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Magazin für Theologie und Ästhetik


Hängematte

Eine kleine Schaukelsequenz aus einem besonderen Kirchturm

für Dietrich Zilleßen zum Geburtstag

Benita Joswig

Die Zeit - die Uhrzeit - unterliegt einer fiktiven Einteilung. Tag und Nacht werden in Sekunde, Minute und Stunde gefasst. Sie schlägt und läutet, haftet am Puls oder hängt an den Türmen in den Städten. Die Uhrzeit ist zahm und dient - gesetzt den Fall - sie bleibt nicht stehen.

Ihr Takt verspricht eintönig und verfolgt sich selbst. Die Fiktionen sind unbändig und nicht im Takt. Die Herzen klopfen. Der Atem strömt und fließt, stockt und schwitzt.

Hängematte: die eigene Schwere bewegt.

Der Lutherkirchplatz in Kassel wird von den Menschen, die ihn passieren auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkauf in die naheliegende Fußgängerzone oder weiß Gott wohin durchkreuzt und belebt. Sie nehmen aber auch auf den dort stehenden Bänken Platz und geben dem Ort neben seiner Geschäftigkeit seine gebürtige Ruhe zurück.

Schaut man nach oben ragt der neugotische Turm wie eine spitze Gebirgssteilwand in den Himmel. Ein Kopf mit spitzen Hut, dem der Körper fehlt, eine Art Segel, dem das Schiff genommen wurde. In der  Bombennacht 1943 blieb es von dem nächtlichem Bombenhagel  auch nicht verschont.

Auf mittlerer Höhe thronte bis vor wenigen Jahren das alte Uhrwerk für die Glockenschläge. Verstaubt und eingerostet hatte es an Bedeutung verloren. Der Krieg stoppte das Werk, die Glocken wurden durch den Turm abgeseilt, ein Loch wurde durch die Turmdecke geschlagen und die klingende Zeit wurde in Sicherheit vor den Bomben gebracht.

Das Loch ist geblieben, die Glocken werden heutzutage automatisch betrieben, der Weg ins einstige Kirchenschiff wurde vermauert. Dieser Ort ist ein Ort der Zeit, der geschundenen, der zerstörten, der warmen und kalten Nächte, der Lebenden und der Toten,  ein Ort des Wechsels, der Bewegung und des Anhaltens. Geblieben sind die Falken, die in der Turmspitze im Frühjahr seit seiner Erbauung nisten und die Jungen bestehen von dort aus ihre ersten Flugproben.

So ist es auch mit der Kunst, die ich immer wieder erprobe an Orten der Peripherie oder mitten im Zentrum. Sie ermöglicht einen freien Fall, der ungefährlich ist, oben und unten verkehrt und die Zeit schaukeln lässt. Der Lutherkirchturm bot sich wunderbar dafür an.

Sein Loch im Innern habe ich 1999 mit einer Filmleinwand bespannt und darauf einen Film projiziert. Mit leicht nach oben abgewinkelten Kopf wurde man im Turminnern in schwindelnder Höhe Menschen gewahr, die seelenruhig oder mit allem Schwung im Liegen schaukelten.

Ich habe sie mitten aus ihren Alltäglichkeiten an einem Samstagmorgen im Sommer  herausgerufen und gefragt, ob Sie sich - mit Blick auf den Kirchturm -  in die zwischen zwei grünen Ahornbäumen gespannte Hängematte legen wollen. Einfach so, jetzt in diesem Moment auf dem Lutherkirchplatz. Ganz unabhängig vom Alter nahmen die Menschen das Angebot an und legten sich in die gespannte Matte. Jede und jeder nach seinem und ihrem Rhythmus begann sich in Bewegung zu setzen. Eine Unterbrechung ungewöhnlicher Art, ganzkörperlich und unabhängig von vorgegebenen Zeittakten. Die Menschen sind eingestiegen in dieses schaukelnde Schiff der Zeit und haben dem Turm für Momente die Bewegung seiner Glocken zurückgegeben und der zerstörten Kirche ihren Körper.

In diesem Sinne wurde der Lutherkirchplatz dann auch verändert. Die Kirche des Landes und vor Ort hat in Zusammenarbeit mit einem Förderverein des Turmes seit 2003 einen bewegten Ort geschaffen, an dem heute Diakonie, Kunst, Kultur und Wirtlichkeit zusammenhängen und dem tot geglaubten Raum ein Stück Himmel zurückgaben.


© Benita Joswig 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 45/2007
https://www.theomag.de/45/bj1.htm