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Magazin für Theologie und Ästhetik


Ästhetik und Empirie

Empirische Zugänge zum religionspädagogischen Ansatz Dietrich Zilleßens

Carsten Gennerich

Religionspädagogisches Arbeiten ist in der Gegenwart doppelt herausgefordert. Zum einen stellen fundamentalistische Versuche der Identitätssicherung eine stete Versuchung dar (Dressler, 1995; Zilleßen, 1994b, 2001a). Zum anderen hat es der Religionsunterricht zum Teil mit Schülerinnen und Schüler zu tun, die nur unzureichend von gängigen Formen des Religionsunterrichts angesprochen werden bzw. aufgrund ihrer Werthaltungen dem Religionsunterricht „fremd“ gegenüber stehen (Gennerich et al., im Druck). Bezogen auf die erstgenannte Herausforderung obliegt es dem Religionsunterricht, angemessen Formen der Unsicherheitsbearbeitung zu kultivieren. Bezogen auf die zweite Herausforderung stellt sich die Frage, wie Religionspädagog/innen Zugänge zu den ihnen fremden Schüler/innen finden können. Bezogen auf beide Problemaspekte bietet der religionspädagogische Ansatz Dietrich Zilleßens (1998, 2004) mögliche Perspektiven, die im Folgenden mit einem empirischen Blick auf diesen Ansatz erkundet werden sollen.

1. Das Plädoyer für eine experimentell und ästhetisch orientierte Religionspädagogik

Zilleßen (1997a, 1998, 2004) plädiert für eine religionspädagogische Haltung, die durch entschiedene Selbst- und Weltdeutungen auf der einen Seite geprägt ist und zugleich diese immer wieder neu kritisch hinterfragt und zu verändern bereit ist. Eine solche experimentell und ästhetisch orientierte Haltung sei deswegen besonders angemessen, weil sie der zweideutigen Struktur des Lebens korrespondiert und unhaltbare „fundamentalistische“ Versuche der Vereindeutigung vermeidet. Entsprechend sollten in theologischer Hinsicht etwa die Gottesbilder „experimentell“ bleiben, denn auch sie teilen das Moment der unausweichlichen Unsicherheit als Strukturmerkmal der Welterfahrung (Zilleßen, 1997a, S. 237). In ethischer Hinsicht plädiert Zilleßen für eine Haltung, die Entschiedenheit und Relativismus miteinander balanciert („schwankend und entschieden“, 1998, S. 113). Konkret tritt Zilleßen selbst auf der einen Seite für Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Bewahrung der Schöpfung (1997a), Emanzipation (2001a) und Universalismus (2001b) ein. Auf der anderen Seite zielt er auf ein Bewusstsein für die Relativität von positionellen Entscheidungen in Abhängigkeit von Kontexten (Zilleßen, 2001b) und weist auf die Gefahr von Fundamentalismen auch in Bezug auf universalistische Werte hin, wenn die Achtung vor dem Fremden verloren geht (Zilleßen, 2001b).

Von dieser Orientierung ausgehend, plädiert Zilleßen dafür, dass der Religionsunterricht einen angemessenen Umgang mit der strukturellen Unsicherheit des Lebens fördern und einüben sollte. Besonders geeignet erscheinen ihm kreative und erfahrungsorientierte Methoden, mit denen Strukturen des Lebens im Unterricht simuliert werden können und Schüler/innen durch neue Selbsterfahrungen eine Haltung der Veränderungsbereitschaft einüben können (Zilleßen, 1997a, S. 238; 1998, S. 113).

Auf der inhaltlichen Ebene des Unterrichts kann sich die von Zilleßen angestrebte „zögerliche Entschiedenheit“ als Wechselspiel von Entschiedenheit, Hingabe und Beheimatung auf der einen Seite und Dezentrierung, Distanznahme und permanenter Neuerung auf der anderen Seite realisieren und mit einer ästhetisch fundierten Symboldidaktik kultiviert werden (2001a, 2001b). Die Motive von Schöpfung und Exodus (bzw. Umkehr, 2002) dienen Zilleßen als exemplarische Konkretisierungen der beiden Pole des benannten Spannungsverhältnisses. Der Diskurs zum Schöpfungsmotiv wird dabei von Zilleßen mit den Begriffen Entschiedenheit, Hingabe und Beheimatung in Verbindung gebracht und der Diskurs zum Exodusmotiv mit Begriffen wie Trennung, Dezentrierung, Kritik und Neuerung. Das Motiv der Rechtfertigung wird von Zilleßen darüber hinaus als ein drittes Element hinzugenommen. Es fungiert als Ermöglichungsgrund einer dynamischen Balance von Exodus und Schöpfung und verleiht die Freiheit für religiöse Entscheidungen angesichts eines Bewusstseins für ihre Kontingenz und des Wissens um ausgeschlossene Alternativen (Zilleßen, 2001a, 2001b). Motive repräsentieren dabei für Zilleßen (1997b, 1998, S. 145) Ordnungsschemata, die die Wahrnehmung strukturieren, jedoch nicht festlegen sollen. Da es Wahrnehmung ohne strukturierende Schemata nicht gibt, es ist wichtig, dass ein angewendetes Schema offen bleibt für Revision und Veränderung (Zilleßen, 1991). Die Spannung der Motive zueinander kann eine offene und flexible Wahrnehmung fördern, weil ein Motiv durch ein anderes relativiert wird. Bezogen auf das Gottesbild bedeutet dies, dass es in der Schwebe bleibt und als Lernort einer Kultur des Unverfügbaren betrachtet werden kann. Entscheidend ist eine „zögerliche entschiedene Position“ (2002, S. 229), die sich im dynamischen Wechselspiel der Motive realisiert und Fundamentalismen vermeidet.

Damit ist ein klar umrissenes Prinzip des Lernens im Religionsunterricht benannt. Es stellt sich nun die Frage, auf welche Voraussetzungen es bei der Rezeption durch Studierende der Religionspädagogik und möglichen Schüler/innen trifft.

