die Pracht des Tempels Salomos, welcher teilweise mithilfe von Sklaven erbaut wurde, ist zerfallen. Israel ist erschüttert und resigniert. Oder betrachten wir ein Phänomen unserer Tage: Beziehungen, die noch gestern blühten und unerschütterlich schienen, zeigen plötzlich Risse, bröckeln, zerbröseln, und keine Macht der Welt kann den Prozess des Welkens aufhalten, bis die Blume abgefallen ist.

Brahms schreibt kongeniale Musik zu dieser israelischen Weisheit. Das Prophetenwort wird erst ganz behutsam piano eingeführt, es wird fast geflüstert, wie betroffenes Staunen klingt es zuerst; aber plötzlich schlägt die Musik um in unerschütterliche Gewissheit: im fortissimo wird die Vergänglichkeitsbotschaft wiederholt. Es ist eine furchtbare Gewissheit, dieser Prophetenruf "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras", und das fortissimo wird zu einem ohrenbetäubenden, von Emotionen geladenen Schrei, in dem die ganze Klage und Verzweiflung der geschlagenen Menschheit gesammelt ist.

Also doch kein Trost? Nur Verzweiflung? Nein! Das Solidarisch-Sein des Propheten mit den Exilierten ist schon ein erster Hauch von Trost. Erst recht und unendlich viel größer der Nachsatz mit der adversativen Konjunktion Aber:

Aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit.

Hier steht die große Antithese der Vergänglichkeitsklage entgegen: Es gibt doch etwas Bleibendes. Das weltschaffende Wort (Hebr. Dabar) unterliegt selbst nicht dem Werden und Vergehen, es vermag dem, das nicht ist, zu rufen, dass es sei (Römer 4,17), es ist der Macht der Vergänglichkeit entnommen, denn es schafft selbst Leben, schafft neues Leben.

Ohne Unterbrechung setzt Brahms in seiner Musik den Gedanken fort und lässt eine endzeitliche Vision aus dem selben Prophetenbuch erklingen, mit Jubeltönen und unzerstörbarer Freude:

Die Erlöseten des Herrn werden wiederkommen und gen Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird weg müssen (Jesaja 35,10).

Die ewige Freude wird erst als bewegter siegreicher Jubelruf, dann als ganz versonnene stille innere Freude gestaltet. Negation der Negation: Schmerz und Seufzen wird weg müssen. Das "Weg, weg", klingt geradezu aggressiv. Die Negation der Freude wird negiert.

Ausgespannt zwischen diesen beiden äußersten Polen - der verzweifelten Vergänglichkeitsklage und der Heilsgewissheit ewiger Freude in der Kraft des bleibenden Wortes - fügt Brahms unauffällig einen stillen Besinnungstext:

So seid nun geduldig, lieben Brüder, bis auf die Zukunft des Herrn. Siehe, ein Ackermann wartet auf die köstliche Frucht der Erde und ist geduldig darüber, bis er empfahe den Morgenregen und Abendregen (Jakobus 5,7).

Metaphorik der Agrarwelt ermutigt zum Aushalten der Übergangszeit. "Geduld" (gr. makrothymia) bedeutet Langmut, Aushaltevermögen, Wartekraft, weites Gemüt. In der Zeit zwischen Saat und Ernte wäre jeder Versuch der Beschleunigung sinnlos, denn die Erde bringt "automatisch" hervor: Halm, Ähre, vollen Weizen in der Ähre (Markus 4,28). An den Halmen zu zupfen ist die Versuchung der Zwischenzeit. Die "Grünkraft" (Hildegard von Bingen), die Verwandlung, der Wechsel von der Brache zum neuen Wachstum, ist Gottes Gabe. Jakobus 5,7 ruft zum Vertrauen, an die Kraft der Saat zu glauben. Gottes wirkkräftiges Wort hat dem Nichts gerufen, dass es sei. Und er nimmt es nicht zurück. Die Verwandlung ist gewiss, aber sie nimmt sich Zeit.

