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Magazin für Theologie und Ästhetik


Bildlichkeit bei Emmanuel Lévinas

Susanne Dungs

1. Einleitende Gedanken

Thema der Lévinasschen Philosophie ist die schonungslose Ausgesetztheit an das Verletztwerden durch die Transzendenz des Anderen und zwar in Art eines Empfangens, das passiver ist als irgendeine Rezeptivität, so dass sich keinerlei immanentes Wissen daraus ableiten lässt. Sie führt zu einer Verantwortung, in der ich mich ebenso wenig vertreten lassen kann wie im eigenen Sterben.[1] Diese Bestimmung des Menschen hat nach Lévinas ihren (Nicht-)Ort Jenseits des Seins. Sie ist von anderen Gesetzen bestimmt als die des Seins und verweist auf eine Unabgeschlossenheit der zeitlichen Folge. Die Zeit hat das Subjekt zerrissen, so dass dem Denken weder sein eigener Anfang zugänglich ist, noch kann es sich von seinem Ende her fundieren.

Bei Lévinas finden sich einige Gedanken zur Bildlichkeit. Zwar widmet sich Lévinas dem Bild nicht als einem eigenständigen philosophischen und ästhetischen Thema, dennoch könnte man sagen, dass sich seine Philosophie um ein Bilderverbot zentriert. Die Verstrickung in die Nähe zum anderen Menschen ist nach Lévinas keine Modalität der Erkenntnis. Ausgehend von der Bestimmung des Menschen als einer Verantwortung für den Anderen, die sich vor jeder Rezeptivität ereignet hat, kritisiert Lévinas das Bewusstsein, das sich korrelativ zu einem Thema, einem Phänomen verhält. "Die Nähe rührt nicht von einem Bild her, von nichts, was erscheint. Die Nähe reicht von Seele zu Seele, außerhalb aller Manifestation im Sinne eines Phänomens, außerhalb aller Gegebenheit."[2] Die Nähe zum Anderen erstarrt nach Lévinas zur Struktur, sobald das Antlitz des Anderen vom System des Sichtbaren vereinnahmt wird. Angestarrt verliert der Andere sein Gesicht, wodurch die Nähe zur Relation herabsinkt.

Im folgenden möchte ich unter 2. Lévinas' Ethik in Gründzügen erläutern. Darüber wird zum einen deutlich, was Lévinas dazu bewogen hat, die Nähe zum Anderen in einer asymmetrischen Weise zu beschreiben. Zum anderen wird daraus seine Kritik am Bewusstsein ersichtlich, das nach Lévinas immer wieder dazu neigt, seine Korrelate in zahllose Bilder zu vervielfältigen. Dies wird unter 3. dargestellt.

2. Grundzüge der Lévinasschen Ethik

Der Andere

Die Welt des Subjekts stand nach Lévinas stets in der Gefahr, den anderen Menschen in seiner Andersheit der Vernichtung preiszugeben. Andersheit und Fremdheit sind nie außerhalb eines die Welt konstituierenden Ichs gedacht worden. Sie standen immer unter der Verfügungsmacht des Subjekts, die in der Geschichte mehrfach totalitär und vernichtend auf den Anderen übergegriffen hat. Lévinas versucht den anderen Menschen daher als jenen zu erschließen, der diese Verfügungsmacht bricht. Der Andere ist dann nicht mehr innerhalb der Welt des Ich zu finden, sondern außerhalb. Lévinas fragt nach der Grenze einer vom Ich ausgehenden Totalität. Diese Grenze begegne im Antlitz des anderen Menschen. Im Antlitz ist der Andere dem Ich fremd und von ihm getrennt. Nur indem der Andere absolut anders als das Ich ist, kann er das Ich im ursprünglichen Bedeuten seines Antlitzes erreichen.[3] Der Andere befindet sich jenseits des Seins und bedeutet eine radikale Transzendenz im Sinne einer absoluten, niemals zu präsentierenden Absenz.[4] Mit dieser nicht zu vergegenwärtigenden Exteriorität kritisiert Lévinas die abendländische Ontologie von "Ionien bis Jena": "Sie absorbiert alles Seiende, indem sie es mobilisiert. Alles ist <im> totum. Wie der Krieg errichtet es eine Ordnung zu der niemand Abstand wahren kann."[5]

