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Magazin für Theologie und Ästhetik


Blasphemie

Zur Wiederkehr sakraler Kunst

Andreas Mertin

Kunst und Religion I

Vor 44 Jahren veröffentlichte Theodor W. Adorno eine Thesenreihe in der " Kenyon Review", in der er sich gegen eine vorschnelle Verbindung von Kunst und Religion wandte.[1] Kunst, Religion und Philosophie sind für ihn das ausdifferenzierte Ergebnis europäischer Aufklärung, ihre Dissoziation unaufhebbar. Gesellschaftliche Prozesse wie die Ausdifferenzierung des ästhetischen, religiösen und philosophischen Diskurses seien unumkehrbar. Die emphatisch beschworene Einheit von Kunst und Religion sei das Ergebnis einer romantischen Projektion und spiegele keinesfalls reale historische Verhältnisse. Tatsächlich habe diese Einheit nie existiert, vielmehr ließe sich das Verhältnis von Kunst und Religion als das einer einseitigen Unterdrückung charakterisieren. Wo immer der Schlachtruf erhoben werde, Kunst solle zu ihren religiösen Ursprüngen zurückkehren, herrsche der Wunsch vor, dass Kunst eine repressive Funktion ausüben möge. Den Grund der Versuche, Kunst und Religion zu versöhnen, sieht Adorno in der Sehnsucht nach einem sinnstiftenden, integrierenden Moment. Jedoch liefe die Engführung von Kunst und Religion auf das Gegenteil dessen hinaus, was sie intendierte: Kunst und Religion würden so zu beliebig austauschbaren kulturellen Waren gemacht. Nur durch eine asketische Abstinenz von religiösen Themen könne Kunst ihre wahre Affinität zur Religion bewahren. Adorno kommt daher zu dem Ergebnis: Religiöse Kunst heutzutage ist nichts als Blasphemie.

Wiedergänger

Das Christentum zerfällt in ebenso viele Milieus wie die Gesellschaft insgesamt - wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung. Und daher geschieht es auch nicht unerwartet, dass mit der legitimatorischen Egalisierung der Milieus auch die jeweiligen Stile als egalitär verteidigt werden (der schicke Ski-Anzug ist genauso bedeutsam wie die Verdi-Oper). Und konnte im Rahmen der kulturellen Moderne noch darauf gesetzt werden, dass die je eigenen Regeln der sich ausdifferenzierenden Diskurse - wenn auch kontrovers - als Maßstab zu gelten hätten, so kann dies aktuell nicht mehr vorausgesetzt werden, es wird sogar heftig bestritten. Leslie Fiedlers Ruf "Close the gap, cross the border"[2] wird als Legitimation genutzt, noch das Trivialste und Epigonalste als ebenso wertvoll wie das bisher als kulturell gehaltvoll Betrachtete auszugeben. Die Differenzierung schlägt zunehmend um in Entdifferenzierung: alles ist gleich. Der röhrende Hirsch hat demnach den gleichen kulturellen Gehalt wie Picasso Guernica, der kunsthandwerkliche Pseudo-Expressionismus ist ebenso legitim wie das Ringen um einen avancierten künstlerischen Ausdruck. Post-Moderne wird begriffen als Möglichkeit, den komplexen Differenzierungen der Moderne (ihrem Reflexivwerden seit der Romantik) zu entgehen und vor jene Zeit zurückzukehren, in der die Moderne ihre Arbeit aufgenommen hat. "Whatever is, is right" - Alexander Popes Satz wird noch unterboten im Sinne von: Was immer mir in den Kram passt und mir die Mühe des Nach-Denkens und der Wahrnehmung abnimmt, ist willkommen.[3]