Die Zukunft des Herrn meint das Kommen, die Wiederkunft des Kyrios, des Herrn über die Verderbensmächte. Verborgen schlummert hier eine schüchterne Andeutung auf das Zentrum des Neuen Testaments, die Christusbotschaft: Habt Wartekraft, bis Christi Reich offenbar wird! Auch wenn Brahms das nicht explizit macht, liegt im Bibeltext selbst der Keim zu diesem Verständnis.

Nach diesem Intermezzo der Hoffnung kommt mit erneuter Wucht der Trauermarsch, aber nun mit dem hellen, kraftvollen Schluss, den wir schon kennen.

Aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit.

Der zweite Satz des Requiems ist ein deutlicher Beweis für die Dialektik von Hell und Dunkel, Tod und Leben, Trauer und Freude sowie die daraus entspringende fruchtbare Spannung lebendiger Hoffnung.

Satz 3

Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muß und mein Leben ein Ziel hat und ich davon muß. Siehe, meine Tage sind einer Hand breit vor dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir. Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben. Sie gehen daher wie ein Schemen und machen ihnen viel vergebliche Unruhe; sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird. Nun, Herr, wes soll ich mich trösten? Ich hoffe auf dich (Psalm 39,5-8).

In individueller Anwendung führt die Einsicht der Vergänglichkeit zu der Bitte um Selbsterkenntnis: Die Länge meines Lebens - ein Weilchen nur, ein Nichts in Gottes Augen. Kontrastiert wird diese weise Selbstbegrenzung durch die Kritik an den Unaufrichtigen.

Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben.

Die hohle Diskrepanz von Scheinsicherheit und tatsächlicher Hinfälligkeit wird durchschaut. Wer sich sicher wähnt, gehört der Lüge. Der Beter aber fragt nach der Quelle des Trostes. Die Musik malt Takt 142ff. das Bild eines bohrenden, wühlenden Suchers:

Nun, Herr, wes soll ich mich trösten? wes soll ich mich trösten?

Dann wechselt Brahms Takt 164 vom dramatischen d-Moll zum hellen, lichten D-Dur, denn ein innerer Sieg ist errungen mit der Antwort: Ich hoffe auf Dich! Einbruch des Transzendenten in die Welt des Zweiflers in Gestalt der Hoffnung!

Das "memento mori" macht den Menschen weise. Philosophen von Heraklit bis Heidegger wissen es wie die Bibel: der Tod beginnt mit der Geburt; wir leben, um zu sterben. Aber die biblische Botschaft geht über diesen philosophischen Realismus einen Schritt hinaus: Es gibt die Hoffnung auf Gott, und das Negative wird negiert, weil das Bleibende stärker ist:

Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand, und keine Qual rührt sie an (Weisheit 3,1).

Der gedankliche Kontext dieser spätjüdischen Weisheit erwägt, dass Gott die Menschen zur Unvergänglichkeit geschaffen habe, und zwar nach seinem eigenen Bild, dem Bild des ewigen Gottes. Erst der Teufel brachte den Tod in die Welt; und dem Tod verfallen alle, die unter seiner Herrschaft stehen. Aber die Seelen der Frommen sind in Gottes Hand geborgen; keine Qual kann sie mehr erreichen. Die Qual hat kein Recht mehr auf die Gerechten, die Qual - die Negation des Lebens und der Freude - wird negiert. In der Philosophie heißt das "doppelte Negation" - Keine Qual, keine Qual! Das Nein zum Leben wird verneint!

Dietrich Bonhoeffer sagte im Wintersemester 1932/3 in einer Vorlesung über die biblische Urgeschichte: "Was ist das Böse im Guten? Dass das Gute stirbt. Was ist das Gute im Bösen? Dass das Böse stirbt"[1] Das Böse, das Negative, findet durch Gottes Hand seine Grenze.