2. Der ästhetische Ansatz im Spiegel verwandter empirischer Konstrukte

Im Folgenden sollen Konzepte aus empirischen Forschungstraditionen auf den religionspädagogischen Ansatz Zilleßens bezogen werden. Er kann so unter neuen Gesichtspunkten wahrgenommen werden und es ist möglich, Aspekte der Anwendung zu entdecken, die bisher vielleicht weniger bedacht wurden. Dann hat empirische Forschung nicht etwa die Funktion Sicherheitsbedürfnisse zu bedienen, sondern zielt auf eine komplexere und erweiterte Realitätswahrnehmung.

(1) Erste empirische Hinweise ergeben sich über einen Vergleich des offenen Religiositätsideals Zilleßens mit Batsons Konzept der „religiösen Suche“. Nach Batson und seinen Kollegen (Batson, 1976; Batson et al., 1993) kann mit „religiöser Suche“ ein Zugang zur Religion beschrieben werden, der offen ist für Komplexität, Ambiguität, Selbstkritik und einer versuchsweisen Festlegung von Wahrheiten, die offen bleibt für Revision und Veränderung. Dieser offene Zugang zur Religion weist eine höhere Korrelation mit empathischen Verhaltensweisen auf als andere Formen der Religiosität (Batson et al., 1993). Gennerich & Huber (2006) belegen den positiven Zusammenhang suchender, reflexiver Religiosität mit universalistischen Werthaltungen (Offenheit, Toleranz, Gleichheit etc.) und einen negativen Zusammenhang mit Macht- und Sicherheitswerten. Weitere negative Korrelationen zeigen sich zu Vorurteilen und abwertenden Urteilen gegenüber Fremdgruppen (Batson & Burris, 1994). Nach Klaasen & McDonald (2002) zeigen sich darüber hinaus auch recht hohe Korrelationen mit Selbst-Kritik und Zweifel sowie negative Korrelationen mit religiösem Wohlbefinden und einer festgelegten religiösen Identität. Die Korrelate zeigen damit ein plausibles Muster und lassen erwarten, dass die von Zilleßen geforderte pädagogische Zielsetzung tatsächlich Fundamentalismen verhindern kann und eine vorschnelle Bedienung von Sicherheitsbedürfnissen vermeidet. Allerdings zeigen die empirischen Analysen auch, dass eine relativierungsbereite Haltung gegenüber Identitätsentscheidungen potentiell auch belastende Konsequenzen haben kann. Wenn nämlich Zweifel und fehlendes Wohlbefinden überhand nehmen und das Individuum überfordern, dann steigt möglicherweise die Gefahr fundamentalistischer Lösungsversuche. Es könnte demnach auch Schüler/innen geben, bei denen es zunächst weniger angezeigt ist, das Bewusstsein für Unsicherheit zu steigern, sondern eher die Wahrnehmung guter Ordnungen (z.B. im Sinne des biblischen Weisheitsmotivs) zu fördern. Dann wäre kontextbezogen etwas mehr der Pol von Geborgenheit und Sicherheit als Voraussetzung für einen neugierigen Zugang auf das Fremde akzentuiert, wie es Zilleßen selbst vorschlägt (Zilleßen, 1991, S. 85; 1994b, S. 345).

(2) Eine weitere theoretische Nähe ergibt sich zum Berliner Weisheitsparadigma (Baltes & Staudinger, 2000; Kunzmann & Baltes, 2003). Denn Zilleßens zögerliche Entschiedenheit teilt weitgehend mit dem Berliner Weisheitskonzept die drei dort wesentlichen Kriterien: (a) Lebenslauf-Kontextualismus (bei Zilleßen, 2001b, eine Sensibilität für Kontexte), (b) Werterelativismus (bei Zilleßen Revision, Umkehr etc.), (c) und Anerkennung von Unsicherheit (Zilleßen, 1997a, 2002). Auch die Distanz zum eigenen Standpunkt und die Fähigkeit zur Dezentrierung von nur einem Standpunkt werden als Merkmale genannt (Böhmig-Krumhaar et al., 2002; vgl. Zilleßen, 2002, S. 227; 2004; S. 138). Weiterhin werden die Werte einer weisen Person als Einsatz für das Wohlergehen der eigenen Person und für das Wohlergehen anderer gekennzeichnet (Baltes & Staudinger, 2000) und als universalistisch bezeichnet (Böhmig-Krumhaar et al., 2002, S. 32). Auch empirisch wird der Zusammenhang mit universalistischen Werten analog zur religiösen Suche bestätigt (Kunzmann & Baltes, 2003; konkret: persönliches Wachstum, Einsicht in das Leben im Allgemeinen, Einsatz für das Wohlergehen von Freunden, gesellschaftliches Engagement, Umweltschutz). Aus dieser Parallelität kann man wiederum schlussfolgern, dass ähnliche Korrelate für eine Lebenshaltung im Sinne Zilleßens wahrscheinlich sind, d.h. kooperative Konfliktlösungsstrategien, Engagement für Belange der Umwelt (Kunzmann & Baltes, 2003), gutes Problemlösen und Toleranz (Baltes et al., 2005). Böhmig-Krumhaar et al. (2002) bieten über die Zusammenhänge hinaus den Beleg, dass eine solche weise Haltung durch Interventionen gefördert werden kann. Die Erstautorin bat ihre Versuchspersonen, auf Lebensprobleme weise Antwortworten zu geben (z.B. Schwangerschaft bei einer Minderjährigen). Die Übung, in einer Wolkenreise in verschiedene Länder zu fliegen und sich vorzustellen, was die Menschen dort wohl zu dem Problem sagen würden, half die Qualität der Antworten entscheidend zu verbessern. Zilleßens Wertschätzung des Fremden spiegelt sich hier wieder (z.B. 2002). Gewissermaßen leistet die Wolkenreise eine Dezentrierung von vorhergehenden Antwortideen und hält einen Möglichkeitsraum für Alternativen offen. Zilleßens (1991; 2005, S. 130) Idee einer vielperspektivischen ästhetischen Theologie arbeitet mit ähnlichen Prinzipien. Sie trägt der Kritik Baltes (2004, S. 49.56.75f) von vornherein Rechnung, der zufolge religiöse Diskurse bis zu einem gewissen Grad Weisheit fördern können, jedoch durch Verabsolutierungs- und Dogmatisierungstendenzen die Entwicklung von Weisheit ebenso behindern. Der ästhetische Umgang mit religiösen Motiven ermöglicht, dass diese sowohl handlungsleitend angewendet als auch in neuen Kontexten relativiert werden können.

