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Magazin für Theologie und Ästhetik


Seelsorge

Eine Rezension

Christoph Fleischer

Hans-Martin Gutmann: Und erlöse uns von dem Bösen. Die Chance der Seelsorge in Zeiten der Krise. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus GmbH 2005. 298 Seiten. € 27,95 . ISBN 3-579-05208-X

Die Seelsorge, ja überhaupt alle kirchliche Arbeit kann nicht absehen von der allgemein politischen Situation, in der die Menschen leben. Ihr Alltag ist von den Rahmenbedingungen her bestimmt, die sie bis in ihre seelische Befindlichkeit und religiösen Fragen hinein beeinflussen. Dabei heißt die Situation nach dem 11.09.2001 nach Hans-Martin Gutmann: In den „Zeiten der Krise“ (Untertitel). Wer dieses Buch liest, merkt schnell, dass dem Professor für praktische Theologie in Hamburg hier viel Vorlesungsmaterial in die Feder geflossen ist, denn es geht in der Zeitansage um Seelsorgetraditionen und – Konzepte, um Adaptionen aus der klinischen Psychologie und die Formulierung der eigenen Seelsorgekonzeption und Anwendung auf das Thema „Gewalt“. Gutmann vertritt wie Manfred Josuttis eine energetische Seelsorgetheorie und bezieht sich auch des Öfteren auf Josuttis, aber keinesfalls nur auf dessen neuere Schriften. „Seelsorge ist im Kern eine religiöse Methode, die mit energetischen Prozessen umgeht und ihnen eine heilsame Richtung verleihen will.“ (S. 9). Gegen Ende des Buches verlagert sich der Schwerpunkt der Konzeption allerdings ein wenig, was im Folgenden zu zeigen ist. In die Abhandlungen eingefügt sind passende biblische Meditationen, die zwar nicht direkt mit dem Diskurs verknüpft sind, aber dessen Fragestellungen durchaus aufgreifen oder vorbereiten. So wird z.B. die Noahgeschichte vom Ende her gelesen, was Noah als Person nicht in einem sehr guten Licht erscheinen lässt. „Das Glück des Lebens wäre immer dann erfahrbar, wenn Menschen nicht schweigen wie Noah, wenn andere Menschen umkommen und zugrunde gehen.“ (S. 16). Die Jakobsgeschichte vom Kampf am Jabbock (Genesis 32) zeigt einige Aspekte im Umgang mit einer Krise, wie sie sich z.B. in den Erfahrungen der Bibliodrama - Arbeit darstellt: 1. „Die Krise muss sein.“ 2. „Es gibt keinen linearen Weg vom Kampf zum Segen.“ 3. Das Ergebnis ist „Zusage einer neuen Identität“ (S. 44). Auch das Jonabuch wird entsprechend einer neuen Perspektive unterzogen, denn „Ninive ist faktisch ein Trümmerhaufen. Die rettende Umkehr hat nicht stattgefunden. Das Wunder ist nicht eingetreten.“ (S. 104) Das heißt für die Kirche: „Starrt nicht auf den Trümmerhaufen kirchlicher Finanzierungskrisen und gesellschaftlicher Knappheit, lebt aber die Fülle des Geschenkes Gottes, seid solidarisch mit den Entrechteten, tut das zum Leben notwendige, und ihr könnt euch darauf verlassen: „Gott wird das Werk seiner Hände nicht fahren lassen.“ (S. 104)