Das absolute Anderssein des Anderen, das Lévinas auch das Unendliche nennt, ist nicht mit dem Sein identisch. Ontologie sei Tautologie und Egologie und wenn sie als erste Philosophie gesetzt wird, eine Philosophie der Macht. Über den Mythos des Odysseus veranschaulicht Lévinas, dass Ontologie immer wieder anfällig dafür ist, den Anderen in den Schoß des Selbst zurückzubiegen, dem Selben anzugleichen. Odysseus sei zwar in die Fremde gereist, Ziel seiner Reise war jedoch die Rückreise in die Heimat, in das Selbe: "Trotz all seiner Abenteuer, die am Ende nur imaginär sind, oder die es, wie Odysseus, um die Rückkehr in sich selbst willen besteht, ist das Denken in sich verschlossen."[6]

Abraham ist für Lévinas indessen derjenige, der sich dem Anderen öffnet, der sich dem Fremden ohne Rückkehr in sich selbst aussetzt. Der Vergleich markiert das zentrale Anliegen der Lévinasschen Philosophie. Um der Unendlichkeit des Anderen willen kehrt Lévinas das Verhältnis von Metaphysik und Ontologie um, so dass Ethik zur ersten Philosophie wird: "Die Metaphysik, die Transzendenz, der Empfang des Anderen durch das Selbe, des Anderen Menschen durch mich, ereignet sich konkret als Infragestellung des Selben durch den Anderen, das heißt als Ethik; in ihr erfüllt sich das kritische Wesen des Wissens. Und wie die Kritik dem Dogmatismus, so geht die Metaphysik der Ontologie voraus."[7]

Lévinas wählt den Begriff Unendliches (Transzendenz, Exteriorität, Antlitz usf.), um zu verdeutlichen, dass der Andere, der mir gegenübertritt, nicht zu begreifen ist. Dem Anderen zu begegnen bedeute, von einem Rätsel wach gehalten zu werden. Das Unendliche des Anderen steht für die Unmöglichkeit, den anderen Menschen zu erklären und zu thematisieren. Lévinas nennt eine Beziehung mit dem Transzendenten eine soziale Beziehung: "Die Dimension des Göttlichen eröffnet sich dabei vom Antlitz aus. Eine Beziehung mit dem Transzendenten - die jedoch frei von jeder Aneignung des Transzendenten ist - ist eine soziale Beziehung."[8]

Mit dem Begriff des Unendlichen bezieht sich Lévinas nicht auf die traditionelle Metaphysik, sondern zeichnet eine Exzendenz aus Sein nach. "Nur die Idee des Unendlichen bewahrt die Exteriorität des Anderen."[9] Die Beziehung zum Anderen ist aber als religiös zu verstehen: "Sie ist die Beziehung zu diesem Mehr, das immer außerhalb der Totalität ist."[10] Damit steht Lévinas in der Tradition jüdischer Mystik, "die das Göttliche als das 'En-Sof', als unergründbares, undefinierbares und unaussprechliches Geheimnis denkt."[11] Als Exteriorität besitzt das Geheimnis des anderen Menschen keinen Ursprungscharakter, sondern ist an-archisch, denn als jenseits des Seins befindet es sich jenseits eines Ursprungs. Als 'absolute Exteriorität' ist es das absolut Andere.

Stellvertretung für den Anderen

In der Nähe zum absolut Anderen erleidet das Subjekt eine "passiver als passive Passivität". Sie bedeutet nichts anderes als eine Stellvertretung für den Anderen. Damit meint Lévinas keine Unterwerfung unter den Anderen. Stellvertretung stellt keine Entfremdung dar, weil sie das Einstehen für den Anderen im Sinne einer Verantwortung für ihn einfordert: "Eine Verantwortung, zu der ich - als einer, der sich seinerseits nicht vertreten lassen kann - vorgeladen bin."[12] Mit der Stellvertretung tritt der Eine nicht in eine Relation mit dem Anderen ein. In der unvergleichlichen Beziehung der Verantwortung für den Anderen wird die Identität des Einen umgewendet: "In dieser passivsten Passivität wird das Sich auf ethische Weise von jedem Anderen und von sich selbst befreit. Seine Verantwortung für den Anderen - die Nähe des Nächsten bedeutet nicht Unterwerfung unter das Nicht-Ich, sie bedeutet die Offenheit, in der das sein des Seienden in der Inspiration überboten wird - ist eine Offenheit, von der die Atmung eine Modalität bildet oder einen Vorgeschmack gibt oder, genauer, von der ihr ein Nachgeschmack bleibt. In dieser Atmung - der Möglichkeit jeder Art Opfer für die Anderen - gehen, fern aller Mystik, Aktivität und Passivität ineinander über."[13]