Seit etwa 10 Jahren kann man innerhalb der Kirchen beobachten, dass die Schere zwischen den kunst-ästhetisch Avancierten (die sich am autonomen Diskurs "Kunst" orientieren) und den die kirchliche Sonderkultur des religiösen Kunsthandwerks Pflegenden (die sich an einer Art Nazarener- oder auch frühneuzeitlicher Kunst orientieren) immer weiter auseinander geht.[4] Die ästhetische Aufklärung des Christentums geht mit einer An-Ästhetisierung des Christentums parallel,[5] ohne dass diese beiden Bewegungen noch etwas miteinander zu tun hätten, geschweige denn, dass zwischen den sie vertretenden Milieus kontrovers diskutiert würde. Milieusegmentierung dient als Argument für den Abweis jeder Begründungspflicht für Urteile. Der an-ästhetisch Aufgeklärte verweist auf Bourdieus "Die feinen Unterschiede"[6] und begründet damit, dass mit der zeitgenössischen Kunstszene doch nur der herrschende Geschmack und das Interesse an Differenz bedient werde. Man selber habe einen anderen - eben anti-kantianischen - Geschmack und sei an den Entwicklungen des zeitgenössischen kommerziellen Kunstmarktes nicht interessiert. Dieser an-ästhetische Fundamentalismus speist sich aus verschiedenen Quellen: aus den vielen am Kunstmarkt gescheiterten Existenzen, die nun dringend einen Tätigkeitsbereich suchen, aus den inzwischen weitgehend ästhetisch ungebildeten PfarrerInnen und LehrerInnen, denen alles recht ist, was leicht verdaubar und ästhetisch nicht allzu differenziert ist, und schließlich aus einer wiederentstandenen Gemengelage kultureller Vorurteile gegen zeitgenössische Kunst, wie wir sie lange nicht mehr gehabt haben.

Sicher hat es in den letzten 50 Jahren in den Kirchen einen vehementen Streit um die so genannte autonome Kunst gegeben[7] und sicher war religiöses Kunsthandwerk ungebrochen der Regelfall kirchlicher Kunstausstattung. Aber es gab dennoch eine Art stillschweigenden common sense, dass die Maßstäbe der Kunstkritik dem Kunstdiskurs und nicht dem diffusen Bedürfnis nach Angenehmen, Leichtverständlichen oder bloß Illustrativen entnommen wurden. Die Berufung auf das gesunde Volksempfinden, die ich seit zwei Jahren in ästhetischen und künstlerischen Fragen vermehrt vernehme, war lange Zeit tabu oder wurde unter subtilen Formulierungen versteckt.

Was sich im Augenblick ändert, ist nicht nur, dass eine Rückkehr des vormodernen Sakralen in die autonome Kunst der Gegenwart gefordert wird (Unter dem Motto: Wenn post-modern alles geht, dann müsse ja auch das gehen), sondern auch, dass unter Bezugnahme auf falsch verstandene theoretische Annahmen der Post-Moderne vehement für die Gleichwertigkeit des Trivialen, Epigonalen oder Volkstümlichen mit dem künstlerisch Reflektierten und Avancierten gestritten wird - wobei natürlich behauptet wird, das Eigene sei nicht epigonal, sondern es sei das Andere (Verdrängte, Tabuisierte etc.) der Moderne. Und nicht nur das: Auch der Slogan "Provinz gegen Metropolen" verbunden mit der Konnotation "Gesund gegen Krank" feiert fröhliche Urständ.

Unbestritten ist, dass sich darin auch ein Begründungsdefizit der so genannten Post-Moderne spiegelt. In ihrem Interesse, auch das populär Kulturelle dem Diskurs zugänglich zu machen, wurde über weite Strecken und von manchen Vertretern die Gleichwertigkeit des Bearbeiteten mehr behauptet als bewiesen. Aus der Tatsache jedoch, dass etwa Jeff Koons sich mit Kitsch und Trivialitäten beschäftigt, kann noch lange nicht geschlossen werden, dass das von Koons als Material genutzte dem künstlerischen Diskurs gleichwertig wäre, sonst könnten Koons Arbeiten gar nicht als solche wahrgenommen werden. Was also mit der Postmoderne obsolet wurde, war nicht die Differenzierung von High und Low, sondern die ausgrenzende Nicht-Thematisierung des populär Kulturellen. Nicht Nivellierung war das Stichwort, sondern die Erweiterung der Grenzen des zu bearbeitenden Materials. Das musste zu Missverständnissen führen.

