Dagegen ist für den Philosophen Wilhelm Weischedel das Entwerfen von Bildern ein Grundgeschehen im Dasein des Menschen und ohne Bilder gibt es für den Menschen keine Welt. Geschichte setzt nach Weischedel also wesentlich früher ein und zwar mit den frühesten menschlichen Bildern, die wir heute etwa mit den (allerdings zeitlich umstrittenen) Felsmalereien in der Höhle von Chauvet auf die Zeit um 31.500 vor Christus ansetzen.[2] Dem Primat der schriftlichen Überlieferung bei Leopold von Ranke wird bei Wilhelm Weischedel der Primat des Bildes entgegengesetzt.
Von den ersten Bildern trennen uns 30.000 Jahre, aber die Bildproduktion der Menschen ist nicht an ihr Ende gekommen, ganz im Gegenteil, seit der Moderne werden wir von Bildern überschüttet. Vermuten kann man, dass ein heutiger Mensch an einem Tag mehr "künstliche Bilder" sieht, als ein mittelalterlicher in seinem ganzen Leben. Gleichzeitig scheint etwas von der Intensität, die frühere Bilder auszeichnete, verloren zu gehen. Das große einzelne Bild, das sich dem schnellen Konsum verweigert, tritt zunehmend in den Hintergrund. Dabei können Bilder und hier allen voran jene Bilder, die wir als Kunstwerke bezeichnen mehr sein, als nur optische Garnierung, Illustration oder mediale Wegwerfware. Das Lesen, Deuten und Genießen von jenen Bildern, die wir über das rein visuelle Erscheinen hinaus Kunst nennen, muss heute neu gelernt werden gerade auch in religionspädagogischen Kontexten. Diese Annäherung an Bildende Kunst der Vergangenheit wie der Gegenwart ist auch ein Beitrag zur intensiveren Lektüre des Bilds der Welt in der allgemeinen Bilderwelt.
Papst Gregor der Große nennt die zu seiner Zeit bereits weit verbreiteten Bildprogramme um das Jahr 600 einen Ersatz der biblischen Texte für diejenigen, die nicht lesen können. Zwar sind die Bilder so dem Wort untergeordnet, aber sie vermögen Dinge und Ereignisse unmittelbar anschaulich werden zu lassen, ja mehr noch: sie sind nicht nur Symbol und Zeichen, sondern unmittelbare Präsenz. Erst mit der Erfindung der Fotografie im 19. Jahrhundert gerät das Paradigma der nachahmenden Darstellung der Welt ins Wanken und wird durch andere Orientierungen ersetzt. Dafür scheint nun die Fotografie die dauerhafte Erfassung der Wirklichkeit zu ermöglichen. Aber selbst noch im Zeitalter der Digitalfotografie bleibt jener Vorgang geheimnisvoll, ja geradezu magisch, der sich im Innern der Kamera abspielt: die Umwandlung in ein Bild. Denn dort verwandelt sich die dreidimensionale menschliche Lebenswelt in Flächen, Formen, Muster und Grauwerte oder Farben, die wir dann wieder in der Wahrnehmung zu einer fingierten dreidimensionalen Lebenswelt zusammensetzen. Fotografien sind zugleich aber auch subjektive Standpunkte, zu einem Bild gestaltete Welt und manchmal auch eine Darstellung der dem Medium impliziten technischen Möglichkeiten. Und: Diese Bilder sind oft stärker als die Wirklichkeit; sie führen ein Eigenleben als Verdichtung: Rekreation von Wirklichkeit und Kreation von Bildwirklichkeit. Der Schriftsteller Elias Canetti hat in seinem Buch „Die Fackel im Ohr“ die produktive Leistung von Bildern so beschrieben: "ein Weg zur Wirklichkeit geht über Bilder. Ich glaube nicht, dass es einen besseren Weg gibt. Man hält sich an das, was sich nicht verändert und schöpft damit das immer Veränderliche aus. Bilder sind Netze, was auf ihnen erscheint ist der haltbare Fang. Manches entschlüpft und manches verfault, doch man versucht es wieder, man trägt die Netze mit sich herum, wirft sie aus und sie stärken sich an ihren Fängen". Die Bilder des Künstlers und Fotografen Wilfred Neuse sind derartige Fänge aus den von ihm ausgeworfenen fotografischen und künstlerischen Netzen Fänge, die uns ebenso irritieren, bewegen wie stärken sollen. Wilfried Neuse hat Visuelle Kommunikation an der Peter Behrens Werkkunstschule Düsseldorf studiert und betreibt seit 1976 eine „intensive Auseinandersetzung mit dem Medium Photographie durch Abstraktion und Fragmentierung der Wirklichkeit, Eingriff, Erweiterung und Negierung gewohnter Seh- und Sichtweisen“.[5] Künstlerische Schwerpunkte und Techniken sind bei ihm Collagen, Tableaus, Serigraphie, Installationen, Objekte, Konzepte und Aktionen.
