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Magazin für Theologie und Ästhetik


Lügentüncher

Zur Theatralik der Dummheit

Andreas Mertin

Nahezu alle religiösen Gruppierungen und politischen Parteien in Deutschland waren sich einig, dass die Absetzung von Mozarts Oper „Idomeneo“ durch die Intendantur der Deutschen Oper in Berlin vorschnell und nicht zuletzt nicht ausreichend begründet war. Weder hatten Muslime gegen die Oper protestiert, noch stand zu Erwarten, dass ausgerechnet diese Inszenierung einschlägige Reaktionen hervorrufen würde. Inkriminiert wurde ja auch nicht die Oper an sich, sondern ein Additum, dass der Regisseur Hans Neuenfels beigesteuert hatte, in dem er den König Idomeneo die Konsequenzen aus den Erfahrungen mit den Göttern ziehen lässt. Er kündigt den Kadavergehorsam gegenüber religiösen Autoritäten in einem eindrücklichen Bild auf.

Claus Spahn hat 2003 in der ZEIT abseits aller heutigen Aufgeregtheiten diese Szene so beschrieben: „Nachdem der letzte Ton der Musik verklungen ist, betritt Idomeneo, der König von Kreta, noch einmal die Bühne, allein, mit einem blutigen Sack über der Schulter. Schwer geschlagen ist er vom Schicksal, ein gebrochener Mann. Aber nun, bei seinem allerletzten Auftritt, ist sein Herz ganz leicht, weil der Sack, den er bei sich trägt, so schwer ist – schwer von abgeschnittenen Köpfen. Grausames hatte der Meeresgott Poseidon einst vom Kreterkönig verlangt: Ans Ufer seiner Heimat ließ er ihn nur zurückkehren gegen den Schwur, den ersten Menschen zu opfern, der ihm dort begegnete. Das war Idamante, Idomeneos Sohn, der den Vater sehnsüchtig am Strand erwartete. Und jetzt tritt der König, mitten in die Stille des Opernschlusses hinein, noch einmal an die Rampe, um zu zeigen, wen er wirklich geopfert hat. Er greift in den Sack und zieht, laut auflachend, den blutigen Kopf Poseidons hervor. Idomeneo hat nicht seinen Sohn, sondern den Gott enthauptet! Und nicht nur den: Auch die Köpfe der großen Religionsstifter Jesus, Mohammed und Buddha hält er triumphierend in die Höhe. Der Kreterkönig hat allen nur denkbaren überirdischen Instanzen den Garaus gemacht und die Fesseln seiner Fremdbestimmtheit gekappt. Jetzt ist er endlich frei. Und das Licht erlischt.“ Spahn empfand die Ergänzung durch Neuenfels als durchaus sachadäquat zur Intention Mozarts: Bei Mozart „bricht sich eine Selbstbefreiungsenergie Bahn, die sehr wohl korrespondiert mit dem blutrünstigen finalen Emanzipationscoup, den Neuenfels dem Helden Idomeneo angedichtet hat: Auch Mozart kappt die Fesseln seiner Fremdbestimmung.“

Nun ist das das eine, was das Feuilleton aus einem Stück liest, etwas anderes ist es, wie das Publikum reagiert. Im Blick auf dessen Resonanz über die abschließende Szene der verabschiedeten Religionsstifter berichtete die Berliner Zeitung seinerzeit: „Bei Jesus gab es Krach, bei Buddha Gemurmel und bei Mohammed war Ruhe im Saal.“ So war die religiöse Befindlichkeit des Opernpublikums 2003.

Das alles sollte man im Hinterkopf haben, wenn man sich nun jener theatralischen Dummheit zuwendet, die die Absetzung des Stückes – freilich aus ganz anderen Gründen – für selbstverständlich hält. Denn neben all jenen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen die Absetzung der Oper für fatal halten, gibt es auch solche, die meinen, schon 2003 hätte die Oper wegen ihrer Verletzung christlicher Gefühle abgesetzt werden müssen. Es sind dabei auffallenderweise immer dieselben Vertreter bestimmter religiöser Gruppen und politischer Strömungen, die hier aktiv werden. Ganz gleich, ob es sich um Werbung, eine Comic-Serie oder eine Oper handelt, sofern nur das Thema Religion unkonventionell oder kritisch in der Kultur verhandelt wird, fühlen sich diese Wächter tradierter Werte berufen, die kulturelle Zensurmaschinerie in Gang zu setzen. Am liebsten wäre ihnen vermutlich noch eine Re-Etablierung der preußischen Zensur in Berlin, die noch jede Inszenierung, jede Fernsehserie, jede Werbung vor der Veröffentlichung kontrolliert und gegebenenfalls verbietet.