Denn das (Klein-) Bürgertum, das seinen röhrenden Hirsch nun in manchen Kunstwerken der ästhetischen Avantgarden wiederkehren sah, wittert in dieser Entwicklung die Chance, bisher ästhetisch diskreditiertes Material erhobenen Hauptes wieder in den Diskurs einzuführen. Was für den röhrenden Hirsch zutrifft, kann natürlich auch für die religiöse Motivik in Anspruch genommen werden, die spätestens seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in der Bildenden Kunst ein Schattendasein fristete. Ja, man konnte noch weiter gehen und in diesem Ausfall eine Mangelanzeige der Kunst der Moderne erkennen, die es nun aktiv zu korrigieren galt.

Art Sacré oder: religiöse Kunst als ästhetischer Gemischtwarenladen

Dass das Christentum, wenn es sich denn auf Kunst bezieht, sich nur auf das Eigene im Fremden beziehen kann, ist so unter der Hand wieder zum Glaubensbekenntnis vieler in der Kirche oder in der Vermittlung von Religion Arbeitender geworden. Nicht das autonome Kunstwerk, nicht die freie künstlerische Äußerung steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern nur jene Werke und Künstler, die sich dem religiösen Blick bereits akkomodiert haben. Und wenn es nicht genügend Kunstwerke dieser Art gibt, muss man eben dafür sorgen und entsprechend gesinnte "Künstler" fördern.

Wer die ganz praktischen Folgen dieser Entwicklung einmal überprüfen will, kann dies unter der Adresse http://www.religionslehrer.lu und dort unter dem bezeichnenden Stichwort Art Sacré. Was dem Betrachter dort geboten wird, ist meines Erachtens Christentum auf dem Höhepunkt an-ästhetischer Barbarei. Vorgestellt und empfohlen werden Künstler, die - anders als der geschmähte Kunstmarkt - sich explizit religiösen Themen zuwenden. Positiv hervorgehoben wird u.a., dass sie einen eigenen Stil erst gar nicht entwickelt haben, sondern sich munter aus dem Formen- und Stilarsenal des 19. und 20. Jahrhunderts bedienen.[8] Trivialisierte Postmoderne als ästhetischer Gemischtwarenladen.

Dass Derartiges unter dem Etikett "Christentum" bzw. "Sakrale Kunst" vorgestellt werden kann und auch noch auf Zustimmung trifft, ist zutiefst beschämend, denn es macht aus der Bildenden Kunst im Kern Kaufhauskunst oder - in den Worten Theodor W. Adornos -: Hotelbildmalerei. Sagen wir es klar und deutlich: ob da jemand für OB-Tampons Werbebildchen malt oder für religiös Interessierte Johannes den Täufer ist auf formaler Ebene völlig gleich, letztlich geht es um Gefühlsdesign. Das aber können Werbeagenturen weitaus besser und man sollte es diesen im Rahmen moderner Arbeitsteilung überlassen. Denn nicht einmal den Kriterien eines heutigen Design-Büros würden eine derartige religiöse Bilderkultur genügen.

Den Höhepunkt der Geschmacklosigkeit dürfte das Geschmacksurteil im Stil des Multiple-Choice-Verfahrens bilden. Da werden 15 Pixelbilder von Kunstwerken diverser Stilnachbildungen angeboten und der Betrachter darf dann anklicken, welches der Bilder zum Beispiel Markus 1, 1-8 seiner Meinung nach am besten interpretiert. Mit Robert Lembke gesprochen: "Welches Schweinderl hätten Sie denn gerne?

Schattenboxen oder: Der Verfall der Seele im Unglauben

"Ich beglückwünsche Sie zu dem Kunstwerk, das endlich wieder einmal wirkliche sakrale Kunst
darstellt im Gegensatz zu so Vielem, das nur den Verfall der Seele im Unglauben sichtbar macht."

Mit diesen Worten begrüßt Joseph Kardinal Ratzinger die Gestaltung der Erlöserkapelle Biburg durch den Künstler Angerer der Ältere, der damit nach eigenem Bekunden gegen die Kunst der Metropolen dem einfachen Menschen eine Stätte der Besinnung bieten möchte. Auch wenn man unterstellen kann, dass Kardinal Ratzinger andauernd derartige Grußworte unterschreibt, so ist die Wortwahl gewiss nicht zufällig und schon gar nicht beliebig. Vielmehr gibt sie einer Tendenz in der kirchlichen Beurteilung zeitgenössischer Kunst nicht nur seitens bestimmter Teile der katholischen Kirche Ausdruck.[9] Endlich wieder einmal wirkliche sakrale Kunst - das ist der Aufschrei der von der Moderne bedrängten religiösen Seele.[10] Was die Motive der an derartigen Projekten beteiligten Künstler betrifft, so liegen sie ziemlich offen. Sie haben - trotz aller Dementis - exakt etwas mit jenem Kunstmarkt zu tun, den sie bekämpfen, denn bei aller Polemik gegen den Markt geht es immer wieder doch nur um den Absatz der eigenen Werke.[11]