"Gottes Hand" - das Zuverlässige und Bleibende mitten in der Todesangst - wird von Brahms gestaltet durch den bleibenden Ton, den sog. Orgelpunkt. Durch penetrante Wiederholung des Grundtons D in Bass und Pauke gestaltet der Komponist trotzigen Widerspruch gegen die Flüchtigkeit des Seienden. Dramatische Antithetik, musikalisch gemalt ohne Rücksicht auf Dissonanzen! Dieses Stilmittel wurde von den Zeitgenossen bei der ersten Teilaufführung 1867 impulsiv zurückgewiesen. Hören wir das Zeugnis des Brahms-Freundes Eduard Hanslick:

"Das d-Moll-Andante geht schließlich in die Dur-Tonart über und bringt über dem Orgelpunkt der Tonika einen vierstimmigen figurierten Satz: »Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand«. Dieser Orgelpunkt hat die unbarmherzige Länge von 72 Vierviertel-Takten[2] und wird von den [...] Contrabässen, Hörnern, Posaunen und einer ununterbrochen in Sextolen schlagenden (nicht wirbelnden) Pauke ausgehalten. Der Componist hat diese in der Partitur imponierende Stelle in ihrer äußeren Wirkung kaum richtig berechnet. Einmal verschlingt der dröhnende Orgelpunkt das Geflecht der Singstimmen, welches man nicht mehr zu erkennen vermag, sodann versetzt das unaufhörliche Paukengehämmer auf einem Ton den Zuhörer in eine nervöse Aufregung. [...] Während die beiden ersten Sätze des »Requiem« trotz ihres düsteren Ernstes mit einhelligem Beifall aufgenommen wurden, war das Schicksal des dritten Satzes ein sehr zweifelhaftes. Brahms braucht sich darob nicht zu grämen, er kann warten. Dass eine so schwer-fassliche, nur in Todesgedanken webende Composition keinen populären Erfolg erwartet und viele Elemente eines großen Publikums unbefriedigt lassen wird, ist begreiflich"[3].

In Wien wurde die erste Requiemhälfte ausgepfiffen. So neu war das Genre der sprachlich verstehbaren Todesbetrachtung, dass ihre düstere Seite stärker wahrgenommen wurde als die überwiegende Freudenbotschaft; so befremdlich das Insistieren auf der Hand Gottes in dem schmerzvoll empfundenen kosmischen Kampf, dass darüber der Sieg Gottes nicht gefühlt wurde. Das Bildungsbürgertum war der Kraft der Botschaft vom Glück der Verwandlung offenbar nicht gewachsen.

Satz 4

Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaoth! Meine Seele verlanget und sehnet sich nach den Vorhöfen des Herrn; mein Leib und Seele freuen sich in dem lebendigen Gott. Wohl denen, die in deinem Hause wohnen, die loben dich immerdar (Psalm 84,2.3.5).

Nach den allerdings eher dramatischen Klängen der ersten drei Sätze dürfen die Hörer den 4. Satz als Ruhepunkt aufatmend genießen. Das kultische Heiligtum wird transparent für die himmlische Heimat; die Musik vermittelt innige Freude und Ruhe. Die Empfehlung des Requiems durch eine Bremer Zeitung unmittelbar vor der Bremer Gesamturaufführung 1868 macht darauf aufmerksam:

"Uebrigens wechseln sanft versöhnende Empfindungen, für welche Brahms ein besonders lieblicher Ausdruck zu Gebote steht, Klänge, die namentlich mit Schubert innere Verwandtschaft zeigen, mit düsteren und gewaltigen Schilderungen, z. B. der letzten Auferstehung der Toten, wirkungsvoll ab. Bei Letzterem wird man sich schwerlich des Eindrucks erwehren, dass man einem der großartigsten Tongebilde gegenübersteht, die überhaupt in deutscher Kunst geschaffen wurden"[4]

Satz 5

Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen (Johannes 16,22).

Ist oft kritisch vermerkt worden, Brahms verschweige im Requiem den Namen Jesu Christi, so stimmt das nur bedingt. Denn das zitierte Wort ist aus dem Abschiedsgespräch zwischen Jesus und seinen engsten Freunden genommen. Der scheidende Jesus kündet eine kleine Zeit der Trennung an und verheißt ihnen sein Wiederkommen in anderer Weise. Ich will euch wiedersehen - in dieser Übersetzung schwingt der aktive Wille zur Wiedervereinigung mit, als könne Christus selbst den Trennungsschmerz nicht ertragen.