(3) Bezogen auf die pädagogische Intention des ästhetischen Ansatzes, die Akzeptanz von Unsicherheit und das Offenhalten von Perspektiven zu fördern, ist die Forschungstradition des „motivated social cognition“ einschlägig. Insbesondere Kruglanski (1989, 1996) entwickelt in seiner Laienepistemologie das Konstrukt „need for nonspecific cognitive closure“. Demnach können Menschen das Bedürfnis entwickeln, zu einem Thema feste Überzeugungen zu haben. Diesem Bedürfnis steht die Möglichkeit gegenüber, weiter nach Informationen zu suchen und die bisherige Wahrnehmung der Dinge offen und uneindeutig zu lassen. Die Forschung zur Theorie hat sowohl Situations- wie auch Persönlichkeitsfaktoren identifiziert, die zu einer eher offenen bzw. geschlossenen Wahrnehmungsperspektive beitragen. Das Bedürfnis nach Schließung geht einher mit einer Vorliebe für Ordnung und vorhersagbare Situationen. Personen mit einem starken Bedürfnis nach Schließung fällen möglichst schnell Urteile, möchten nicht mit Informationen konfrontiert werden, die ihren Überzeugungen widersprechen und fühlen sich in mehrdeutigen Situationen unwohl. Damit gehen entsprechende Folgewirkungen einher: Wenn die Offenheit für neue Informationen nur gering ist, dann reduziert sich auch im zwischenmenschlichen Bereich die Bereitschaft zur Perspektivenübernahme und Empathie, das Verstehen anderer wird beeinträchtigt und konstruktive Verhandlungsprozesse sind weniger wahrscheinlich (Kruglanski, 2004, S. 92-103). Insofern eine Situation pluraler Perspektiven ebenso festgelegte Überzeugungen relativieren kann, verlangt eine geschlossene Haltung soziale Uniformität und führt zur Ablehnung von Menschen mit anderen Meinungen. Andere Menschen werden in dieser Linie eher anhand sozialer Stereotypen beurteilt (Webster & Krulanski, 1998; Kruglanski, 2004). Auf der anderen Seite gibt es Hinweise auf weniger naheliegende Konsequenzen. So scheinen Personen mit einer geschlossenen Haltung eher eine abstrakte Sprache zu bevorzugen, weil damit transsituationale Übereinstimmung erzielt werden kann und sie können in Gruppenkontexten kooperativeres Verhalten zeigen, was zielführend für die Dauer und den Konsens einer Gruppe ist (Webster & Kruglanski, 1998). Bezogen auf die Situationseffekte belegt die Forschung den Effekt, dass Perspektiven vor allem dann offen gehalten werden können, wenn die Individuen sich hinreichend sicher und nicht bedroht fühlen können (Jost et al., 2003; Sorrentino & Roney, 2000). Aus diesem Zusammenhang folgt auch, dass geschlossene Überzeugungen in Situationen, die von Unsicherheit geprägt sind, als hilfreich erfahren werden. Ein besonders prägnantes Beispiel für die Bedeutung der Situation bietet eine Studie von Gooren (2002). Er zeigt, dass fundamentalistische Freikirchen für die Armen in Lateinamerika deswegen eine besondere Anziehungskraft haben, weil die strikte Leistungsethik und hohe soziale Kontrolle in diesen Kirchen ein Maximum an Selbstkontrolle unterstützt (harte Arbeit, kein Alkohol, Sparsamkeit, gemeinsame Ausrichtung aller Familiemitglieder auf das Familienwohl), so dass die Familien der Mitglieder ein Leben führen können, das zumindest die materiellen Grundbedürfnisse befriedigt. Hier unterstützt eine „geschlossene“ Theologie ausnahmsweise Selbststeigungswerte (Reichtum, Erfolg, öffentliches Ansehen) und reduziert außerfamiliale Solidarität, um ein menschenwürdiges Überleben in extremer Armut zu ermöglichen. Deutlich wird hier, dass nicht eine offene Haltung an sich mit Humanität gleichgesetzt werden kann, sondern dass bezogen auf den Kontext nach der Verwirklichung von Humanität gefragt werden muss (Zilleßen, 2001a).

3. Der ästhetische Ansatz im Raum komplementärer Werte und sein Zugang zu „fremden“ Schüler/innen

Dietrich Zilleßens hat intensiv nach Werten in der Religionspädagogik gefragt (1985, 1992, 2001a, 2001b, 2004). Ihm geht es darum, dass sich Schüler/innen „schwankend und entschieden“ Werten verpflichten (1992, S. 69). Der folgende Blick auf Zilleßens Ansatz konkretisiert diese Werte durch eine Positionierung in einem allgemeinen Modell. Es wird dann nach der möglichen Rezeption des Ansatzes durch unterschiedliche Schülergruppen gefragt und das Potential des Ansatzes zum Umgang mit „fremden“ Schüler/innen analysiert.