Auf der Website des Künstlers Angerer dem Älteren kann man zum gelobten Kapellen-Projekt Folgendes lesen:

"Ich meine allerdings, wenn die katholische Kirche in einer Zeit völliger Auflösung aller Werte und der zur Mode gewordenen Verhöhnung des Göttlichen keine neuen sichtbaren Zeichen setzen kann, wird sie immer mehr Einfluss im geistigen Hintergrund des täglichen Lebens verlieren.

Die "christliche Kunst" von heute vermeidet die Klarheit einer Gottesdarstellung und flüchtet sich in verschwommene abstrakte Unverbindlichkeit. Denn nicht aus dem Gesetz der "göttlichen Übereinstimmung", Harmonie, Wahrheit und Gewissheit schafft der heutige moderne Künstler, sondern aus dem Zweifel heraus wird nach Belieben empfunden.

Papst Paul VI sagte: "Auch ich bin erschreckt, und mein Herz blutet, wie sich die heutige Kunst vom Menschlichen, vom Leben entfernt."

Ich meine, wenn in den Kunstmetropolen der Großstädte kulturelle Ratlosigkeit herrscht, ist da nicht die Provinz mit ihren noch nicht so angekränkelten Menschen aufgerufen, Impulse zu setzen? Ist es nicht an der Zeit, wieder "christliche Kunst" zu schaffen, die den einfachen Menschen gefällt, wo sie hinpilgern können? Eine Kunst von "lebendigen Christen", die den Bau einer "Kapelle für Alle" fördern und mitfinanzieren.[12]

Auffällig ist manches an diesem Text, nicht nur das deutliche Interesse an der Finanzierung der eigenen Arbeit. Es ist eine inzwischen sattsam bekannte Rhetorik eines vorgeblichen Anti-Nihilismus verbunden mit kleinbürgerlichem Ressentiment und einer rigiden Ablehnung des individuell autonomen Menschen der Gegenwart zugunsten übergeordneter (religiöser) Strukturen ("unsere alten Werte und Traditionen").[13] Dabei gehört es zur Ironie von Angerers Polemik, dass ihn mit Nietzsche mehr verbindet, als er wahrhaben will. Das gilt ebenso für die Vorbildfunktion Michelangelos wie auch für die in der Wortwahl (krank versus gesund) sich abzeichnende Orientierung an der Lebensphilosophie. Nur die dezidiert katholische Kirchlichkeit ist different. Aber bei aller demonstrativen Bezugnahme auf den Katholizismus lässt die demonstrative Nicht-Bezugnahme auf die Haltung Johannes Paul II. zur Bildenden Kunst der Gegenwart doch aufhorchen. Offenbar wird auch Johannes Paul II. mit seinen Ansichten inzwischen zu den ästhetischen Verfallserscheinungen der Gegenwart gerechnet. Denn für den gegenwärtigen Papst ist Schönheit "kein Funktionsbegriff, der im gegenreformatorischen Pathos kulturkämpferisch ambitionierter Ideologen gleichsam als Waffe benutzt werden könnte, für den nur einzelne Eingeweihte sozusagen den Waffenschein zu besitzen glauben."[14]

Ingesamt muss man die Argumentation des Künstlers Wort für Wort ernst nehmen und auch in ihrer Bezugsgeschichte sorgfältig analysieren. Die Attitüden, die er pflegt, sind ja nicht ohne historische Vorbilder. Wie gesagt kann man seine Gegenübersetzung vom Gesund und Krank schon in der Lebensphilosophie und ihrer unseligen Fortsetzung in der faschistischen Ideologie finden. Die Kontrastierung von Urbanität und Land mit der Konnotation, dass auf dem Lande noch das Wahre und noch nicht Korrumpierte zu finden sei, hat eine ebenso breite wie problematische Tradition.[15]