Stellvertretung für den Anderen beruht auf keinerlei freiem Engagement. Sie ist kein Akt, sondern "Berufung, Tragen des Universums. (...) Sie ist nichts anderes als die menschliche Brüderlichkeit, die der Freiheit vorausgeht. Das Gesicht des Anderen in der Nähe - die mehr ist als die Vergegenwärtigung, als Vorstellung - ist nicht zu vergegenwärtigende Spur, Modus des Unendlichen."[14] Die Stellvertretung für den Anderen beginnt nicht im Bewusstsein. "Das heißt sie beginnen überhaupt nicht; diesseits des Bewusstseins bestehen sie in jener vor-ursprünglichen Einwirkung des Guten auf den Einen."[15] Es ist eine Einwirkung, die nicht wiedererinnert werden kann. Sie ist stets älter als die Gegenwart. "Diachronie, die verhindert, dass der Eine wieder zu sich kommt und sich als eine Substanz identifiziert, die mit sich selbst in zeitlicher Übereinstimmung ist, als ein transzendentales Ich."[16]

Sozialität

Was hat es mit dem Verständnis von Subjektivität als einer unvordenklichen Stellvertretung für den Anderen auf sich? Lévinas möchte Intersubjektivität grundlegend anders denken, um die Beziehung des Einen zum Anderen über den 'Kampf um Anerkennung' hinauszuführen. Der Kampf um Anerkennung wurde nach Lévinas immer um die Interessen des Ich gekämpft, um die Vermehrung von Rechten, Prestige, Kapital, Macht usf. Im Mittelpunkt der humanistisch-aufklärerischen Tradition standen Autonomie, Gleichheit, Selbstverwirklichung. Lévinas verabschiedet sich von diesem Solipsismus eines auf sich selbst zentrierten Denkens und fordert einen Humanismus des anderen Menschen. Der Subjektbegriff der Stellvertretung für den Anderen durchkreuzt die Vorstellung eines autonomen Ichs und verändert die Relationen zwischen dem Einen und Anderen. Damit verweist Lévinas auf eine grundlegendere Ebene des Sozialen. "Die ethische Beziehung der einseitigen Verantwortung des der Eine-für-den-Anderen."[17] Weil der Andere in seiner absoluten Exteriorität nicht mehr das andere des Ich sein kann, ist die Beziehung zu ihm nicht im Bewusstsein zu vergegenwärtigen. Die Beziehung kann nicht vom Ich aus umgekehrt werden. "Das durch den Anderen befallene Subjekt kann nicht denken, dass dieses Befallensein reziprok sei."[18] Das Befallensein verläuft nur in eine Richtung. Es ist "unumkehrbar wie die Diachronie der Zeit".[19] Das Antlitz des Anderen bedeutet eine "Hohheit", die es unmöglich macht, irgendetwas von der Beziehung in die Macht des Einen zu übernehmen. Nur über Nicht-Reziprozität glaubt Lévinas der Transzendenz des Anderen gerecht zu werden. Er will auf eine Erfahrung der "Verwundbarkeit" hinaus, durch die etwas einbricht, das weder begreifbar, noch fassbar, noch in irgendeiner Weise beherrschbar, denkbar ist.[20] Uwe Justus Wenzel bezeichnet diese radikale Asymmetrie als eine "Beziehung ohne Beziehung".[21]

Mit der asymmetrischen Konzeption von Intersubjektivität verdeutlicht Lévinas, dass der Andere kein Gegenüber, kein Phänomen, kein Spiegel ist, durch den der Eine vermittelt über den Anderen wieder zu sich findet. Ebenso wie der Andere absolute Absenz ist, kann sich auch das Subjekt nicht selbst besitzen. Es ist keine Hypostase. Für die Art und Weise der Verbindung zwischen Identität und Alterität findet Lévinas den Begriff der "Sühne". Es ist eine unfreiwillige, weil der Initiative des Wollens zuvorkommende Sühne. Sie beinhaltet bereits das Auf-sich-Nehmen der Last des Anderen. Über den Begriff der Asymmetrie markiert Lévinas, dass sich die Tiefenschicht zur Sozialität "passiver als passiv", das heißt, nur über das vorursprüngliche Auf-sich-Nehmen der Last des Anderen eröffnet. Er zentriert seine Philosophie um einen Sinn, der sich jenseits des Seins zeigt und eben nicht in der Reflexivität, die Selbstbewusstsein genannt wird. Sobald der Andere in den Kontext vereinnahmt wird, zum Bild gemacht wird und reflektiert werden kann, ist er nicht mehr der absolut Andere.