Für die Analyse ziehe ich hier den Raum komplementärer Werte heran, wie er von Shalom H. Schwartz entwickelt wurde. Schwartz (1992) geht davon aus, dass sich alle denkbaren Werteklassen anhand zweier Dimensionen strukturieren. Demnach können Werte an Bewahrung oder aber an Offenheit für Wandel orientiert sein, und sie können eher der Selbst-Steigerung (persönliche Interessen maximierend) oder der Selbst-Transzendenz (das Wohl anderer fördernd) dienen. Dadurch werden die Werte in einem Werteraum inhaltlich so strukturiert, dass gegensätzliche Werte einander gegenüber liegen und ähnliche Werte nah beieinander (vgl. Gennerich, 2001; Gennerich & Huber, 2006; Gennerich et al., im Druck). Beide Dimensionen finden sich im Denken Zilleßens. Den Pol der Selbst-Transzendenz vertritt Zilleßen (1975) besonders deutlich in einem frühen Text. Ziel der Religionspädagogik sei, das eigene Ego bzw. egoistische Orientierungen zu überschreiten. Ein solche selbsttranszendierende Haltung, die sich in liebevoller Zuwendung zum anderen äußert, sei möglich, wenn der Einzelne selbst Zuwendung und Vertrauen erfährt. Dem entspricht in späteren Texten der Verweis auf die Notwendigkeit einer tragenden Gemeinschaft im Religionsunterricht (1991). Der Pol „Offenheit für Wandel“ wird z.B. durch Zilleßens Konzept der „Erfahrungsoffenheit“ repräsentiert (Zilleßen, 1994, S. 344). Die Spannung zwischen Hingabe und Auszug (s.o.) kann ebenso die Polarität von „Offenheit“ und „Bewahrung“ repräsentieren. Die Wertebezüge von Zilleßens Ansatz dürften daher sinnvoll mit dem Modell von Schwartz dargestellt werden können.

Abbildung 1 stellt die Beziehung einer theoretisch repräsentativen Auswahl von Werten zu den zwei Wertedimensionen von Schwartz nach den Ergebnissen einer repräsentativen Stichprobe von Strack (2004) dar. Die Wertedarstellung basiert auf einem Fragebogen, der das Wertemodell von Schwartz (1992) operationalisiert und auch in der in den Abschnitten 4 und 5 berichteten Studie verwendet wird.

Abbildung 1:
Werthaltungen in Beziehung zu den Wertedimensionen
(repräsentatives empirisches Resultat nach Strack, 2004)

Im zweidimensionalen Wertemodell von Abbildung 1 findet der Ansatz von Zilleßen im Bereich universalistischer Werte oben/links vorzugsweise seinen Ort. Dafür sprechen eine Reihe von Beobachtungen:

1) Zilleßen zeigt Sympathie für universalistische Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit, Bewahrung der Schöpfung, Güte, Solidarität und Humanität (1997a, 2001a, 2004). Im Kreis von Abbildung 1 haben diese Werte eine inhaltliche Nähe zu Werten zwischen den Polen Offenheit für Wandel („eigene Ziele wählen“ als Entsprechung zum Begriff Freiheit) und Selbst-Transzendenz („Einheit mit der Natur“, „Gerechtigkeit“). Ergänzend ist auch darauf zu verweisen, dass sich die empirischen Parallelen zu Zilleßens Ansatz im Bereich universalistischer Werte oben/links lokalisieren (siehe oben für religiöse Suche, Weisheit, Offenheit).

2) Zilleßen (1997a) weist darauf hin, dass die in seinem Ansatz intendierte Religionskultur Werthaltungen voraussetzt, die nicht mit einem Sicherheitsstreben vereinbar sind und Offenheit verlangen. Das Streben nach Sicherheit ist von Zilleßen wiederholt als fragwürdig beschrieben worden (1992, 2001b), stattdessen möchte er den Aspekt von Aufbruch und Unruhe stärken (1998, S. 57). Sein Ansatz liegt damit eher beim Wert „weltoffen“ als beim komplementären Wert der „Kontrolle über Unsicherheiten“. Das Plädoyer für die Förderung offener und flexibler Wahrnehmungsstrukturen entspricht ebenso eher dem Pol der „Offenheit für Wandel“ als „Bewahrung“.

3) Zilleßen steht ebenso kritisch zu Machtwerten (1991, S. 83) und deckt die problematische Struktur von Schulbüchern auf, die in der Vergangenheit national-autoritäre Haltungen (Untertanentreue) oder eine unkritische Pflichtenethik (Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Demut etc.) beschworen haben (Zilleßen, 1985); wobei die zuletzt genannten Werte (Wohltätigkeit, etc.) nicht selbst als Problem angesehen werden, sondern die historisch offenbar gewordene Kritiklosigkeit gegenüber Totalitarismus und Autoritarismus.

4) Das hedonistisch geprägte Segment unten/links scheint weniger direkt von Zilleßen erörtert worden zu sein. Allerdings benennt er kritisch, wenn Produkte und Waren zu verabsolutierten Ersatzobjekten werden (1979). Eben eine solche kompensatorische Funktion des Kaufens steht mit einer starken Betonung von hedonistischen Werten in Beziehung (Lange, 2004). Demnach liegt der Wertbereich unten/links kaum in Intentionsbereich Zilleßens.

Zusammengenommen finden sich demnach Hinweise zur Abgrenzung von Werten in den Segmenten oben/rechts, unten/rechts und unten/links sowie klare Präferenzen für universalistische Werte. Welche Bedeutung hat dieser Befund für Rezeption einer solchen Religionspädagogik auf der Seite der Schülerinnen und Schüler?

Ausgehend von einer Analyse verschiedener Idealformen des Religionsunterrichts in Schüler/innensicht und ihren Beziehungen zum Schwartz’schen Wertemodell lassen sich dazu Hinweise gewinnen (Gennerich et. al., im Druck). Die Ergebnisse zeigen, dass vor allem Schüler/innen mit traditionellen Werthaltungen im Segment oben/rechts von gängigen Formen des Religionsunterrichts angesprochen werden. Schüler/innen mit universalistischen (oben/links), aber auch sicherheitsorientierten Werten (unten/rechts) sowie mit einem nichtreligiösen Selbstverständnis (unten/links) werden weniger erreicht. Das ist zweifellos unbefriedigend und es stellt sich die Frage, ob der ästhetische Ansatz aus einer solchen Verengung der angesprochenen Schüler/innen herausführen kann. Bezogen auf die Gruppe der universalistischen Schüler/innen ist ein ästhetisch orientierter Unterricht zweifellos besonders passend, weil die Zielperspektive einer offenen Religiosität ihnen besonders nahe steht. Insofern ist zu erwarten, dass von einer religionspädagogische Ästhetik Schüler/innen profitieren, die bisher nicht hinreichend befriedigend vom Religionsunterricht angesprochen werden. Wie steht der Ansatz jedoch zu den „fremden“ Schüler/innen, die eine Haltung vertreten, die mit dem Ansatz selbst im Widerspruch steht?

