Seit es die Billigflieger gibt, klatscht niemand mehr bei der Flugzeuglandung. Geklatscht wurde ja auch nur in den Maschinen der Charterflüge - bei den Linienflügen zuckten nach der Landung die fluggewohnten Geschäftsreisenden hinter ihrem Handelsblatt nicht mit der Wimper. Aber inzwischen ist wohl jeder, der überhaupt fliegt, schon so oft geflogen, dass man das eigentlich nette Ritual zu applaudieren und seine Dankbarkeit über die geglückte Reise dem Piloten (oder wem?) „irgendwie“ mitzuteilen, aufgegeben hat. Dass nicht mehr geklatscht wird, wäre mir eigentlich gar nicht aufgefallen, wenn mich das Klatschen dann nicht an unerwartet anderer Stelle der Tourismusbranche wieder eingeholt hätte. Nach geglückter Landung (ohne Applaus) auf der griechischen Trauminsel Santorini nahmen wir an der rituellen Begrüßung durch die Angestellte eines großen Reiseanbieters teil. Nicole warb dabei auch für die organisierten Busreisen über die Insel, die ich in anderen Urlauben bis dahin immer nur ironisch-distanziert übergangen hatte. Schließlich erkundet der wahre Tourist (der als solcher tunlichst nicht zu erkennen ist, geschweige denn auffällt) sein Urlaubsziel auf eigene Faust. Diesmal erschien uns als Reisenden mit Säugling aber diese Art der Inselerkundung sehr komfortabel. Endgültig überzeugt wurden wir jedoch daran teilzunehmen, als Nicole uns darauf hinwies, dass beim Stopp in Oia (sprich Ija, nicht etwa Eu-a oder Aua oder dergleichen ;-) zum berühmten Sonnenuntergang die Touristen applaudieren. Das mussten wir selbst erleben! Klatschende Touristen! Enthemmt fromme Urlauber! Frenetisch begeisterte Reisende! Deutsche, Engländer, Koreaner, Amerikaner und Griechen selig vereint! Ein Pfingstfest! Santorini, das wahre Patmos! Um es kurz zu sagen: Wir kamen zu spät, die Sonne war an diesem Abend schon untergegangen. Der Reisebus hatte rechtzeitig gestoppt und die Gesellschaft nach Oia gespült, aber wir waren wegen anhaltendem Regens und eines leichten Hungerastes in einer Taverne gelandet, in der wir uns zu lange an Tzaziki und Tarama aufgehalten hatten. Nach dem Regen eilten wir schließlich kurz vor 19 Uhr doch noch durch Oias Gassen, um einen komfortablen Aussichtspunkt zu erreichen. Jemand aus der Busreisegruppe kam uns auf halbem Wege entgegen: „Sie brauchen sich gar nicht mehr zu beeilen, es ist schon alles vorbei.“ Wir wollten nur wissen: „Haben die Leute beim Sonnenuntergang geklatscht?“ „Natürlich!“ kam prompt die Antwort. Dann bogen wir um eine Ecke, und da lag das Meer vor uns, noch immer eingehüllt in einen unglaublich kitschigen, wunderschönen rosa Glanz. Die rote Sonne war in der Tat bereits im Meer versunken, aber der Zauber dieser einmaligen Abendstimmung hing noch in der Luft. Zahlreiche Touristen waren immer noch dabei zu fotografieren. Davon machte ich dann meinerseits einige Fotos. Von einem Mitreisenden erbaten wir uns später im Bus die „echten“ Sonnenuntergangsfotos, die wir freundlicherweise nach hause per email gesendet bekamen. So bekamen wir nach dem Urlaub den Sonnenuntergang von Oia doch noch zu Gesicht! Dass in Oia beim Untergang der Sonne geklatscht wird, scheint mir ein bemerkenswertes Ritual zu sein. Vermutlich wird nur während der Urlaubssaison geklatscht, und nur von Urlaubern und solchen Einheimischen, die mit dem Tourismus zu tun haben. Doch wofür genau wird hier eigentlich applaudiert? Es wird applaudiert für ein großartiges Himmelsgemälde, für eine bühnenreife Vorstellung, für das theatrum mundi. Jeden Abend geht die Sonne auch zuhause unter - ist es wirklich nötig, dies zu erwähnen?! - aber im Urlaub erscheint dieses alltägliche Phänomen als außeralltägliches Schauspiel, als Drama, für das man sich endlich Zeit nehmen kann. Der Sonnenuntergang wird in Oia zu einem Bühnenstück, das jeden Abend gespielt und brav am Ende beklatscht wird. An dem Abend, den wir in Oia verbrachten, gingen die Wolken genau im rechten Moment noch einmal wie ein Vorhang des Himmels auf. Die Sonne guckte hervor, schob sich in den schmalen Wolkenspalt, und brachte ein bühnenreifes Wolkenschieberballet auf die Bühne, in rosa, hellblau, brennend rot, purpur. Dann alle ab. Wem huldigen die Touristen in Oia, wer wird hier bewundert? Wer sind die Schauspieler, wer der Regisseur und wer Verfasser des Stückes? Und, ist es eine Tragödie oder eine Kommödie? Vielleicht beklatschen die Touristen ihr Leben im Angesichte dieser farbenprächtigen Macht. Sie wundern sich und bringen einen Lobpreis dar. Dank für ein gelungenes Lebensdrama, das zur Entspannung auf dieser Insel angekommen ist. Vielleicht ist es aber auch eine Art Trauerritual, ein Abschiednehmen vom Tag, eine Erinnerung an die eigene Endlichkeit. Dann feuern die applaudierenden Hände die Sonne an, immer weiter zu sinken, und bitte auch am nächsten Abend in beschaulicher Schönheit hier in Oia für sie da zu sein. So klatscht man in die ankommende Dunkelheit hinein und gegen sie an. Vielleicht vertreibt kollektives Klatschen die Angst. Gemeinsam erwirbt man in Oia das Gefühl, Teil eines faszinierenden und furchterregendem Ganzen zu sein. Dieses faszinosum et tremendum ist in Oia eine Mischung aus Dankbarkeit für die Schönheit der Natur und dem Schauder über die überwältigenden Dimensionen des Alls. Der Sonnenuntergang wird in Oia zum Kunstwerk. Aufgeführt wird das Kunst-Stück „Die Einzigartigkeit des Sonnenuntergangs in Oia auf der Insel Santorini“. Über Autor und Regisseur (vermutlich identisch) und seinen Darsteller (Sol Helios) sind Santorinis Pauschaltouristen schlicht begeistert. So wie ich, wenn ich wieder sicher gelandet bin zuhause oder zum Absacker in der nächsten Taverne. Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang sei gelobet der Name des Herrn!
(Fotos: Bettina Wittke, Tobias Stindl)
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