3. Bild und Bilderverbot

Die Nähe zum Anderen ist nach Lévinas in keinerlei Form überführbar. Würde die Nähe zum Anderen eine identifizierbare Gestalt annehmen, so ließe sich die Dringlichkeit der Vorladung, die dem Subjekt widerfahren ist, vertagen. 'Vor seiner Zeit' ist das Subjekt an den Anderen gebunden, so dass es jenseits einer bildlichen Vorstellung dessen, was ihm in der Beziehung mit dem Anderen widerfährt, vorgeladen wurde. Die Nähe zum Anderen ist Nichtübereinstimmung, "eine der Thematisierung gegenüber widerständige Diachromie (...). Das Nicht-Darstellbare - verliert doch der Andere in der Darstellung sein Gesicht als Nächster."[22] Der Nähe zum Anderen stellt Levinas das Bild kritisch gegenüber. Die Nähe erschöpfe sich in ihrer Sensibilität und Unmittelbarkeit nicht darin, Bild des Wahren und Ganzen zu sein. Die Sensibilität löst sich nicht in Licht- und Spiegelspiele auf. Sie wird nicht durch ein Bild oder den Anblick einer Präsenz bekräftigt, sondern meint gerade, "die Bilder überspringen, die Ansichten, die Spiegelungen oder die Abschattungen, die Phantomerscheinungen, die Phantasmen, die Schalen der Dinge, die dem Bewusstsein von ... genügen."[23] Für Lévinas ist das Bild ein Darstellen, ein Sich-Darbieten, eine Figur, die sich zeigt. Das Bild ist auf der Suche nach dem Ganzen, nach der vollständigen Gegenwart, die sich in ihm doch nur gespiegelt findet. In seinem Streben zur Objektivierung ist das Bild nahe daran, in eine Totalität überzugehen. In seiner sinnlichen Anschauung hat das Bild bereits die Unmittelbarkeit des Sinnlichen verloren. Es ist bereits zur Ordnung des Gesagten, zur Idealität übergelaufen.

In seinem frühen Aufsatz La réalité et son sombre (1948/49) entwickelt Lévinas eine Theorie der Kunst, die sich in ihren Grundzügen auch in den späteren Werken findet. Das Kunstwerk ist seiner Ansicht nach von seiner Umgebung losgelöst, es bildet den Schatten der Wirklichkeit, indem es weder Zugang zur Wahrheit hat noch vom Betrachter über das Bewusstsein erfasst werden kann. Dieses Versetztsein des Betrachters in ein Diesseits des Bewusstseins nennt Lévinas "Rhythmus". Er bedeutet den Verlust des Selbst. Lévinas entwickelt diese Auffassung nicht nur für die Moderne im Gegensatz zur klassischen Kunst, sondern für die Kunst allgemein.[24]