Bei dieser Frage zeigt sich die Stärke des ästhetischen Ansatzes mit seiner Offenheit für das Fremde. So plädiert Zilleßen (1994a) für eine differenzierte Wahrnehmung rechtsradikaler Jugendlicher, die im Kreis in Abbildung 1 im Segment unten/rechts ihren vorzugsweisen Ort haben (Autoritarismus und soziale Dominanz-Orientierung haben ihren Ort unten/rechts, Cohrs et al., 2005). Rechtsradikale Jugendliche sind für den Religionspädagogen Zilleßen damit in der Tat ‚Fremde‘, da sie Haltungen leben, die in einem starken Widerspruch zu Zilleßens Ansatz der Religionspädagogik stehen. Die Wahrnehmung der anderen ohne vorschnelle Attribuierungen und Urteile realisiert nach Zilleßen bereits eine Haltung, die in der Begegnung mit den Jugendlichen neue Perspektiven öffnet. Zilleßen (1991, 1994b) macht darüber hinaus deutlich, dass offene Lebenshaltungen nur in sozialen Kontexten möglich sind, in denen der Einzelne sich getragen und sicher fühlen kann. Zilleßen benennt damit genau jene Bedingungen, die rechtsradikale Jugendliche in ihren sozialen Kontexten weniger vorfinden als ihre privilegierteren Peers (Klein-Allermann et al., 1995). Schließlich geht Zilleßen von der Notwendigkeit einer balancierten Sicht auf Werte aus: Die oben benannte Kritik des Sicherheitsstrebens wird immer wieder auch mit Relativierungen versehen („Leben verlangt nach Halt“, Zilleßen, 1992, S. 59; 1998, S. 112) und auch ein fundamentalistischer Universalismus wird kritisch wahrgenommen (2001b). Im Umgang mit rechtsextremen Jugendlichen wird so eine konfliktsteigernde Polarisierung vermieden. Der ästhetische Ansatz steht damit nicht mit einer ausschließenden Haltung diesen Schüler/innen gegenüber, sondern vermittelt deren Bedürfnisse und Lebensperspektiven mit der pädagogischen Zielsetzung. Der zögerliche Umgang des ästhetischen Blicks mit Urteilen erweist sich hier als pädagogischer Gewinn.

Ähnlich bietet der Zilleßen’sche Ansatz auch Zugangsmöglichkeiten zu Schüler/innen mit einem nichtreligiösen Selbstverständnis (unten/links), die dem Religionsunterricht besonders ablehnend gegenüber stehen. Erstens verlangt der Ansatz nicht, dass religiöse Erfahrungen mit christlich-theologischen Begriffen verbalisiert werden (Zilleßen, 2005, S. 130). Zweitens ermöglicht er, Religion in der Vielfalt profaner Formen wahrzunehmen (1998; 2005, S. 127). Und schließlich legitimiert Zilleßens oben benannte rechtfertigungstheologische Perspektive Grenzüberschreitungen auf Probe, die es Religionslehrer/innen erlauben könnte, religiöse Äußerungen von Schüler/innen neugierig respektvoll wahrzunehmen, die zu ihren eigenen Anschauungen im (scheinbaren) Widerspruch stehen.

Es zeigt sich demnach, dass durch die ästhetische Orientierung ein Zugang zu Schülergruppen erreicht werden kann, die zumeist außerhalb der religionspädagogischen Reflexion liegen.

4. Bildungsvoraussetzungen für eine religionspädagogische Ästhetik bei Studierenden der Religionspädagogik

Die bisherige Betrachtung hat gezeigt, dass der Zilleßen’sche Ansatz vom seinem theoretischen Entwurf her besonders gute Voraussetzungen mitbringt, um der heutigen Situation des Religionsunterrichts an Schulen gerecht zu werden. Die Analyse der Wahrnehmung religionsdidaktischer Konzepte in Schülersicht (Gennerich et al., im Druck) weist jedoch nach, dass Entwürfe, die theoretisch als offen konzipiert wurden, bei Schüler/innen mit offenen Werthaltungen nicht als solche ankommen. Eine Erklärung wäre, dass die offenen religionsdidaktischen Konzepte nur ansatzweise in der Praxis umgesetzt werden und die Schüler/innen sie deswegen als konservativer wahrnehmen als sie theoretisch intendiert sind. Will man also die Problematik beheben, dass Religionsunterricht vor allem traditionsorientierten Jugendlichen attraktiv erscheint, dann muss die Aufmerksamkeit auf die Ausbildung der Religionslehrer/innen gelegt werden. Denn erst wenn diese in der Lage sind, offenere Ansätze zu praktizieren, wird ein erweiterter Kreis von Schüler/innen durch den Religionsunterricht angesprochen werden können. Im Folgenden soll daher der Blick auf Studierende der Religionspädagogik gelegt werden. Inwiefern bringen zukünftige Religionspädagog/innen für eine religionspädagogische Ästhetik die erforderlichen Einstellungen und Werthaltungen mit? Eine Antwort auf diese Frage kann helfen, die Studierenden gezielter auf offenere Konzepte des Religionsunterrichts vorzubereiten. In den nächsten beiden Abschnitten sollen daher in einer eigenen Studie Studierende der Religionspädagogik im Mittelpunkt stehen.

Im Sommersemester 2006 habe ich in zwei Seminaren und einer Vorlesung für Studierende der Religionspädagogik der Universität Bielefeld eine Fragebogenbefragung zu religiösen Motivstrukturen durchgeführt. Ein Teil der dabei verwendeten Items ist aufschlussreich für die Frage, auf welche Situation der ästhetische Ansatz bei den Studierenden trifft.

Unter Ausschluss der „Studierenden ab 50“ konnten 107 ausgefüllte Fragebögen in der Analyse berücksichtigt werden. 71% der Antwortenden waren weiblich und 29% männlich, das Durchschnittsalter betrug 24 Jahre.

