26. November 2006 Ein Kunstwerk werden Wie fühlt man sich als Teil eines Kunstwerkes? Was gibt es dabei zu erleben? Wie ist es, betrachtet und erfahren zu werden? Wer wird kommen? Und wie vor allem wird sich all dies aus der Perspektive eines theologischen Beobachters ausnehmen, der ich bin? Ich werde darüber einmal in der Woche berichten und die Erfahrungen meiner wöchentlichen Dreieinhalbstundenschicht in Tino Sehgals Choreographie an dieser Stelle veröffentlichen. Am Donnerstagabend können Sie meine ersten Notizen lesen. Also, schauen Sie dann mal rein.
Bis dahin, Jörg Herrmann |
30. November 2006 - Hey Ja, wir sind die Interpreten des Werkes von Tino Sehgal. Wir sind mehr als Laiendarsteller, denn die müssen ja eine ziemlich genau definierte Rolle ausfüllen. Wir hingegen haben Spielraum, Freiheit, das macht die Sache leicht und schwer zugleich. Wer mag da gleich mit Tobias um die Ecke kommen. Ein Mann, eine Frau? Wie wird es mir gelingen, mit ihr, mit ihm ins Gespräch zu kommen? Aha, aufgepasst. Ein älterer Herr, um die 60. Altachtundsechziger? Es ist laut, Züge rattern, ich verstehe kein Wort, muss die Treppe rauf, aber in der Nähe bleiben, unerkannt möglichst, jedenfalls mein Gesicht sollen die Besucher nicht sehen. Eine Beschattungsaufgabe, ein Stück Stasi sozusagen. Aber nicht in drangsalierender Absicht. Das einzige, was ich aufschnappen kann: es geht irgendwie um die FAZ, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, laut Rudolf Augstein die "vielleicht wichtigste Zeitung im Land". Die "vielleicht beste Zeitung im Land" war seiner Meinung nach allerdings die Süddeutsche. Ich lese die taz und bleibe dran, eile auf meine nächste Position. Die Stimmen kommen näher. Dann trete ich hervor, biege um die Ecke, mische mich ein. Mit einem Satz, der Gehörtes aufnimmt und ein Gespräch eröffnet. "Ich habe den Eindruck, dass sich die FAZ in den letzten 30 Jahren sehr verändert hat." Der Besucher ist einen Moment irritiert über mein Hereinplatzen. "Ja", sagt er dann, "das kann man sagen." "Das ist Jörg", stellt mich Tobias vor. Wir schlendern weiter durch die weißen, hellen Räume des Kunstvereins, das Gespräch dreht sich um die FAZ, der Besucher ist der Meinung, dass insbesondere die Kulturseiten zu bloßen Propagandainstrumenten eines Herrn Schirrmacher heruntergekommen seien, der mit Aust, Diekmann und Döpfner unter einer Decke stecke. Wir treten in einen weiteren Raum ein. Tobias ist mittlerweile verschwunden. Der Besucher notiert es und irgendwie kommen wir durch sein Bemerken auf die Lage der Generation des 19-jährigen Tobias zu sprechen, der berühmten Generation Praktikum, einer Generation, nach der niemand ruft. Ganz anders, bemerkt mein Gesprächspartner, als zu seiner Zeit. Er habe direkt nach dem Studium eine ganze Reihe von Arbeitsangeboten erhalten, ohne sich überhaupt groß beworben zu haben. Dieser Unterschied beschäftigt uns weiter, die Kontingenz der eigenen Position in der Geschichte, eine Position der offenen oder geschlossenen Türen, Situationen, die man nicht beeinflussen kann, in die man hineingeworfen ist, mit denen man zurechtkommen muss. Ist das gerecht? Wir nähern uns dem Raum drei. Es geht auf den Spalt zu. Zwei schnelle Schritte und ich verschwinde in der Lücke, meine Kollege tritt hervor, nennt seinen Namen und sagt: "Der Titel dieser Arbeit lautet: Dieser Fortschritt." Manche dieser Gespräche beschäftigen einen noch länger. Hier die Wahrnehmung der generationellen Positionalität: dem einen standen alle Türen offen, gut dreißig Jahre später sieht die Welt ganz anders aus. Höhere Gewalt? Warum? Ich melde mich wieder am Freitagabend, 15. Dezember, nach meiner nächsten "Schicht". Bis dahin, Jörg Herrmann