Kunst und Religion II

Blasphemisch - um diese Formulierung Theodor W. Adornos wiederaufzunehmen - ist diese Form religiöser Kunst darin, dass sie sich in ihrer Darstellung bzw. Illustration christlicher Heilsgeschichte als Ausdruck göttlichen Willens bzw. als "religiös" ausgibt. Nach allem, was theologisch zur Bilderfrage in den letzten 2500 Jahren erarbeitet worden ist, gibt es das Gesetz der "göttlichen Übereinstimmung", das Angerer und Andere mit ihm in Anschlag bringen möchten, nicht. Gerade im Blick auf die Kunst, das hat nicht zuletzt die Reformation präzise herausgearbeitet, ist der Mensch frei. Ein "Gesetz göttlicher Übereinstimmung" zu postulieren, war ein Irrweg der Theologiegeschichte, bei dem neuplatonisches Gedankengut mit der Theologie des Neuen und Alten Testaments verwechselt bzw. dieser übergestülpt wurde.[16] Insoweit stimmt die Geschichte der modernen Ästhetik auch mit den Impulsen der biblischen Schriftsteller überein, worauf nicht zuletzt viele Künstler des 20. Jahrhunderts hingewiesen haben.

Denn das grundsätzliche Verhältnis von Kunst und Religion entwickelt sich in der Neuzeit in einem "komplexen synchronen und diachronen Spiel von Differenzen, das es zu bestimmen gilt."[17] Zu diesem Spiel der Differenzen gehört, dass sich die Ästhetik nicht erst in der Moderne dezidiert und unwiderruflich als zur Religion differenter Diskurs etabliert hat.[18] In der antiken Ästhetik ist die intelligible Welt dem Sinnlichen übergeordnet. Die moderne Ästhetik revolutioniert diese Vorstellung: "Der Gegenstand der Ästhetik, die sinnliche Welt, existiert nur für den Menschen, sie ist im strengeren Sinne das dem Menschen Eigentümliche".[19] Schon in Alexander Baumgartens Aesthetica wird "die menschliche Sinnlichkeit ... so vorgestellt, als habe sie eine spezifische Struktur, die aus der Sicht Gottes nicht relativiert werden könnte".[20] Mit Kant und Nietzsche wird schließlich die "vollkommene Autonomie der Sinnlichkeit in bezug auf das Intelligible philosophisch begründet"[21] und jeder Bezug auf Gott ausgeschaltet: "Es ist hier angebracht, sich stets die Vorstellung zu vergegenwärtigen, dass das Sinnliche das Zeichen schlechthin der menschlichen Verfassung, der endlichen Erkenntnis darstellt. Es ist genau dies, durch welches sich der Mensch, der einen materiellen Körper und einen beschränkten Geist hat, von Gott, der reiner Geist und allwissend ist, unterscheidet. Die Bejahung der Autonomie des Sinnlichen bedeutet in diesem Zusammenhang nichts weiter, als die radikale, vielleicht endgültige Trennung des Menschlichen und des Göttlichen".[22]

Damit trifft sich die neuzeitliche Ästhetik wie die von ihr beschriebene Kunst mit den differenztheologischen Ansätzen, welche auf der Auseinander-Setzung von Kultur und Glaube bestehen, weil sie darin die einzig realistische Möglichkeit sehen, dass beide Diskurse zu ihrem Recht kommen.