Der Fragebogen umfasste Fragen zu einer Vielzahl religiöser Motive und eine Messung von Werthaltungen im Anschluss an Strack (2004). Durch einen Vergleich der Werthaltungen der Studierenden mit der Normstichprobe von Strack können die Studierenden im Werteraum von Abbildung 1 lokalisiert werden. Dabei zeigt sich, dass sich 44% der Studierenden im traditionsorientierten Segment oben/rechts befinden, 18% im sicherheitsorientierten Wertebereich unten/rechts, 7% im hedonistisch geprägten Segment unten/links und 31% im universalistischen Segment oben/links. Etwa ein Drittel der Studierenden teilt somit Werthaltungen, die dem ästhetischen Ansatz entsprechen. Ein mit 18% relevanter Anteil sucht nach Sicherheit und steht einer ästhetischen Perspektive „fremd“ gegenüber. Überlegungen zum Lernbedarf der einzelnen Gruppen werden in Abschnitt 5 aufgenommen.

Im Folgenden soll zunächst mit einigen ausgewählten Motivitems, die Akzeptanz der von Zilleßen intendierten Haltung bei Studierenden erfasst werden.

Tabelle 1: Religiöse Motive bei Studierenden der Religionspädagogik

Antwortvorgaben mit einer Beziehung zu der bei Zilleßen verwendeten Polarität von Hingabe (Schöpfung) und Auszug (Exodus) (siehe Abschnitt 1). Als Bejahung wurden die Kategorien „ziemlich“ und „sehr“ einer fünfstufigen Skala der Zustimmung gewertet.

Beja-
hung in %


Items zum Pol Auszug, Trennung, Verrat, Kritik, permanente Neuerung etc.

Ia. Gott kann ein Volk durch seinen Ruf verändern.

41

Ib. Gott bewegt Menschen überlieferte Lebensformen zu verlassen und neue zu entwerfen.

44

Ic. Gott will Menschen aus der Unterdrückung herausführen und befreien.

58

IIa. Ich brauche keine Kirche.

34

IIb Wenn mir eine Glaubensvorstellung nicht gefällt, dann hat sie für mich keine Autorität.

21

IIIa Durch Rückkehr zu Gott ist eine Neuorientierung möglich.

57

IIIb Menschen sind nicht festgelegt auf Fehlverhalten und Fehlentscheidungen.

54

IIIc Der Mensch hat die Möglichkeit grundlegender Veränderung.

83

IV Über das letzte Woher und Woraufhin kann der Mensch nicht verfügen.

66

Va Wünsche des Menschen haben immer eine Chance.

65

Vb Im Leben gibt es immer wieder wundervolle Veränderungen.

86

Vc Die Zukunft bietet immer wieder Lebensmöglichkeiten.

83


Items zum Pol Hingabe, Entschiedenheit, Beheimatung, sowie „geschlossene“ Haltungen

VIa Es ist das höchste Lebensprinzip, sich dem Willen Gottes ganz hinzugeben.

22

VIb Wenn man sich in den Willen Gottes fügt, findet man inneren Frieden.

32

VII Gott hat mich geschaffen, ebenso alle anderen Menschen und die Welt.

57

VIIIa Die Entwicklung meines Gottesbildes ist abgeschlossen.

8

VIIIb Das Thema Gott ist langweilig.

2

IXa Ich kann mich nicht verändern.

3

IXb Ich trauere verpassten Lebensmöglichkeiten nach.

15

IXc Je nachdem wie ich mich in Schule, Beruf und Familie entscheide, kann mein Leben scheitern.

44

IXd Echte Überraschungen kenne ich nicht.

7

IXe Das Verhalten der Vergangenheit legt einen fest.

5

Xa Revolutionäre Ansichten können nur schaden.

3

Xb Religion braucht keine Experimente, sondern Pflichterfüllung.

6

Xc Man sollte sich immer treu der Kirche unterordnen.

2

Die Tabelle 1 zeigt die prozentuale Verteilung der Zustimmung zu unterschiedlichen Facetten einer religiösen Kultur, die eher einer offenen Orientierung zuzurechnen ist und einer Orientierung, die eher auf Bewahrung, Hingabe und Sicherung zielt.

Es zeigt sich, dass die Studierenden eine Haltung haben, die dem Plädoyer für eine ästhetisch orientierte Religionsdidaktik entgegenkommt: Sie sind offen gegenüber einem experimentellen Zugang zur Religion (nur 6% lehnen einen solchen ab, Xb), lehnen konservative und resignative Haltungen weitgehend ab (IXa bis Xc). Gleichzeitig zeigt sich eine distanziertere Haltung gegenüber dem Gottesbegriff (Ia-Ic, IIIa, VIa-VIc, VII). Dies ist umso auffälliger, da bei Formulierungen, die Veränderungschancen ohne den Gottesbegriff benennen (IIIb-IIIc, Va-Vc), die Studierenden der Religionspädagogik eher zustimmen. Die Offenheit der Studierenden geht demnach mit einer Distanz zu tradierten Gottesvorstellungen einher. Der Vergleich der oberen Hälfte der Tabelle mit der unteren zeigt insgesamt, dass die Studierenden entschiedener Aspekte des Exodusdiskurses bejahen als Aspekte des Schöpfungsdiskurses (VIa-VIb; VII). Dies entspricht durchaus einer der Ästhetik gemäßen Balancierung von Hingabe und Auszug.

Es ist jedoch noch nicht geklärt, wie die einzelnen Motive zueinander in Beziehung stehen. Für das in Abschnitt 1 dargestellte Wechselspiel von Hingabe und Auszug bedarf es nämlich einer Repräsentation theologischer Diskurse, die möglichst viel Differenz wachhält und religiöse Motive in einem Spannungsverhältnis zueinander wahrnimmt. Inwieweit dies bei den Studierenden der Fall ist, kann eine korrelative Analyse klären, die die inhaltliche Beziehung der einzelnen Motive zueinander klärt.