Ich erwähne diese technischen Details nach einem Lexikonartikel der wikipedia deshalb so ausführlich, weil all dies Verfahren sind, die auch Wilfred Neuse in seinen Arbeiten anwendet. Und er geht darüber hinaus, da er nicht zum Teil nicht nur in den Produktionsprozess der Bilder gestalterisch eingreift, sondern auch mangelhaftes oder überaltertes Filmmaterial als Gestaltungsmittel nutzt, wodurch sich unbelichtete Bildteile ergeben, die sich jeder Abbildfunktion verweigern. Oder Neuse setzt das Polaroid großer Hitzeeinwirkung aus, worauf es reagiert und Form und Gestalt ändert. Wilfred Neuse tritt mit anderen Worten in eine konzentrierte Auseinandersetzung mit dem Material. Die Auswahl des Materials, seine Verwendung und die Beschränkung in seiner Anwendung, ist, darauf hat Theodor W. Adorno in der Ästhetischen Theorie hingewiesen, ein wesentliches Moment der künstlerischen Produktion. Wilfried Neuse muss daher jedes verwendet Material in seinen spezifischen Eigenschaften erfassen und bearbeiten. Das Polaroid gibt eben nicht nur wieder, sondern ist seinerseits gestaltbildendes und das heißt: bearbeitbares Material. Auch der dabei in Gebrauch genommene Zufall will bearbeitet und gestaltet sein. Neuse belässt es aber nicht bei zufälligen oder von ihm nicht beeinflussbaren Veränderungen des Materials, er greift in den Prozess der Bildwerdung auch direkt, um nicht zu sagen: gewaltsam ein. Das kann so poetisch geschehen, wie es auf seinem Triptychon „Little heros“ zu sehen ist, aber es kann auch härter und gestaltüberlagend sein, ganz im Sinne dessen, was Bruno Latour als „Iconoclash“ bezeichnet hat: Wir können "Iconoclash definieren als das, was eintritt, wenn Ungewissheit über die genaue Rolle der Hand besteht, die bei der Produktion eines Mittlers am Werk ist: Ist es eine Hand mit einem Hammer, die im Begriff ist, zu denunzieren, zu entlarven, aufzudecken, bloßzustellen, zu enttäuschen, zu entzaubern, Illusionen aufzulösen, Luft rauszulassen? Oder ist es im Gegenteil eine achtsame und vorsichtige Hand, mit offener Handfläche, wie um Wahrheit und Heiligkeit zu ergreifen, herauszuholen, hervorzulocken, in Empfang zu nehmen, hervorzubringen, aufzunehmen, aufrechtzuerhalten, zu sammeln?" Beide Momente lassen sich im Werk von Wilfried Neuse beobachten. Wenn er etwa bei einigen Arbeiten mit einem scharfen Gegenstand in die noch nicht vollständig ausgehärtete Emulsion des frischen Polaroids kratzt, dann entsteht ein neues, ein anderes, ein malerisches Bild, wie Jutta Saum schreibt: “es entstehen farbige Strukturen, die eher an Gemälde als an Fotos erinnern und eben wie im Bild ein Eigenleben entwickeln, bei der sie sich in keiner Weise mehr an die Form binden, aus der sie hervorgegangen sind.“[6]
Eine andere Gruppe von Arbeiten von Wilfred Neuse sind die faszinierenden Objektkästen mit Arbeiten wie „What about beauty?“ oder „Out of the blue“. Sie erzählen Geschichten von Politik und Gewalt, von Natur und Vergänglichkeit, von Erinnerung und Alltag. Es sind Geschichten, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen, sondern enträtselt werden wollen. Sie spielen mit bekannten und mit unbekannten Bildelementen, sie verknüpfen und trennen, sie machen das Fremde vertraut und das Vertraute fremd. „Alle Kunstwerke, und Kunst insgesamt, sind Rätsel … Dass Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt man den Rätselcharakter“ sagt Adorno und fährt fort: „Nicht durch höhere Vollkommenheit scheiden sich die Kunstwerke vom fehlbaren Seienden, sondern gleich dem Feuerwerk dadurch, dass sie aufstrahlend zur ausdrückenden Erscheinung sich aktualisieren. Sie sind nicht allein das Andere der Empirie: alles in ihnen wird ein Anderes.