Schon diese Beispiele zeigen, dass für Hans-Martin Gutmann Seelsorge nicht als isoliertes Geschehen verstanden werden kann. „Das Gesicht einer evangelischen Seelsorge kann nicht unabhängig vom Leben und Sterben des Jesus von Nazareth bestimmt werden; die biblischen Erzähltraditionen geben eine Gestaltvorgabe für die Praxis einer evangelischen Seelsorge heute.“ (S. 135) Dieser Rückgriff auf die Haltung einer eher kirchlich orientierten Seelsorgeverständnisses verabschiedet sich aber nicht von den Grundgedanken der therapeutischen, systemischen und energetischen Seelsorge, ja geht sogar zurück auf die Grundansätze der Gestalttherapie. Der Bezug zur Geschichte der evangelischen Seelsorgelehre unter Einbeziehung Luthers zeigt, dass Gutmanns Buch vom Anspruch her ein Lehrbuch ist, was leider weder aus dem Titel noch aus dem Untertitel des Buches hervorgeht. Bezeichnend dafür ist z. B. der Hinweis auf die frühe Publikation von Manfred Josuttis „Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion. 4. Auflage 1988: „Wer ist der/die Ratsuchende am Ende, wer ist sie/er am Beginn, wer ist er/sie im Verlauf des seelsorgerlichen Gesprächs?“ (Zitat Josuttis, S. 23). Seelsorge ist mehr als eine Methode, z.B. des Gesprächs; sie ist eine „evangelische Haltung“ (S. 38). Auch hierin würdigt Gutmann Manfred Josuttis und zeigt mit einem seiner Beiträge aus dem Jahr 2000, dass dieser sich doch treuer geblieben ist, als manche Kritiker seines neueren Ansatzes dieses wahrhaben wollen: „Ohnmächtige werden handlungsfähig, Gehemmte aktiviert, Verfemte aufgewertet, Betriebsame gelassen.“ (Zitat Josuttis, S. 39) In diesen ganzheitliche Ansatz integriert er nun die Vorstellung Johann Galtungs von der strukturellen Gewalt (siehe z.B. S. 45). Ganz in Parallele zur analytischen Psychologie, die sich an innerseelischen Konflikten orientiert, greift dieser Ansatz nun die Lebenskonflikte im Alltag der Menschen auf. Auch hier taucht wieder ein Bezug zu Josuttis auf: Welche Not soll gewendet werden? „Seelsorge ist Praxis des Evangeliums … mit dem Ziel der Befreiung des Menschen aus der konkreten Not seiner jeweiligen Lebensverhältnisse…“ (Zitat Josuttis, S.37f) In diesem Ansatz wird Seelsorge zweifelsohne immer die Themen ethischer Reflexion auf der Tagesordnung halten, wie es schon hier der Bezug zum Gewaltbegriff Galtungs zeigt. Im Rückgriff auf Henning Luther in der Interpretation seines Nachfolgers Kristian Fechtner stellt Gutmann die Stärkung der Subjektivität in den Vordergrund. Der dritte biblische Teil zu Psalm 22 und Hiob zeigt, dass die „moralische Ordnung“ auch als Raum verstanden werden kann, in den hinein sich Subjektivität entfaltet. Trotzdem muss man sich fragen, so die Fragestellung nach „Seelsorge als Ermächtigung zur Subjektivität?“ nicht zuletzt offen bleibt (Überschrift Kapitel 2.3 ab S. 72)

Außerdem ist zu fragen, ob der Wechsel zwischen diskursiver und meditativer Sprache in diesem Buch über Seelsorge ein Hinweis darauf ist,  dass auch im seelsorgerlichen Kontakt sowohl die kommunikative Ebene als auch die Ebene religiöser Symbolsprache einander ergänzen. Dies zeigt sich in dem Kapitel, in dem Hans-Martin Gutmann gezielt nach dem reformatorischen Seelsorgeverständnis fragt. Der Bezug auf Jesus und das Neue Testament zeigt besonders deutlich energetische Aspekte in den „Wirklichkeit schaffenden Sprechakte“ Jesu und in der Wirkung der metaphorischen Sprache der Bibel (s. S. 136). Auch die Analyse der Paulusbriefe zeigt das Evangelium als ein Machtgeschehen. „Die seelsorgerliche Perspektive ist … (von daher) die Eröffnung eines ‚Flusses’, durch den zerbrochene Beziehung zu anderen Menschen, aber auch zu sich selber wieder lebendig wird … Gott will die Beziehung zu den Menschen und … er eröffnet neue Beziehung auch gerade dann, wenn diese von Seiten der Menschen abgebrochen und zerstört ist.“ (S. 147)