Anmerkungen
  1. Theodor W. Adorno: "Theses Upon Art and Religion Today"; In: ders., Noten zur Literatur. Frankfurt 1981, S. 647-653. Vgl. dazu auch Verf. Mertin, Andreas: "Religiöse Kunst heutzutage ist nichts als Blasphemie! Zum Verhältnis von Kunst und Theologie in der Gegenwart". Anstöße 39, 1989, H. 4.
  2. Fiedler, Leslie: "Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne." (Cross the Border - Close the Gap). In: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. von W. Welsch. Weinheim 1988. S. 57-74.
  3. Vgl. zu diesem Problem auch Charles Taylor: Das Unbehagen an der Moderne. Frankfurt 1995
  4. Vgl. dazu das Heft 9 des Magazins für Theologie und Ästhetik zum Thema "Kunst und Kirche".
  5. Beispielhaft für die Parallelität von Ästhetik und An-Ästhetik im Bereich der christlichen Kirchen Deutschlands ist etwa der Dokumentationsband von Markus Zink (Hg.), Kreuz + Quer. Gegenwartskunst für Kirchen, Marburg 1998 oder auch das Heft Kunst-Stücke im Rahmen der Materialhefte der Beratungsstelle für Gestaltung von Gottesdiensten, Frankfurt/M. 2001
  6. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt 1982.
  7. Beck / Volp / Schmirber (Hg.): Die Kunst und die Kirchen: Der Streit um die Bilder heute. München 1984.
  8. Im Rahmen des Kunstunterrichts können derartige Bildsammlungen unter dem Stichwort "Original und Fälschung" als Rallye Verwendung finden, wer sich wo "bedient" hat.
  9. Vgl. dazu auch Conrad Lienhardt, schönborn, "Kunst und Kirche" 2/2001, S. 112f.
  10. Gleichzeitig kann Ratzingers Grußwort ein Hauch subtilen dekonstruktiven Humors nicht abgesprochen werden, wenn er schreibt, dass in dem betreffenden Kunstwerk sakrale Kunst (nur) dargestellt werde, was ja bedeutet, dass es eben gerade nicht sakrale Kunst ist. Tatsächlich trifft das im genannten Falle zu. Es ist eine Cover-Version von Michelangelo im Kleinformat und reiht sich damit ein in eine Tradition der populären Kultur der Post-Moderne, die auch das Covern als Lieblingsspiel entdeckt hat.
  11. Wer in einer Suchmaschine den Künstlernamen Angerer eingibt, kann unmittelbar feststellen, wie kommerzialisiert das Unternehmen "Anger" ist, was seiner Philippika gegen den Kunstmarkt Hohn spricht.
  12. http://www.kunstplattform.de/kuenstler/angerer/kapelle.htm
  13. "Angerer der Ältere, der als Künstler weiß, wovon er spricht, betrachtet mit kritischem Blick die erschreckenden Auswüchse von Kunst und Kunstmarkt und vor allem den Nährboden, auf dem dies entstehen konnte: unsere vom Nihilismus geprägte Gesellschaft. Die Welt, in der wir leben, ist nicht mehr menschgerecht; futuristische Stahlkolosse, vergammelte Leberwürste und musikalisches Katzengejammer sind die Errungenschaften unserer heutigen Zeit - die der Nachwelt (zum Glück) nicht erhalten bleiben werden. Es ist höchste Zeit, diesem kulturellen Verfall Einhalt zu gebieten, indem wir uns auf unsere alten Werte und Traditionen besinnen, der Zerstörung der Natur entgegenwirken und mit Zivilcourage unsere Meinung kundtun - gegen das Diktat von oben für eine Kultur von morgen." So der Internet-Werbetext für sein Buch "Kulturpause. Streitschrift wider den Zeitgeist".
  14. Conrad Lienhardt, a.a.O., S. 113.
  15. Festzuhalten bleibt, dass sich Angerers Kritik nicht nur an die zeitgenössische Kunst der letzten 50 Jahre wendet, sondern sich zuglich auch gegen (s)eine Kirche richtet, insoweit sich diese der produktiven Auseinandersetzung mit der Kultur der Gegenwart stellt, wenn sie sich m.a.W. von der zeitgenössischen Kunst selbst Erkenntnisse verspricht und deshalb auf Kunst angewiesen sieht.
  16. Vgl. H. Belting: Bild und Kult: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990. Vgl. auch G. Schröder: Logos und List. Zur Entwicklung der Ästhetik in der frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 1985
  17. G. Schröder, a.a.O., S. 232.
  18. Vgl. G. Schröder, a.a.O., sowie L. Ferry, Der Mensch als Ästhet. Die Erfindung des Geschmacks im Zeitalter der Demokratie. Stuttgart 1992.
  19. L. Ferry, Der Mensch als Ästhet, a.a.O., S. 26.
  20. Ebenda.
  21. Ebenda, S. 26f.
  22. Ebenda, S. 35.

© Andreas Mertin 2002
Magazin für Theologie und Ästhetik 15/2002
https://www.theomag.de/15/am43.htm