Reinhold Esterbauer ist der Ansicht, dass sich Lévinas' Kunstauffassung im Laufe der Zeit gewandelt hat. In seinem frühen Aufsatz habe Lévinas eine kritische Haltung zur bildenden Kunst eingenommen. Lévinas bestimme Kunst mit den Eigenschaften Verantwortungs-, Sprach- und Weltlosigkeit. Kunst entführe die Rezipienten in eine magische Welt. Auch in Totalität und Unendlichkeit betrachte Lévinas Kunst noch als zum Wort unfähig und verstehe sie allein von der Sichtbarkeit her. Ethik werde von Lévinas so angesetzt, dass sie der Kunst vorausgeht. "Der ethische Impuls kommt von jenseits der Kunst."[25] Seit den 80er Jahren fänden sich dagegen Stellen, nach denen Lévinas dem Kunstwerk ethische Momente zubillige. Besonders in Jenseits des Seins bette Lévinas das Kunstwerk in seine Reflexionen über die Sprache ein, so dass auch der Kunst sprachliche Bestimmungen zukommen. Kunst steht in der Spannung zwischen dem affizierenden Sagen und dem identifizierenden Gesagten, "hat selbst sprachliche Struktur, die eine Interpretation fordert, die vom Kunstwerk angestoßen wird".[26] Esterbauer unternimmt daher den Versuch, die Erfahrung des Antlitzes mit der des Kunstwerkes zu vergleichen. Das Kunstwerk besitze selbst ein Antlitz. Es betreffe mich mit einer ähnlichen göttlichen Transzendenz. Dieser Vergleich ist nach Esterbauer möglich, weil auch Kunst über die Neutralität gegenüber Anderen hinausführt, auch sie nehme in Verantwortung. In einem Interview mit Françoise Armengaud von 1990 habe Lévinas geäußert, dass besonders Kunstwerke, die unkenntlich gemacht wurden, diese Eigenschaft besäßen. "Das Verwischen beziehungsweise die Unkenntlichmachung des Dargestellten führt nach Lévinas über die Neutralität dem Anderen gegenüber hinaus. Unkenntlichmachung als Möglichkeit der Kunst ist nämlich Verletzung."[27] Dadurch zeige sich ein solches Bild anders als nur als Bild. Der Makel, der ihm anhaftet, rückt es ihn den Bereich zwischenmenschlicher Herausforderungen. "Dadurch enthält das Kunstwerk neben einer magischen auch eine ethische Dimension."[28] Nach Esterbauer lässt sich daher sagen, dass auch das Kunstwerk den Rezipienten mit einer Anrede konfrontiert, der er sich nicht entziehen kann. Aufgrund seiner Blessuren und Verletzungen, die jedes Kunstwerk als Kunstwerk aufweise, eröffne es ein Gespräch. Es fordere mich zu einer Stellungnahme auf, so dass das Kunstwerk nicht primär Zeichencharakter habe, sondern "das Gepräge eines Antlitzes".[29] Kunst bringe folglich eine Relation zum Anderen zustande, die mit der Gottesbegegnung vergleichbar sei, und zwar durch seine ethische Kraft der Unkenntlichmachung. Nach Esterbauer ist Lévinas diesen Weg, Kunsterfahrungen auf Transzendenz hin zu öffnen, nicht deutlich genug gegangen. Dieser Weg müsse noch ausgearbeitet werden, damit sich ethisches und ästhetisches Geschehen nicht mehr unversöhnlich gegenüber stehen.[30]

Kehren wir noch mal zu Lévinas' Kritik am Bild zurück. Was möchte uns Lévinas damit sagen, dass er den Begriffe 'Bild' und 'Information' auch in seinem Spätwerk exakt an den Stellen auftauchen lässt, an denen er die ethische Beziehung zum Anderen von einer über das Bewusstsein einholbaren symmetrischen Struktur zu unterscheiden sucht? Schreibt Lévinas der Kunst wirklich dieselbe ethische Kraft zu, die vom Antlitz eines anderen Menschen ausgeht? Kann die Transzendenz des Antlitzes in der Weise mit einem Gottesbegriff in Verbindung gebracht werden, dass einem Kunstwerk Transzendenz sozusagen als eine Eigenschaft zukommt? Wäre dies nicht eine plastizierte Transzendenz, der die Exzendenz aus dem Sein nicht mehr gelingt?

Nach Lévinas ist die Nähe zum Anderen in seiner Sinnlichkeit nichts, was sich irgendwie festlegen lässt. Sie findet keinerlei Eingang in ein System, sie ist kein Zustand, "nicht eine Ruhe, sondern gerade Unruhe, Nicht-Ort, außerhalb des Ruheortes und damit Störung für die Stille der Nicht-Allgegenwart des Seienden, die zur Ruhe an einem Ort wird; immer also ungenügende Nähe wie eine Umarmung. 'Nie nah genug' erstarrt die Nähe nicht zur Struktur, es sei denn in dem Moment, da sie (...) in der Forderung nach Gerechtigkeit vergegenwärtigt, umkehrbar wird und damit zur bloßen Relation herabsinkt."[31] In unentwegten Anläufen sucht Lévinas nach einer Sprache, die das Koordinatensystem, innerhalb dessen das Denken gewohnt ist, sich einzurichten, ins Wanken bringen will, um Ernst zu machen mit der Erkenntnis, dass Subjektivität von der Verantwortung gegenüber dem anderen Menschen gedacht werden muss.[32] Die Beziehung zum Anderen befällt mich über eine Rezeptivität, die früher ist als das Bewusstseins. Sie führt zu einem Zerbrechen der Form des Phänomens. "Der Nächste passt nicht in eine Form, wie der Gegenstand in die Plastizität einer Ansicht, eines Profils oder einer offenen Folge von Ansichten passt."[33] Das Gesicht ist gerade das Ausbleiben der Phänomenalität. "Die Enthüllung des Gesichts ist Nacktheit - Un-Form - Selbstaufgabe, Altern, Sterben, nackter als die Nacktheit: Armut, runzelige Haut; runzelige Haut: Spur ihrer selbst."[34] Sobald der Andere als Bild erscheint, befindet sich das Ich bereits in Beziehung mit dem, was sich vervielfältigen und auf "zahllose Bildschirme" verteilen lässt - das Vervielfältigte ist aber nicht mehr der Andere.[35]