Die nähere Ausführung des Seelsorgekonzepts dieser „Fluss – Bewegung“ (S. 153) greift erneut auf die Gewalt – Thematik zurück: „Die Flussrichtung im Abfließen zerstörerischer Macht und in der Herbeirufung heilsamer Lebensmacht gibt die Richtung für die Arbeit der Alltagsseelsorge an.“ (S. 163f). Hierin lässt Gutmann schon erkennen, dass zur psychotherapeutischen Grundlage der Seelsorge, die er keinesfalls aufzugeben gedenkt, die Anwendung „religiöser Methoden“ (S. 164) hinzukommt, womit in erster Linie das Gebet gemeint ist. Was die Anwendung einer „Kreuzesgeste auf der Brust“ im Zusammenhang mit „einer doxologischen Formel“ genau für die Seelsorge bedeuten soll, lässt der Verfasser allerdings offen (S. 165). Die Anwendung religiöser Methoden gehört jetzt auch  zur „klientenzentrierten Gesprächsführung“, die als „Wahrnehmungstraining und als Unterstützung einer wertschätzenden Haltung“ (S.181) benötigt wird. Zusätzlich werden in diesem Zusammenhang Erkenntnisse der systemischen Familientherapie (S. 182) und der Transaktionsanalyse (S. 189f) als Methoden des „Abweisens und Zurücklassens“ eingeführt (Überschrift Kapitel 4.3 ab S.181). Die Gestalttherapie nach Perls ist hilfreich als Verstärkung der Konzentration auf die aktuelle Lebensführung in den „alltäglichen Lebensvollzügen“ (S. 208). Außerdem werden darin Möglichkeiten der verbesserten Selbstwahrnehmung des Seelsorgers/ der Seelsorgerin geschildert. Die Anwendung religiöser Praxis scheint jetzt doch unter dem Vorbehalt zu stehen, ob sie therapeutisch ratsam sei: „Es muss für jede seelsorgerliche Gesprächssituation neu wahrgenommen werden, ob es für diese beteiligten Menschen und für diese zu bearbeitenden Konfliktsituation wirklich hilfreich ist, ‚die Bibel ins Gespräch zu bringen’“. (S. 203)

Bereits die vorletzte biblische Meditation über Elia bereitet die Behandlung der Folgen des 11.09.2001 vor: „Es gibt einen anderen Weg als die Vernichtung des Anderen.“ (S. 215) Das Thema „Gewalt“ wird nun weiter entfaltet. Gutmann verfolgt die Strukturen der Gewalt bis hinein in die kritische Analyse der Auswirkungen von Ökonomie und Markt. Auch die Auswirkung der Gewalt in der Darstellung der Medien wird behandelt. Gerade auf diesem Hintergrund hat der Religionsunterricht an den Schulen auch eine seelsorgerliche Dimension. (s. S. 278), genauso wie öffentliche kirchliche Erklärungen, die zu einer „Kultur der Wertschätzung“ beitragen (S. 281). Alltagsseelsorge kann also nicht allein über die Frage nach den Methoden oder der Inhalte behandelt werden, sondern spürt den gesellschaftlichen Bedingungen nach, die Menschen verunsichern, kränken oder entmutigen können. Hierin sehe ich die Stärke dieser Seelsorgekonzeption, die den Alltag der Menschen ernst nimmt: „Die Grundform der Seelsorge, auch im Bereich der Wahrnehmung und Vertreibung von Gewalt in alltäglichen Interaktionsfeldern liegt im Zuhören und im Gespräch, das anders als bei Interventionen in akuten Gewaltkrisen meist von dem/der Ratsuchenden eröffnet wird. Die Kompetenz der Seelsorger/innen zeigt sich vor allem in einer Haltung des offenen Wahrnehmung für eine Situation aus der Perspektive des/der Betroffenen und in der Wertschätzung für die beteiligten Menschen. Dazu gehört die Bereitschaft und auch die Fähigkeit, sich Zeit zu nehmen.“ (S. 282) Die letzte biblische Meditation über das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg schließt das gesamte Buch ab mit der Beschreibung von Sehnsucht: „Manchmal spüre ich eine Sehnsucht, die schon so lange verschüttet ist, dass ich mich manchmal kaum noch an die erinnern kann. Die Sehnsucht, dass Zeit mehr sein könnte als Geld, nämlich Geschenk zum Leben. Die Sehnsucht, dass mein Nachbar mehr sein möchte als mein Feind oder Konkurrent. Die Sehnsucht, dass sich der Lauf der Welt danach ausrichten ließe, dass für alle Menschen gesorgt würde. Aber wie kann diese Sehnsucht unseren Alltag verändern?“ (S. 293)

Die Antwort auf die Schlussfrage bleibt hier zwar offen, liegt aber auf der Hand: durch eine sich mehr und mehr ausbreitende seelsorgerliche Haltung. Durch die Einbeziehung konkreter Alltagserfahrungen und den gesellschaftlichen Hintergrund verliert die Seelsorgekonzeption zwar auch ein wenig an methodischer Klarheit und wirkt ein wenig schillernd. Ausschlaggebend ist letztlich allein die Haltung. Der methodische Zugang ist variabel. Seelsorge ist und bleibt auch darin klientenzentriert, als allein vom Gegenüber her deutlich wird, ob und wie z. B. religiöse oder therapeutische Methoden zum Tragen kommen.


© Christoph Fleischer 2006
Magazin für Theologie und Ästhetik 44/2006
https://www.theomag.de/44/cf4.htm

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