5. Herausforderungen für eine religionspädagogische Ästhetik

Die folgende empirische Analyse nutzt die bereits in Abschnitt 4 verwendeten Items und stellt ihre Beziehungen zu den beiden Wertedimensionen von Abbildung 1 dar. Dadurch wird es möglich, unterschiedliche Gruppen von Studierenden nach ihren Motivpräferenzen zu typisieren. Der für eine ästhetische Religionspädagogik notwendige Lernbedarf bei den Studierenden kann dann entsprechend differenziert werden. Des weiteren beschreibt die Analyse die semantische Bedeutung des Exodus- bzw. Umkehrmotivs sowie des Schöpfungsmotivs bei den Studierenden. Dadurch kann geprüft werden, ob die Motive in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, so dass die von Zilleßen intendierte Haltung einer zögerlichen Entschiedenheit durch religiöse Symbole, die sich wechselseitig relativieren, gefördert werden kann.

Abbildung 2:
Zusammenhänge (Korrelationen) verschiedener Motive mit den beiden
Wertedimensionen bei den Studierenden der Religionspädagogik

Abbildung 2 zeigt, wie die Studierenden in Abhängigkeit von ihren Werthaltungen den verschiedenen Motiven mehr oder weniger zustimmen. Im universalistischen Segment oben/links verorten sich Einstellungen, die der experimentell-ästhetischen Orientierung des Ansatzes besonders entsprechen: Das Item „Wenn eine Glaubensvorstellung ...“ zeigt einen freien Umgang mit Glaubensmotiven an, der sich an subjektiv empfundener Stimmigkeit orientiert. Ebenso sind Studierende in diesem Segment besonders offen gegenüber einem experimentierenden Zugang zur Religion (siehe die Distanz zur Ablehnung des Items „Religion braucht keine Experimente...“ im Segment gegenüber). Darüber hinaus zeigen sich Studierende in diesem Segment besonders optimistisch („Wünsche haben immer eine Chance“) und bejahen die Möglichkeit von Veränderungen. Diese werden jedoch anders als im Segment oben/rechts kaum auf Gott bezogen. Diesem eher distanzierten Verhältnis zur christlich-theologischen Semantik entspricht die Präferenz für das Items „Ich brauche keine Kirche“. Obwohl also die Studierenden in diesem Segment der Wertorientierung des ästhetischen Ansatzes entsprechen, zeigen sich hier auch ernstzunehmende Defizite. Es könnte nämlich sein, dass die Studierenden in diesem Segment die Bedeutung von Tradition und Gemeinschaft für eine lebendige und humane religiöse Praxis unterschätzen und aufgrund ihrer am „Gefallen“ orientierten Bewertung von Glaubensvorstellungen zu einer „Verharmlosung“ Gottes beitragen. Das hätte zur Konsequenz, dass bei diesen Studierenden möglicherweise der Hingabe-Pol zu schwach ausgeprägt ist, um das von Zilleßen beschrieben Wechselspiel von Hingabe und Auszug als Haltung zu praktizieren. Eine rein am Gefallen orientierte Bewertung von Glaubensvorstellungen könnte dabei auch erschweren, zum Beispiel das „Fremde“ im Bild Gottes wachzuhalten (vgl. z.B. Bucher, 2006). Die Ambiguitätstoleranz, die gemäß der in Abschnitt 2 dargestellten Zusammenhänge ebenfalls Personen in diesem Segment kennzeichnet, ist damit in der religionspädagogischen Ausbildung bei dieser Gruppe stets aufs Neue herauszufordern. Eine solche Herausforderung ist nur über die Thematisierung des Gottesbildes aus der Tradition heraus zu erwarten, da eben die Tradition mit ihren Diskursen differierende Perspektiven auf Gott enthält und in ihr die Komplexität der Gottesfrage gespeichert ist. Ein diffuser oder unbestimmter Gott wird dagegen kaum hinreichend komplex und dynamisch repräsentiert werden können. Werden die Diskurse in der Tradition mit ihrer Verschiedenartigkeit wahrgenommen, dann ist auch damit zu rechnen, dass die konservative Verortung Gottes korrigiert werden kann. Die semantische Begrenzung Gottes auf den Wertebereich oben/rechts bedarf der Korrektur.

Im Segment oben/rechts zeigt sich, dass hier die meisten Items liegen, die die Möglichkeit der Veränderung betonen. Im Detail werden dabei Itemformulierungen mit dem Begriff Gott etwas konservativer in Richtung des Bewahrungspols platziert als Items ohne den Begriff Gott, die eher mittig zwischen Bewahrung und Offenheit liegen. Explizite Exodusmotive verknüpfen sich somit bei den Studierenden mit Werten wie „ehrlich“, „Welt in Frieden“, „demütig“, „fromm“ und „soziale Ordnung“. Des weiteren zeigt sich, dass Studierende, die Bewahrungswerte besonders stark befürworten, am meisten das Motiv einer Hingabe an Gott bejahen. Das Motiv der Hingabe an Gott („hingeben“, „fügen“) setzt sich dabei als leicht konservativer von den Exodusmotiven ab („herausführen“, „ein Volk verändern“). Wie ist dieser Befund zu interpretieren? Studierende in diesem Bereich zeigen eine stärkere Bindung an Motive aus den Symboldiskursen Exodus und Schöpfung/Hingabe als ihre stärker an Offenheit orientierten Nachbarn. Einer experimentell-ästhetischen Haltung stehen sie auf der anderen Seite distanzierter gegenüber als die Studierenden im Segment oben/links. Eine Repräsentation des Exodus- und Schöpfungsmotives in einem spannungsvollen Verhältnis zueinander ist weniger wahrscheinlich. Dies wäre erst dann der Fall, wenn das Exodusmotiv eine stärkere Beziehung zu Werten wie „weltoffen“, „Kreativität“ und „wagemutig“ hätte. Offenbar steht die nachwachsende Generation von Religionspädagogen und Religionspädagoginnen nicht mehr in den Emanzipationsdiskursen der 70er Jahre. Eine Bildungsaufgabe besteht hier darin, die emanzipatorische Seite der biblischen Exodussymbolik so zu verdeutlichen, dass ihre Freiheitsmomente wieder für die Studierenden bewusster werden. Das Spannungsmoment der Symbole zueinander wäre dann wieder in Kraft gesetzt.