Wie könnte nun das Unkenntlichmachen des Kunstwerkes verstanden werden, das Esterbauer heranzieht, um dem Kunstwerk das "Gepräge eines Antlitzes" zu geben? Ist das Unkenntlichmachen vielleicht seinerseits schon eingeholt von jener von Lévinas kritisierten Ordnung des Bewusstseins, die sich in eine Korrelation zu ihrem Gegenstand setzt, etwas zum Thema, zur Information macht? Bei der Betrachtung von Kunstwerken, die unkenntlich gemacht wurden, geht der Blick vom Betrachter zum Kunstobjekt und läuft irritiert ins Wissen zurück, da nicht das Erwartete, Bekannte darin wiedererkannt wird, sondern das Unbekannte, Verletzte. In der Tat können vom Kunstwerk Verstörung und Überschreitung des Seins ausgehen. Entsprechend schreibt Lévinas in seinem zweiten Hauptwerk Jenseits des Seins über die Kunst, dass sie in all ihrer Ästhetik bestrebt ist, in ihren Werken dieses Erklingen des sein als Verb zu erzeugen. "Als seien die Unterschiede in Höhe, Register und Klangfarbe, in Farben und Formen, die Unterschiede der Wörter und Rhythmen nichts als Zeitigung, Klang und Farbstrich."[36] Lévinas insistiert mit dem sein auf den Geschehenscharakter des Seins, auf den verbalen Seinsvollzug, im Gegensatz zum Seienden, das auf die Identität verweist. Diese Spannung zwischen sein und Seiendem bringt er auch über den Chiasmus von Sagen und Gesagtem zum Ausdruck. Die Kunst möchte reine Zeitigung sein: Farben, Klänge, Wörter, Gebäude - Gebilde, die schon dabei sind, sich mit dem Seienden zu identifizieren, beginnen in der Kunst erneut zu sein. Überall hält Kunst die Verben wach, "die gerade dabei sind, wieder zu Substantiven zu werden. In der Malerei rotet das Rot und grünt das Grün, die Formen entstehen als Konturen und sind leer durch ihre Leere als Formen. In der Musik erklingen die Klänge, in den Gedichten treten die Wörter, das Material am Gesagten, nicht mehr hinter dem zurück, was sie evozieren, sie singen mit ihren evozierenden Kräften und durch ihre Weisen zu evozieren, mit ihren Etymologien."[37] Lévinas betrachtet die Kunst somit einerseits als Verb, als Zeitigung, als sagen. In diesem Sinne ist sie unendlich offen und kommt dem ethischen Geschehen gleich. Andererseits bezeichnet Levinas den Wunsch der Kunst, reine Zeitigung zu sein, als einen "trügerischen Anthropomorphismus", einen "animistischer Irrtum", denn in seiner Klangfülle bleibt das Cello ein Cello, Noten sind an ein System gebunden, das heißt, sie sind eine "identische Einheit".[38] Die Sprachlichkeit des sein ermöglicht zwar das Aufleuchten eines Bildes, sie ermöglicht das Sich-Darbieten des sein selbst. Doch plötzlich kippt dieses sein, in dem das Seinsgeschehen sich darstellt, durch die Ambiguität des Logos in eine Identifizierung um. Es wird zum Nomen, zum Wort, zum Thema, zum Bild. Die Phänomenalität des sein wird Phänomen, "wird, zur Fabel versammelt, fixiert, wird in eine Gleichzeitigkeit oder zeitliche Vergleichbarkeit gebracht, wird dargeboten, wird benennbar, erhält einen Titel."[39] Das Kunstwerk wird erinnerbar, kann zur Sprache kommen, kann identifiziert werden, erscheinen - es lässt sich vorstellen.