Interpretierend ergänzt wird das Solo durch den Chor, der beschwichtigend ein Wort aus dem Jesajabuch erklingen lässt, das - rückblickend auf die Zerstörung Jerusalems - Mut einflößt:

Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet (Jesaja 66,13).

Eine ergreifende Impression angesichts des Todes von Brahms´ Mutter 1865 als Auslöser für die Vollendung des Requiems! Die "Mütterlichkeit Gottes" schafft die Verwandlung des Gemüts: wie Sonne mitten im Regen verweben sich die Bekundungen der Traurigkeit und des Trostes, wie Tränen im schon lächelnden Kindergesicht.

Ein dritter Vers mag die kurze Zeit, von der Johannes 16,16ff. spricht, assoziativ aufgreifen:

Sehet mich an: ich habe eine kleine Zeit Mühe und Arbeit gehabt und habe großen Trost gefunden (Sirach 51,35).

Die Not wird bezeichnet als Mühe und Arbeit. Nicht nur hier, auch im 7. Satz wird dies merkwürdige Wort "Arbeit" eine Rolle spielen. Arbeit muss hier in ihrer mittelhochdeutschen Bedeutung verstanden werden: als Mühsal, Plage, Anstrengung. Wir kennen diese Wortbedeutung aus dem Anfang des Nibelungenliedes:

Uns ist in alten mæren / wunders vil geseit /
von helden lobebæren, / von grozer arebeit.

Die Abgründigkeit altdeutscher Tragik wird ohne Abstriche aufgenommen, aber im Gegensatz zum Nibelungenlied geht der Weg bei Brahms im Geist biblischer Gottgläubigkeit vom Dunkel zum Licht. Das Sopransolo nimmt dies Wort auf und vertritt sowohl den tröstenden Jesus als auch den auf seine Not zurückblickenden Menschen. Der Chor fällt beschwichtigend ein: Ich will euch trösten. Alle drei Texte erklingen zugleich, ineinander gewoben: ein feines zartes Tuch göttlicher Tröstung breitet sich beruhigend über die Seele.

Nach dem dritten Ich will euch trösten greift Brahms noch einmal die johanneische Traurigkeit auf. Seine Musik wird herzzerreißender; nach einem kurzen, in seiner Innigkeit unter die Haut gehenden Cellosolo (Takt 49-50) badet sich die schöne Soprankantilene Takt 51 bis 60 in der meditativen Wiederholung des Wortes Traurigkeit. Die Atmosphäre, die hier geschaffen wird, lässt an das erneute Aufschluchzen eines sich schon in den Armen der Mutter wiegenden Kindes denken, das sich im Schon-Getröstetsein noch einmal an den soeben beweinten Schmerz heftig erinnert.

Der 5. Satz klingt aus in dem ineinander verschlungenen Trostwort zweier Gestalten, des nachexilischen Propheten Tritojesaja und des Erlösers Jesus Christus. Dieser singt ein drittes Mal ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen - ein durch die hohe Stimmlage weiblich imaginierter göttlicher Menschenfreund - der "Spiegel des mütterlichen Herzens Gottes", um ein Lutherwort aus dem Großen Katechismus[5] abzuwandeln und auszuweiten - komplementiert durch das sanfte Ich will euch trösten des Chores.

Satz 5 ist "eine geradezu überirdisch schöne Tröstung"[6]. Sie ist von einer Zärtlichkeit, die bei Brahms selbst nur noch vom Klarinettenquintett op 115 erreicht wird.

Satz 6

Denn wir haben hie keine bleibende Statt, sondern die zukünftige suchen wir (Hebräer 13,14).