Im sicherheitsorientierten Segment unten/rechts verorten sich die Studierenden, die am ehesten eine Neigung haben, ihre religiösen Vorstellungen „einzufrieren“ und ein offenes Religionsverständnis abzulehnen. Fast alle Vorstellungen, die von weniger als 10% der Studierenden bejaht werden (siehe Tabelle 1), haben in diesem Wertebereich ihren Ort. Im Detail zeigt sich hier eine Tendenz zum Gefühl festgelegt zu sein, ein abgeschlossenes Gottesbild zu haben und am ehesten eine Neigung, sich der Kirche unterzuordnen. Aufgrund der mittigen Lage der Items „Ich trauere verpassten Lebensmöglichkeiten nach“ und „Je nach dem, wie ich mich entscheide ...“ ist davon auszugehen, dass auch im Segment unten/links diese Items Zustimmung finden, zumal beide Items in einem relevanten Grad mit 15% und 44% bejaht werden. Hier zeigt sich der Zusammenhang, dass das Leben erstarrt, wenn die Erfahrungen nicht mehr für Umstrukturierungen offen sind. Mit einem festgelegten Gottesbild gehen hier tendenziell frustrierte Perspektiven auf das Leben einher („trauern“, „scheitern“) ebenso wie eine Zurückhaltung gegenüber optimistischen Motiven („Wünsche haben immer eine Chance“; „immer wieder neue Lebensmöglichkeiten“). Pädagogisch ist hier zunächst gemäß des oben benannten Zusammenhanges von Werten und Beziehungserfahrungen auf eine vertrauensvolle und sicherheitsstiftende Beziehungsgestaltung zu achten. Darauf aufbauend kann der ästhetischer Ansatz für diese Studierenden besonders hilfreich sein, indem er die Arbeit am Gottesbild neu öffnet und damit auch Raum für neue Deutungsoptionen schafft, die die Befürchtung des Scheiterns relativieren.

Im Segment unten/links finden sich kaum Studierende der Religionspädagogik. Die 7% der Studierenden, die sich hier verorten, betonen besonders Werte des Hedonismus und der Leistung. Motivformulierungen mit dem Wort Gott finden hier am wenigsten Zustimmung. Nun können sicherlich diese Studierenden durch das Studium ausgleichend zur bisherigen Distanz Wissen über die christliche Tradition erwerben. Da bei diesen Studierenden jedoch die Angst vor Fehlentscheidungen besonders groß ist, ist ein Fokus auf die Rechtfertigungsbotschaft besonders angezeigt. Insbesondere ist die Rechtfertigungslehre dabei auch auf den Umgang mit Gottesbildern anzuwenden. Denn wenn die Unsicherheit in der Frage nach Gott nicht rechtfertigungstheologisch gelöst wird, dann besteht die Gefahr, dass der eifernde Kampf für das eigene Gottesbild als ein Weg gewählt wird, die Angst vor einer möglichen Fehlentscheidung zu kompensieren. Die starke Orientierung an Macht- und Leistungswerten in diesem Bereich (vgl. Abbildung 1) würde eine solche Entwicklung zusätzlich verstärken. Ausgehend von der Möglichkeit einer bleibenden Distanz zu christlich-theologischen Symbolen, ist bei dieser Studierendengruppe auch danach zu fragen, wie sie die Tradition im Religionsunterricht selbst vertreten können. Der Ansatz einer profanen Religionspädagogik (Zilleßen, 1998), die religiöse Erfahrungen in der Alltagskultur wahrnimmt und thematisiert, könnte für diese Studierende hier eine mögliche Perspektive sein, die ein selbstkongruentes Unterrichten auch aus einer weniger kirchlich orientierten Haltung zulässt.

Die Analyse der Motive im Werteraum der Studierenden stellt dar, wie die Studierenden die Motive relativ in Abhängigkeit von ihren Werthaltungen gewichten. Ihre Stärke liegt in der Darstellung möglicher Zusammenhänge, die zur Wirkung kommen können. Sie will jedoch nicht zu einer stereotypen Wahrnehmung der Studierenden verleiten. Mitzubedenken sind zum Beispiel die in Tabelle 1 dargestellten Häufigkeiten. Aufgrund der hohen Zustimmung, die etwa die Items IIIc und Vc haben, findet Zukunftshoffnung auch in den beiden unteren Segmenten Zustimmung, wenngleich etwas verhaltener. Positiv gewendet besteht auch die Möglichkeit, dass die Studierenden in diesen Segmenten ein theologisch bedenkenswertes Entfremdungsbewusstsein haben und deswegen die Items mit Hoffnungsaspekten relativieren. Wichtig scheint mir, dass jeder Ausgangspunkt seine eigene Problematik mitbringt und im Sinne einer theologischen Ästhetik weiterentwickelt werden kann.

6. Schluss

Die empirische Analyse von Zilleßens ästhetisch orientierter Religionspädagogik zeigte, dass sie ausgesprochen gut psychologisch begründbar ist und sich auch unter dem Gesichtspunkt einer dezidierten Schülerorientierung als stark erweist. Eine Studie zur religiösen Motivstruktur von 107 Studierenden der Religionspädagogik zeigt jedoch zugleich die Herausforderungen für eine solche Didaktik in der Ausbildung von Religionslehrer/innen. Da die Mehrzahl der Studierenden sich in einem konservativen Wertebereich verortet, wird es in der Ausbildung wesentlich darum gehen, die theologischen Vorstellungen der Studierenden in Richtung offener Haltungen zu entwickeln, so dass eine kontextsensible dynamische Spannung der Motive zueinander möglich ist. Denn erst die Erfahrung von Differenz innerhalb der eigenen Haltungen ermöglicht es, auch mit Schüler/innen zu arbeiten, die den eigenen Haltungen und Präferenzen „fremd“ gegenüber stehen. Deutlich ist damit, dass sich pädagogischer Handlungsspielraum nicht nur auf der Ebene von Unterrichtsmethoden erwerben lässt, sondern dass ebenso eine Erweiterung der vorgängigen theologischen Konzepte der Studierenden notwendig ist.

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© Carsten Gennerich 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 45/2007
https://www.theomag.de/45/cg1.htm