Was könnte Dietrich Zilleßens reichhaltige religionspädagogische Arbeit besser zusammen fassen als sein eigener musikästhetischer Beitrag im Buch "Theophonie" mit dem klingenden Titel "Hörproben"? Auf die leisen Zwischentöne kommt es ihm stets an, welche sich nicht vordergründig aufdrängen und nicht den Ton angeben wollen, und auf die fremden ungewohnten Töne, welche Hörirritationen schaffen und aus den Hörgewohnheiten herausreißen. Im dramaturgischen Zusammenspiel vom "Musikalisch-In-Sich-Sinnvollem"[1] und dem Dissonant-Fragmentarischen oder, rezeptiv ausgedrückt, zwischen dem Botschafthören und den Hörirritationen[2] verwirklicht sich transzendente ästhetische Erfahrung, welche den Aufruhr als Unterbrechung von profaner Alltagskultur lebendig zu kultivieren vermag. Hören ist EinverleibenDer Beginn jeglicher auch religionspädagogischer Kommunikationsprozesse ist die Annahme und die Aufnahme von Sinneseindrücken, welche nie in reiner Form sondern bereits überlagert von unseren eigenen Gefühlen, Wünschen und Sehnsüchten prozesshaft geschieht. Das, was wir "bis auf die Knochen hören"[3], ist für andere nicht hörbar und lässt sich auch nicht hören. Das Gehörte ist un-erhört angereichert mit den eigenen Deutungserfahrungen, die musikalische Innenwelt horcht auf eine eigene Logik, welche dem Selbst oft unerschlossen bleibt: "Das innere Ohr denkt, wie auch das innere Auge. Kein Hörendenken, sondern ein dem Denken (Vorstellen) folgendes Hören. Alles sind Vorstellungen, Imaginationen, Konstuktionen."{4] Im Prozess des Hörens ereignet sich nicht nur Schall, sondern ein Gewebe (textum) von Klang und Erfahrung, es entsteht eine neue Komposition; denn die Anschlussstellen des Musikalisch-Sich-Ereignenden an die eigenen Lebensbereiche stimmen niemals mit denen des Komponisten überein. Es ist mehr als sprachliche Kommunikation; denn Musik geht über das Ohr zu Herzen: Hören ist so die Geigerin Anne-Sophie-Mutter eine Form der Repräsentation von Herzenssachen.[5] Deshalb müsste der Wahlspruch aller Musikpädagogen lauten: Mit dem Herzensohr hört und sieht man besser; denn Einsicht entsteht durch Hineinhören in die leisen Zwischentöne und im Durchhören ungewohnter dissonanter Fakturen. In biblisch-theologische Bildsprache übertragen wird dieser Zusammenhang nirgendwo so deutlich wie im Buch des Propheten Jona. Ich kenne kaum eine biblische Schrift mit einer so intensiv ausgestalteten akustischen Bildsprache wie dieses kleine Prophetenbuch. Da ist zunächst die in wörtlicher Rede gehaltene Eröffnung "Und es geschah das Wort des Herrn an Jona" (Jona 1,1a), die mit dem Auftrag nach Ninive zu gehen und dort zu predigen verbunden ist. Doch Jona macht sich nicht nach Ninive auf sondern nach Tarsis in die entgegen gesetzte Richtung sein Fehler: er meint durch seine Flucht ans Ende der Welt dem Herrn aus den Augen kommen zu können. Und nun wartet das Prophetenbuch mit einer groß angelegten akustischen Bildersprache auf: Auf dem Meer lässt der Herr einen großen Wind kommen, es erhebt sich ein großes Ungewitter, so dass man meinte, das Schiff würde zerbrechen, und die Schiffsleute schreien und werfen Ladung ins Meer, nur Jona schläft bei alledem, er hält seine Augen geschlossen. Und erst die Konfrontation mit der Frage öffnet Jona die Augen: "Was sollen wir denn mit dir tun, dass das Meer stille werde?" (Jona 1,11). Erst wenn Jona ins tosende Meer geworfen und darin einverleibt wird, tritt Stille ein, und das Meer läßt ab von seinem Wüten. In dieser Einverleibung ruft Jona zum Herrn und er antwortet ihm "ich schrie aus dem Rachen des Todes und du hörtest meine Stimme" (Jona 2, 3). Was hört Jona im Bauch des Fisches? Er hört auf sein Herzensohr "Als meine Seele in mir verzagte, gedachte ich an den Herrn" (Jona 2, 8), und Gott erweist sich ihm einmal mehr als Gott, der die Naturgewalten bezwingt. Hören bewirkt DezentralisierungDietrich Zilleßen beschreibt im Hinblick auf das verstehende Hören unter Bezugnahme auf meinen Beitrag "Gibt es die Transzendentalität in der Musik?"