Der 6. Satz markiert den Umschlagspunkt von Erkenntnis der Welt als flüchtig und nichtig, in der es kein Bleiben gibt, in das numinose Glück der Verwandlung. Nach zwei stillen Sätzen, die aufatmen lassen, werden wir erneut hineingerissen in den Strudel endzeitlicher Dramatik. Brahms macht sich nicht die vergebliche Mühe, diesen Prozeß zu erklären oder plausibel zu machen; er folgt ohne Widerstreben dem paulinischen Mysterion:

Siehe, ich sage euch ein Geheimnis: Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und dasselbige plötzlich, in einem Augenblick, zu der Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Dann wird erfüllet werden das Wort, das geschrieben steht: Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? (I Korinther 15, 51.52.54b.55).

Das Geheimnis ist Verwandlung. Die Verwandlung ist Geheimnis! Die apokalyptische Bildwelt sprengt unsere Fassungskraft. Brahms tritt mit der Wahl dieses Textes hart an die Grenze zwischen Welt und Ewigkeit, Immanenz und Transzendenz. Zwei Prophetenworte verschmelzen hier ineinander: Jesaja 25,8 und Hosea 13,14, letzteres ein Hohnwort über die überwundene Macht des Todes. Nicht der moralisch gescheiterte Mensch ist Gegenstand göttlichen Zorns (wohl darum kein dies irae?!), sondern der Tod selbst als Gottes letzter Feind (vgl. I Korinther 15,26). Gerichtet werden nicht die Menschen, sondern die Verderbensmächte. Aber hierin liegt doch ein Glaubenszeugnis von größter Kraft! Ich halte daher das Urteil eines Biographen, das Requiem kenne den Hinweis auf die Erlösung nicht und trauere über den Verlust des Erlösungsglaubens[7], für höchst fragwürdig.

Die Dramatik dieser apokalyptischen Gedankenwelt wird von Brahms ausdrucksvoll gestaltet. Tod und Hölle werden Takt 152ff. wütend angebrüllt; die ganze Verzweiflung der Menschheit über diese Tyrannei wird in furchterregenden Klängen zusammengeballt und entladen. Aus dem düsteren c-Moll wird strahlendes C-Dur, und es erklingt feierlich ein Hymnus:

Herr, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft; denn du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen haben sie das Wesen und sind geschaffen (Offenbarung 4,11).

Das Wort, das hinter allem Verwelken bleibt, hat das All geschaffen. Die Macht des Schöpfungswortes, das mit Frühregen und Spätregen Frucht wachsen lässt, ist das Bleibende, das in der Angst des Nichtigen hervortritt. Ihm gilt Dank, Lob, Ehre, von ihm kommt Trost, Hoffnung, Freude. Die Kraft des ewigen lebensspendenden Wortes ist die große Antithese gegen den Tod. So bleibt das letzte Wort dieses großen Satzes "Kraft" (dynamis).

Die Dynamik des bisher beschrittenen Weges kommt nun im folgenden Satz zur Ruhe.

Satz 7

Selig sind die Toten, die in dem Herren sterben von nun an. Ja, der Geist spricht, daß sie ruhen von ihrer Arbeit; denn ihre Werke folgen ihnen nach (Offenbarung 14,13).

Offenbarung 14 stellt mitten in das Dunkel eines letzten Gerichts den hellen Lichtstrahl eines Offenbarungswortes, das von seligem Sterben und friedevollem Ruhen der Christen zu sagen weiß. Das wandernde Gottesvolk, das hier keine bleibende Statt hat, kommt zur Ruhe. Befreiende Entlastung von der Mühsal des irdischen Lebenskampfes ist das Lebensziel, und was an guten Früchten gelebt war, darf mit aufgehoben werden in der Ewigkeit.

Zu den mitfolgenden Werken könnte ein paulinischer Gedanke (I Korinther 3,12-15) hilfreich sein: durch läuterndes Feuer kann offenbar werden, von welcher Art eines jeden Werk ist. Jemandes Werk kann bleiben (Gold, Silber, Edelsteine) oder verbrennen (Holz, Heu, Stroh). Werke der Liebe haben bleibenden Wert. Auch bei dem, was wir tun, gibt es die Konfrontation zwischen dem Vergehen und dem Bleiben. Das, was Gold an unserem Tun ist, bleibt, begleitet uns.