Lévinas führt das Kunstwerk in Jenseits des Seins sprachphilosophisch ein, genauso wie er auch die Beziehung zum Anderen über den Chiasmus von Sagen und Gesagtem vorstellt. Auch die Beziehung des von Angesicht-zu-Angesicht bewegt sich in der Doppeldeutigkeit von Sagen und Gesagtem. "Das Sagen ist mein Exponieren - körperlich, sensibel - an den Anderen, meine Unfähigkeit, den Anderen zurückzuweisen. In der Terminologie der Sprechakttheorie ist das Sagen die performative Äußerung, Vorschlag oder expressive Position meiner selbst. (...) Es ist das performative Machen, das nicht auf eine konstative Beschreibung zurückgeführt werden kann. Auf der anderen Seite ist das Gesagte eine Aussage, Behauptung oder Proposition (...), deren Wahrheit oder Falschheit festgestellt werden kann. (...) Das Sagen ist die reine Radikalität des menschlichen Sprechens, von Dir an mich adressiert, des Ereignisses, mit einem Anderen in Beziehung zu stehen."[40] Lévinas lässt die Bedeutung des Sagens dem Gesagten vorausgehen, seine Bedeutsamkeit geht nicht auf in der gesagten Bedeutung, so dass sie Transzendenz des Anderen eine Festlegung auf einen Begriff immer wieder durchbricht.

Trotz dieser sprachphilosophischen Wende im Werk von Lévinas, die sich sowohl in seinem Verständnis von der Beziehung zum Anderen als auch in seiner Kunstauffassung niederschlägt, kann m.E. nicht gefolgert werden, das Kunstwerk habe das Gepräge eines Antlitzes. Lévinas trennt an dieser Stelle sein Verständnis vom Anderen als Ethik von Theologie und Kunst. Kunst und Theologie neigten dazu, die unvordenkliche Vergangenheit des ethischen Anspruchs zu vergegenwärtigen und festzuhalten, zu plastizieren: "In seiner indiskreten Zurschaustellung und seinem Haltmachen als Statue, in seiner Plastizität setzt sich das Kunstwerk an die Stelle Gottes. In einer unrechtmäßigen Erschleichung, der nicht zu widerstehen ist, wird das Unvergleichliche, das Dia-chrone, das Un-gleichzeitige infolge einer täuschenden und bezaubernden Vereinfachung durch die Kunst, die Ikonographie ist, 'imitiert'. Die Bewegung über das Sein hinaus erstarrt zu Schönheit. Die Theologie und die Kunst behalten die unvordenkliche Vergangenheit (im Sinn des Zurückhaltens, des Festhaltens)."[41]

Kunstwerke und theologische Begriffe, die sich an der Ontologie orientieren, verhindern nach Lévinas den Einbruch der Transzendenz des Anderen. Die Verletzung, die einem Kunstwerk durch Verwischen oder Unkenntlichmachung des Dargestellten widerfahren ist, ist eine andere als diejenige, die der Eine vom Anderen erfährt. Kann ein Kunstwerk seine Indifferenz gegenüber dem Anderen verlieren, indem es mit Leid und Wunden konfrontiert wird? Kann sich ein Kunstwerk ethisch verhalten? Wäre das nicht ein Anthropomorphismus?