[6], dass der Dekodierungsprozess der musikalischen Codes beim verstehenden Hören die Dezentralisierung einzelner musikalischer oder außermusikalischer Parameter im Hörgeschehen bedeutet. Dies macht sich z. B. bei der wortgebundenen Musik durch eine Relativierung des Textes durch Ton, Rhythmus, Sound bemerkbar, welches den Text in der Musik immer zugleich in Lebensstil, Körper, Sexualität, Verschmelzung, Spiel, Performance und Inzenierung einbettet. [7] Deshalb ist es auch nicht sinnvoll, in musik- und religionspädagogischen Prozessen Texte zu verabsolutieren, sondern bereichernd sie nach ihrem Ausdruckspotential hin zu befragen, bzw. durch adäquat inszenierte Lernarrangements die dezentralisierende Wirkung dieser ästhetischen Formung im subjektiven Erleben bewusst werden zu lassen. Diese anspruchsvolle performativ angelegte Didaktik, welche kreativ-offene und handlungsorientierte Lernprozesse zur Folge hat, findet sich durchgängig in Dietrich Zilleßens Veröffentlichungen. Wie kann das mit seinen eigenen Worten aus der Perspektive des Hörers gesagt werden? Wir sprachen vorhin von den leisen Zwischentönen und dem dissonant Fragmentarischen, welche un-erhörterweise unsere musikalische Innenwelt aufrüttelt und bereichert: "Er [i. e. der andere Ton, Hinzuf. H. L.] ist unhörbare, vorübergehende Stimme in den Tönen. Es könnte in unserem Hören augenblicklich ein Passieren zu Gehör kommen, das uns vielleicht einen kleinen unheimlichen Moment lang dezentralisiert."[8] Dietrich Zilleßen greift hier auf die Theophanieerzählung in 1. Kön 19 zurück, wo der Prophet Elia auf dem Berg Horeb Gott hören darf: ähnlich dem Szenario im Jonabuch tosen zunächst die Naturgewalten, ein großer starker Wind, der die Felsen zerreißt und die Felsen zerbricht, ein Erdbeben und ein Feuer, der Herr aber war nicht im Wind, im Erdbeben und im Feuer, sondern danach erst kommt ein stilles, sanftes Sausen, und als das Elia hört, verhüllt er sein Antlitz mit dem Mantel. Es sind die un-erhört unhörbaren Töne, die uns dezentralisieren, indem sie uns einverleiben und nicht umgekehrt. Keine Macht den Ohrwürmern und den Tonangebern!Was ist aber, wenn etwas unaufhörlich den Ton angeben will? Wenn es sich der Ohren anderer bemächtigt? Auch wenn der Mensch weghören, die Ohren zumachen will, der Ohrwurm kann als ein parasitärer Befall unser gesamtes "zentrales Nervenkostüm" schwer erschüttern. Eine ähnlich unaufhörliche Erfahrung ist das mit tonangebenden Menschen hier liegt zudem dann auch noch die Machtfrage vor. Es ist schließlich nicht zu leugnen, dass z. B. ein Orchester eine hierarchische Struktur aufweist, welche ein Machtgefälle zum Ausdruck bringt, was nicht leicht zu verkraften ist: Da gibt es den Dirigenten, den 1. und den 2. Konzertmeister, den Vorspieler, die Stimmführer alle übrigen Musiker aber gehören zur Gattung der "Tuttischweine", wie es im Orchesterjargon heißt, diese stehen bisher nicht unter Naturschutz, obwohl es sich um eine bedrohte Art handelt. Die daraus entstehende zuweilen katastrophal disponierte Psychologie des einzelnen Musikers ist nirgends so eindrücklich und realistisch zugleich dargestellt worden wie in Patrick Süßkinds Roman "Der Kontrabass". Immer geben andere den Ton an, der Oboist nämlich, der, nachdem das gesamte Orchester Platz genommen hat, alleine und als erster den Kammerton anstimmen darf, auf dessen Grundlage jedes andere Orchesterinstrument eingestimmt wird, auf den schaut jetzt jeder und jede auch die meisten Leute im Publikum, wenn sie sich nicht noch gerade die Nase schneuzen wollen. Selbst der Paukist, der auch wie wir Kontrabässe eher weiter hinten sitzt, wird und ist damit meistens angesehen, wenn er auf die Pauke haut! Den Dirigenten Dirigentinnen sind nach wie vor in der Minderzahl sieht sowieso jeder, zwar stehen auch wir mit ihm als einzige Musiker