In einem Artikel von Franziskus von Ritter-Groenesteyn auf der katholischen Kampfseite kath.net heißt es unter der demagogischen Überschrift „Deutsche Oper köpft Jesus“: „Darf der Kern von Religion zum Spielball von Geschmacklosigkeit säkularer Kulturgourmets gemacht werden?“ Man kann diesen Satz für ein sprachliches Desaster halten und dem Verfasser allein schon deshalb etwas mehr Kultur anempfehlen (seine Formulierungskunst hat eine verdächtige Nähe zu manchen sprachlichen Missgriffen von Helmut Kohl), aber das wäre zu kurz gegriffen. Die Programmatik des Satzes zielt ja auf die Revision der Moderne, ja der gesamten Aufklärung, nämlich auf die Begrenzung der kulturellen Freiheit und die Normierung der Kultur durch Religion. Religion hat oder ist etwas, was die Freiheit der Kunst begrenzen soll und die Religion soll selbst darüber entscheiden können, wie die Kultur mit ihr umgeht. Und da dies in einer säkularen Gesellschaft nicht geht, muss ein Kulturkampf initiiert werden: „In ihren religiösen Gefühlen verletzte Christen müssen endlich ein Sprachrohr in den Medien finden und sich in rechtstaatlich angemessener Weise wehren dürfen. Doch immer noch sind engagierten Christen wie schon bei „Popetown“ und „Da Vinci Code“ die Hände zur Untätigkeit gebunden, weil die vorhandenen gummiweichen Gesetze kein wirksames Mittel zur Gegenwehr darstellen.“ Auch hier ist die Sprache verräterisch: es geht um Gegenwehr, Tätigkeit, harte Gesetze, wirksame Mittel gegen Verletzung. Das ist die Sprache des Kampfes und die Beschwörung der Verteidigung des christlichen Abendlandes vor dem Untergang. Die Truppen der säkularen Kultur müssen in die Flucht geschlagen werden, um dem Christentum wieder zum Sieg zu verhelfen.

Gott sei Dank gibt es in dieser Perspektive aber noch Menschen in der Welt, die der Religion Respekt verschaffen: fundamentalistische Muslime, die mit Gewalt bekämpfen, was sie mit bloßer Überzeugungskraft nicht verändern können. Daran sollte man sich ein Vorbild nehmen: „Wäre nicht die Angst vor Radikalen, dürfte auch Neuenfels Woche für Woche Jesus köpfen.“ Auf die Fundamentalisten aller Religionen ist eben Verlass. Das „Woche für Woche“ bezieht sich übrigens auf nur vier geplante Aufführungen und das Köpfen vollzieht Idomeneo und natürlich nicht Neuenfels. Wer nicht einmal Fiktion von Realität, Theater von Wirklichkeit unterscheiden kann, sollte sich zur Kultur nicht äußern. Zu leicht fällt hier das Fehlen jeglicher kultureller Bildung auf.