Literatur
  • Askani, Thomas: Die Frage nach dem Anderen. Im Ausgang von Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida. Wien 2002.
  • Critchley, Simon: Eine Vertiefung der ethischen Sprache und Methode: Lévinas' "Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht". In: Dtsch. Z. Philos. Berlin 42 (1994), S. 643-651.
  • Derrida, Jacques: Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas'. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt/M. 1976, S. 121-235.
  • Esterbauer, Reinhold: Das Bild als Antlitz. Zur Gotteserfahrung in der Kunst beim späten Lévinas. In: Josef Wohlmuth (Hg.): Emmanuel Lévinas - eine Herausforderung für die christliche Theologie. Paderborn u.a. ²1999, S. 13-23.
  • Esterbauer, Reinhold: Schattenspendende Moderne. Zu Lévinas' Auffassung von Kunst. In: Thomas Freyer; Richard Schenk (Hg.): Emmanuel Lévinas - Fragen an die Moderne. Wien 1996, S. 25-49.
  • Esterbauer, Reinhold: Transzendenz-Relation. Zum Transzendenzbezug in der Philosophie Emmanuel Lévinas'. Wien 1997.
  • Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg/München ²1998. (Franz. Autrement qu' être ou au-delà de l'essence, 1974).
  • Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität. Freiburg/ München 1987. (Franz. Totalité et infini, 1961).
  • Mührel, Eric: Verantwortung für den Anderen. Eine neue sozialphilosophische Grundlage Sozialer Arbeit. Überlegungen in Anlehnung an das Werk von Emmanuel Lévinas. In: Soziale Arbeit 1(1999).
  • Weber, Elisabeth: Verfolgung und Trauma. Zu Emmanuel Lévinas' Autrement qu' être ou au-delá de l' essence. Wien 1990.
  • Wendel, Saskia: Bild des Absoluten werden - Geisel des Anderen sein. Zum Freiheitsverständnis bei Fichte und Lévinas. In: Gerhard Larcher; Klaus Müller; Thomas Pröpper (Hg.): Hoffnung, die Gründe nennt. Zu Hansjürgen Verweyens Projekt einer erstphilosophischen Glaubensverantwortung. Regensburg 1996, S. 164-173.
  • Wenzel, Uwe Justus: Beziehung ohne Beziehung. Bemerkungen zur Gesellschafts- und Gemeinschaftskritik von Emmanuel Lévinas. In: Studia Philosophica; 53 (1994) S. 177-199.
Anmerkungen
  1. Vgl. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 19.
  2. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 120.
  3. Vgl. Reinhold Esterbauer: Transzendenz-"Relations", S. 13.
  4. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 63.
  5. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 20f.
  6. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 29.
  7. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 51.
  8. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 106f. - Nach Derrida zeigt sich im Begriff des Antlitzes bei Lévinas das Göttliche, indem es zugleich mehr und weniger ist als alle Gesichter. Derrida bezieht sich an dieser Stelle auf E. Jabès Schrift Livre des questions: "Alle Gesichter sind das Seine; deshalb hat ER kein Gesicht" (Jacques Derrida: Gewalt und Metaphysik, S. 166). Das Angesicht Gottes entzieht sich auf ewig, indem es sich zeigt. "Im Innern der von Lévinas bloßgelegten Erfahrung finden sich somit die verschiedensten Evokationen des Angesichts Jahwes in der Einheit ihrer metaphysischen Bedeutung versammelt, der allerdings in Totalité et infini nie beim Namen genannt wird" (ebd.). Das Angesicht Jahwes ist die totale Präsenz des Ewigen, mit dem Moses von Angesicht zu Angesicht sprach, dessen Angesicht zugleich aber nicht zu sehen ist (vgl. ebd.).
  9. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 288.
  10. Emmanuel Lévinas: Totalität und Unendlichkeit, S. 22.
  11. Saskia Wendel: Bild des Absoluten werden - Geisel des ANDEREN sein, S. 169.
  12. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 254.
  13. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 254.
  14. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 257.
  15. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 136.
  16. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 136.
  17. Eric Mührel: Verantwortung für den Anderen, S. 4.
  18. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 188.
  19. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 189.
  20. Vgl. Elisabeth Weber: Verfolgung und Trauma, S. 11-28.
  21. Vgl. Uwe Justus Wenzel: Beziehung ohne Beziehung.
  22. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 361.
  23. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 165.
  24. Reinhold Esterbauer: Schattenspendende Moderne, S. 32f.
  25. Reinhold Esterbauer: Das Bild als Antlitz, S. 16.
  26. Reinhold Esterbauer: Das Bild als Antlitz, S. 16.
  27. Reinhold Esterbauer: Das Bild als Antlitz, S. 17.
  28. Reinhold Esterbauer: Das Bild als Antlitz, S. 17.
  29. Vgl. Reinhold Esterbauer: Das Bild als Antlitz, S. 17f.
  30. Vgl. Reinhold Esterbauer: Das Bild als Antlitz, S. 23.
  31. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 184.
  32. Vgl. Thomas Askani: Die Frage nach dem Anderen, S. 24.
  33. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins. S. 197.
  34. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins. S. 199.
  35. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins. S. 162.
  36. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 101.
  37. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 100.
  38. Vgl. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 101.
  39. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 104.
  40. Simon Critchley: Eine Vertiefung der ethischen Sprache und Methode, S. 649.
  41. Emmanuel Lévinas: Jenseits des Seins, S. 329.