Entscheidend ist die Perspektive des Ruhens von der Arbeit. Es gibt einen großen Sabbat, ewige Ruhe. Nicht Arbeit, sondern Ruhe ist Lebensfülle. Das ist eine wichtige Korrektur der westlichen Leistungsideologie. Zugleich klingt noch einmal der Sinn von Arbeit an, den wir schon mit dem Nibelungenlied verknüpft haben. Das Sichabmühen ist begrenzt, der Kampf gegen die Verderbensmächte löst sich in Frieden auf; das Gute im Bösen ist, dass das Böse stirbt.

Mit Satz 7 kommt der Gesamttitel des Werkes zur Geltung: "Requiem" (ruhen, lat. requiescere, Substantiv requies, Akkusativ requiem). Dona eis Requiem aeternam, heißt es im klassischen Text der Totenmesse: Gib ihnen ewige Ruhe. Der Tod hat am Ende dieser langen Reise nun keinen Stachel mehr, er sticht nicht, sondern befreit, er ist die Tür zum großen Sabbat. Darin liegt die Seligkeit beschlossen, die den Anfang und das Ende des Requiems umgreift. Die Musik wiederholt sich in z.T. wörtlichem Selbstzitat. Und das zentrale Wort "selig" eröffnet und beschließt das Requiem. "Selig" (gr. makarios) hat zwei Bedeutungen. In Satz 1 heißt es "getröstet", in Satz 7 heißt es dagegen: "für immer aufgehoben". Makarios kann Glücklichsein, Freiheit von Schmerz und Trauer bedeuten - aber auch Seligsein, dem Tod und Vergehen enthoben. Dies kraftvolle, alle menschliche Sehnsucht auf den Begriff bringende Wort makarios verklammert in großartiger Symmetrie das ganze Werk. So klingt das Requiem an und aus mit einem Wort: Selig.

Verwandlung als Schritt über die Grenze der todverfallenen Welt geschieht nicht erst in der kosmischen Dimension der "Letzten Dinge", sondern schon im Hier und Jetzt. Viele Mystiker nannten diese Erfahrung praegustum, "Vorgeschmack"[8] der Ewigkeit. Die Gewissheit von der göttlichen Übermacht über die Todesverfallenheit der Welt bestimmt auch die Botschaft des Brahms-Requiems. Wer sich darauf einlässt, sich ihr im Hören ganz zu öffnen, kann ergriffen werden von ihrer inneren Kraft und schon im Heute die Bewegung von der Perspektivlosigkeit zur Wartekraft, vom "Seufzen" zum "Jauchzen", vom Schmerz zur Freude, zur Vorfreude ewigen Lebens erfahren.

Anmerkungen

Der Aufsatz von Volker Keding ist im März 2002 erschienen in: Vision Mission 5, Heft 13, 14-22.

  1. Dietrich Bonhoeffer, Schöpfung und Fall. Theologische Auslegung von Genesis 1-3, München 4/1958, 66.
  2. Ich zähle "nur" 35, Anm. V.K.
  3. Zitiert nach Michael Heinemann, Johannes Brahms. Ein deutsches Requiem nach Worten der Heiligen Schrift op 45. Eine Einführung, Göttingen / Braunschweig 1998, 110f.
  4. Heinemann, a.a.O. 116.
  5. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 6/1967, 660.
  6. Ulrich Michels, dtv-Atlas zur Musik. Tafeln und Texte, Bd. 2. Historischer Teil: Vom Barock bis zur Gegenwart, München u.a. 5/1989, 463.
  7. Vgl. Hans A. Neunzig, Johannes Brahms in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (RoMo 197), Reinbek bei Hamburg 1973, 110f.
  8. Vgl. Volker Keding, Theologia experimentalis. Die Erfahrungstheologie beim späten Gottfried Arnold (Theologie Bd. 37), Münster / Hamburg / Berlin / London 2001, 62f.127f.199ff.