Bei Franziskus von Ritter-Groenesteyn merkt man das spätestens, wenn er den Leser darüber belehrt, dass die Geschichte von Idomeneo „aus der Bibel abgeschaut“ sei. Das ist nun interessant und wäre eine Sensation, denn dann hätten wir den Nachweis, dass Homer im 8. Jahrhundert die Bibel gelesen hätte. Tatsächlich findet sich im Buch Richter eine Geschichte des kleinen Richters Jeftah mit der eingeschobenen Sonderüberlieferung vom Gelübde, durch dessen Erfüllung dieser seine einzige Tochter verliert. Diese Erzählung ist aber nicht eine moralische Geschichte, die uns zeigen soll, „dass man sich genau überlegen soll, was man verspricht“, wie Franziskus von Ritter-Groenesteyn uns treuherzig im Stil der moralischen Beerbung der Bilbel im 19. Jahrhundert nahe legt, sondern ist als eine Ätiologie eines von den Mädchen alljährlich auf den Bergen von Mizpa gefeierten viertägigen Festes zu verstehen. Aber das ist hier eher nebensächlich. Was überrascht ist die Sicherheit, mit der uns versichert wird, die Geschichte von Idomeneo wäre von den griechischen Autoren aus der Bibel übernommen worden. Idomeneo wird bei Homer in der Illias und in der Odyssee erwähnt. Homers Epik wird in das 8. Jahrhundert datiert, wobei davon ausgegangen wird, dass er einer schon länger existierende mündliche Überlieferung verschriftlicht hat. Der zugrunde liegende Konflikt um Troja – so er denn stattgefunden hat – dürfte ins 10. Jahrhundert vor Christus zu datieren sein. Da die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel frühestens um 250 vor Christus anzusetzen ist, bleibt die Frage, wie Homer von Richter 11 erfahren haben sollte. Bezieht man Ritter-Groenesteyns Argument im engeren Sinne auf die Parallelen in der Geschichte von Idomeneo und seinem Sohn und Jeftah und seiner Tochter, so müsste man eine konkrete literarische Abhängigkeit nachweisen. Nur die inhaltliche Nähe von Eltern, die aufgrund eines Gelübdes ihre Kinder an die Götter verlieren, reicht hier nicht. Der mythologische Stoff des Vaters, der das Erste verspricht, was ihm bei der Rückkehr begegnet, dürfte erzählerisches Gemeingut der gesamten damaligen Welt gewesen sein und von den jeweiligen Sonderkulturen entsprechend ihren Kontexten angepasst worden sein. Wir finden ihn auch im germanischen Erzählgut und sicher noch in vielen Erzähltraditionen dieser Welt. Dass alle Welt aus der Bibel abschreibt, ist naives Wunschdenken, wahrscheinlicher ist, wie wir spätestens seit dem Gilgamesch-Epos wissen, das Gegenteil. Der Überlegenheitsbeweis der Bibel durch Originalität geht hier gründlich daneben.

Aber mit der Wahrheit hält es Ritter-Groenesteyn so und so nicht sehr genau. „Dass Neuenfels auch unter anderem Jesus den Kopf abschlagen lässt, erscheint nur als Randbemerkung in den Nachrichten. Darüber regt sich keiner auf.“ Wie die oben zitierte Berichterstattung zeigt, war bei der Aufführung der Oper in Berlin genau das Gegenteil der Fall: „Bei Jesus gab es Krach, bei Buddha Gemurmel und bei Mohammed war Ruhe im Saal.“ Woran das wohl lag?

In einer logischen Pirouette sondergleichen beendet Franziskus von Ritter-Groenesteyn seine Suada. Nachdem er die biblische Erzählung von Jeftah und seiner Tochter paraphrasiert hat, folgert er im Blick auf den Konflikt in Berlin: „Doch anders als Neuenfels erkennt Jiftach seinen Fehler und demütigt sich vor Gott.“ Da sträuben sich einem doch die Nackenhaare. Was ist das für eine Demütigung: Menschen zu liquidieren statt Symbole? Schließlich opfert Jeftah seine Tochter, er köpft keinesfalls bloß Symbole wie in der Inszenierung von Berlin und wie es auch Abraham, Mohammed und andere mit Götzenstatuen getan haben. Statt dessen tötet er nach einer Schonzeit von zwei Monaten seine eigene Tochter als Brandopfer, genau so, „wie er gelobt hatte“! Ist das die von Ritter-Groenesteyn geforderte Demütigung vor Gott – bis zum Äußersten zu gehen? Da kann man nur mit Hiob 13 antworten:

  1. Siehe, das hat alles mein Auge gesehen und mein Ohr gehört, und ich hab's verstanden.
  2. Was ihr wisst, das weiß ich auch, und ich bin nicht geringer als ihr.
  3. Doch ich wollte gern zu dem Allmächtigen reden und wollte rechten mit Gott.
  4. Aber ihr seid Lügentüncher und seid alle unnütze Ärzte.
  5. Wollte Gott, dass ihr geschwiegen hättet, so wäret ihr weise geblieben.
  6. Hört doch, wie ich mich verantworte, und merkt auf die Streitsache, von der ich rede!
  7. Wollt ihr Gott verteidigen mit Unrecht und Trug für ihn reden?
  8. Wollt ihr für ihn Partei nehmen? Wollt ihr Gottes Sache vertreten?
  9. Wird's euch auch wohlgehen, wenn er euch verhören wird? Meint ihr, dass ihr ihn täuschen werdet, wie man einen Menschen täuscht?
  10. Er wird euch hart zurechtweisen, wenn ihr heimlich Partei ergreift.
  11. Werdet ihr euch nicht entsetzen, wenn er sich erhebt, und wird sein Schrecken nicht über euch fallen?
  12. Was ihr zu bedenken gebt, sind Sprüche aus Asche; eure Bollwerke werden zu Lehmhaufen.

© Andreas Mertin 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 43/2006
https://www.theomag.de/43/am199.htm