aufrecht das Konzert durch, aber er schwingt den Taktstock, nicht wir. Wer schaut denn schon zum 4. Pult der Kontrabässe hin? Ja, werden wir eigentlich überhaupt mit den Ohren wahrgenommen in unserem 16-Fuß-Klangbereich, so fern ab von jeglicher melodiebildender Dominanz, die dem verwöhnten Publikumsohr viel vertrauter ist? Die Befreiung aus diesem undemokratischen und ungerechten orchestralen Machtgefüge kann nur durch einen das gesamte Konzert erschütternden und durch Mark und Bein gehenden Schrei erfolgen jetzt, erst jetzt schaut vielleicht auch die Solosängerin Sarah endlich einmal her zu uns, den Bässen, zum un-erhörten Fundament des Orchesters, von woher dieser animalisch klingende Laut herkommen musste. "Angesichts des Tonangebenden verstummt das Begehren des Anderen"[9], welches die Mitte des Ichs besetzt hat angesichts dieser Ton-Angeber ordnet sich jedes eigene Begehren in der Regel unter. Ich aber, der 4. Kontrabassist, ich halte nun nicht länger still: Mein Begehren bäumt sich gegen diese Spezies auf im Aufruhr, in der Revolte! Ich wage den Zwischenruf, der durch Mark und Bein geht! Wo sind die Zwischentöne hinter dem Tonangeben, welche die Illusion der Selbstmächtigkeit des Subjekts entlarven und ihr Macht entziehen?[10] Wo ist jener andere Ton, der sich fremd, leise und in der Regel vom Tonangebenden überdeckt sich nun unmerklich Gehör verschafft? Dietrich Zilleßen tritt religionspädagogisch stets für eine Entmachtung des Tonangebenden und damit Belehrenden ein und verschafft der Stimme des Anderen Gehör, welches sich uns in Erinnerung ruft: "Das in der Stimme Unhörbare, das in der Übereinstimmung und Stimmung Andere gehört zum Exodus aus dem, nach dem unser Bedürfnis ist. Die Stimme des Anderen ruft uns an, spricht an, ruft beim Namen, ruft heraus, evoziert, stört, hält in Fluss, ohne dass der Ruf eine Botschaft wäre. Theologische Erinnerung bezieht das eine Moment auf das andere: Exodus erhört Schöpfung."[11] Tönendes Erz und klingende SchelleWar Paulus eigentlich musikfeindlich eingestellt? Auf diese Idee könnte der Leser des ersten Korintherbriefes kommen, wenn es gleich zu Beginn etwas irritierend heißt: "Wenn ich mit Menschen- und Engelzungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich tönendes Erz oder eine klingende Schelle" (1. Kor. 13,1). Diese beiden erwähnten Klangkörper können schön klingen, sie haben jedoch eines gemeinsam: es fehlt ihnen die menschliche Einflussmöglichkeit auf deren Klangerzeugung in Bezug z. B. auf die Klangfarbe, allenfalls könnte man sie rhythmisch-motorisch beeinflussen, nicht aber in Bezug auf die Tonhöhe. In vokalen Zusammenhängen wird das Andere, der lebendige Klang, häufig so ausgedrückt: "Die Sängerin hat ein gewisses Etwas in ihrer Stimme", auch Lehnwörter werden bemüht: "diese Stimme hat ein wohltuendes Timbre." Übertragen auf musikästhetische Zusammenhänge ist hier an Resonanzerfahrungen zu denken, die im Hörprozess Stimmungen erzeugen: "Hören ist imaginäre Kommunikation, die mittels des Hörprozesses Vorstellungen, Bilder, Bedürfnisse in sich wahrnimmt, indem sie sich von der Stimme (von Musik) berühren, verführen, bewegen, stimulieren, motivieren lässt."[12] Deshalb stellt Paulus die Liebe sogar über den Glauben: Es nützt einer noch so guten prophetischen Rede nichts, wenn sie nicht die Liebe hätte, und es nützt dem Menschen nichts, wenn sein Glaube obwohl er Berge versetzen könnte keine Liebe hätte, er wäre nichts. Religionspädagogische, musikpraktische und theologische Kommunikationsprozesse können nur dann Resonanzerfahrungen auslösen, wenn sie, um noch einmal den Ausdruck von Anne-Sophie Mutter zu verwenden, mit dem Herzensohr hören und handeln. Dies hat Dietrich Zilleßen auf seine ihm eigene klangvolle Art religionspädagogisch immer wieder zur Sprache gebracht, nicht nur vom Hörensagen sondern mit dem Herzensohr. Anmerkungen
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