“ Das gilt auch für die Arbeiten von Wilfried Neuse. Alterität wird in seinen Arbeiten nicht nur optisch, sondern geradezu physisch sichtbar. Alterität ist dabei nicht notwendig die Sehnsucht nach dem ganz Anderen, sondern kann mit Jacques Lacan auch verstanden werden als das Andere des Subjekts, das Nicht-Ich, das dieses Subjekt jedoch immer schon strukturiert und ausrichtet. So muss Alterität als der Ort verstanden werden, an dem das Ich, das spricht, schafft, fotografiert und gestaltet, sich überhaupt konstituiert. Einige Arbeiten von Wilfred Neuse aus dem Jahr 2003 reflektieren Eindrücke und Erinnerungen aus und an Israel, die er während seines zweimonatigen Arbeitsaufenthaltes im Rahmen des deutsch-israelischen Künstleraustausches der Landeshauptstadt Düsseldorf im israelischen Künstlerdorf Ein Hod gewonnen hat. Ein Hod ist ein Ort, in dem neue Ideen ausprobiert, diskutiert und entwickelt werden. Zu den Folgen dieser Arbeiten gehört auch die folgende Grafik „Crossing Jordan“, die auf einer Arbeit zum aktuellen Zeitgeschehen in Israel aufbaut. Entstanden ist sie angesichts der mit jedem Krieg und jeder militärischen Auseinandersetzung sich abzeichnenden Unausweichlichkeit des gewaltsamen Todes für die Soldatinnen und Soldaten „Crossing Jordan“ erinnert zugleich auch wenn das vom Künstler ursprünglich nicht intendiert war - an die gleichnamige Fernsehserie „Crossing Jordan“ mit der Pathologin Dr. Jordan Cavanaugh (gespielt von Jill Hennessy), bei der es um nicht geklärte Verbrechen und die Verbrechensaufklärung durch die Gerichtsmedizin geht. Wilfred Neuse dagegen hatte erkennbar die konkrete komplexe Situation in Israel vor Augen, als er sein Kunstwerk geschaffen hat. „The life of an eighteen-year-old girl in
Vor einem dreifach wiederholten blutroten Hintergrund blicken wir auf vier Paar Soldatenschuhe bzw. -stiefel, die im Marschschritt die rote Lache durchschreiten. Es handelt sich um zwei Paar Männer- und zwei Paar Frauenschuhe. Die blutroten „Tafeln“ werden ursprünglich aus drei übereineinander gelegten Polaroids gebildet. Die marschierenden Füße sind darüber gelegt. Ebenfalls darüber gelegt ist eine geometrische Kontruktion zwei sich kreuzender Linien bzw. Rechtecke, die mit blauer Farbe und Schriftzeichen aus עברית / Iwrit gefüllt sind. Die Schriftzüge stehen auf dem Kopf und sind kaum bzw. nicht entzifferbar. Sie bilden eine Spur, der man nachgehen kann.
Mit den Bildern aus der Höhle von Chauvet verbindet Neuses Kunst-Stück die Beschreibung eines Übergangs, die Einführung in die (gar nicht so schöne) Realität der Welt. Mit den Bildern von Zeuxis und Parrhasius geht es zusammen in dem Bestreben, ein Bild zu schaffen, das die Realität besser erfasst, als sie das Auge erfassen kann. Mit der Fernsehserie „Crossing Jordan“ geht es um den sinnlosen Tod und die einsetzende Rationalität angesichts des Todes. Aber mit dem Tod schließt das Bild nicht. Daher möchte ich - nicht zuletzt weil es so häufig falsch beschrieben wird abschließend die biblische Genese des „über den Jordan gehen“ nachtragen: Der große jüdische Prophet Elia befindet sich auf der Wanderschaft mit seinem Schüler Elisa. Und er soll vom HERRN in den Himmel geholt werden. Und weil Elia das seinem Schüler nicht sagen möchte, sagt er zu ihm: Ich gehe nach Bethel! Aber Elisa kümmert das nicht und er geht mit ihm. Dann sagt Elia: Ich gehe nach Jericho! Und wieder kümmert Elisa das nicht und begleitet ihn weiterhin. Da sagt Elia schließlich: Ich muss über den Jordan. Und dann weiß Elisa, dass die Trennung von Elia unausweichlich ist. So entstand das Sprichwort vom „über den Jordan gehen“. Es ist ein biblischer Begriff weniger des Todes, als vielmehr der Solidarität über den Tod hinaus. Er ist kunstgeschichtlich verbunden mit der Himmelfahrt des Elia und der Übertragung seiner prophetischen Vollmachten an seinen Schüler Elisa. Elisa kehrt über den Jordan zurück. Die Geschichte geht weiter. Das ist auch etwas Hoffnungsvolles. Anmerkungen
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