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15. Dezember 2006 - Fortschrittsfetzen Mein letzter Auftritt lag zwei Wochen zurück und ich war gespannt, von den anderen zu hören, wie sich die Resonanz entwickelt hatte. Als ich in den Aufenthaltsraum der Mitwirkenden eintrat, wurde ich zu meiner Überraschung von einem mir bisher noch unbekannten Interpretenkollegen namentlich begrüßt. Es stellte sich heraus, dass er vor einigen Jahren an einem Kunsthistorischen Seminar über Religion im populären Film teilgenommen hatte, das ich geleitet hatte. Damals hatte er sich als erbitterter Gegner meiner Thesen profiliert. Heute, so bemerkt er, stimme er mir vollkommen zu. Die siebte Kunst, das Kino sei voller Religion. Späte, unerwartete Versöhnung. Doch was ist mit der Kunst von Tino Sehgal? Und wer will diese Kunst sehen? Eine Kunst, die man nicht greifen kann und die sich je anders vollzieht, die man sich nicht an die Wand hängen kann und deren Qualität von der kontingenten Begegnung von Menschen abhängt. Kaum BesucherInnen am Vormittag berichtet man mir, auch gestern wenig Zuspruch. Aber es hatte auch schon andere Tage gegeben, mit Schlangen und Engpässen. Heute sah jedoch alles nach einigen Plauderstündchen mit meinen Mitinterpreten aus und nach "Zeit"-Lektüre, nach Unterbrechung, die man besonders als Theologe in der Adventszeit gut gebrauchen kann, nach Religion also, traut man der laut Johann Baptist Metz kürzesten Definition für Religion: Unterbrechung eben. Am besten war gestern, als wir in der letzten ruhigen halben Stunde Rückschau auf die Besucher hielten, unser ältester Mann orientiert, der Kollege Hans-Jürgen, der mich auf dem Parcour ablöst, indem er den Besuchern entgegentritt, wenn ich am Ende meines Kurses mit schnellen Schritten in einer Raumspalte verschwinde. Er kann sich offenbar leichter und präziser erinnern, vielleicht auch, weil sein Auftritt mit einer stärkeren von ihm selbst gestalteten Setzung verbunden ist. Er hält den BesucherInnen nämlich einen kleinen Vortrag, beansprucht aufgrund seines Alters mehr Autorität als ich, der ich nur auf einem bestimmten Kurs mit ihnen durch die Räume schlendere und mich bemühe, ein Gespräch zu führen, das vorher Gesagtes und Belauschtes aufgreift und sich dabei, ganz grob jedenfalls, im Rahmen der Fortschrittsthematik bewegt. Was mich jedenfalls heute noch beschäftigt: Die Ethnologin, der ich mit meiner Frage nach den Maßstäben für ein Besser oder Schlechter entgegengetreten war und die mir mit einem gruppenbezogenen Werterelativismus geantwortet hatte. Die Deklaration der Menschenrechte hätten Anthropologen und Ethnologinnen auf der Basis dieses Konzeptes als imperialen und darum abzulehnenden Universalismus gebrandmarkt, als Versuch einer Gruppe, der Welt ihre Werte aufzwängen. Jede Gruppe sollte hingegen nach den in ihrem Kontext gewachsenen Regel leben können, ohne Störungen und Einmischungen von außen. Aber, so frage ich zurück, sollen wir dann die Ehrenmorde akzeptieren und die Genitalverstümmelung bei afrikanischen Mädchen? So will sie nicht verstanden werden: Wenn andere Gruppen mit differenten Wertesystemen bei uns leben, in unserem Rechtsraum, dann müsste solches Verhalten selbstverständlich am hier geltenden Recht gemessen werden und Verstöße geahndet werden. Wir kommen darauf, dass die Globalisierungsdynamik natürlich das Problem der Verständigung und der Konflikte verschärft. Aber ehe wir diese Frage nach dem Verhältnis von Wertepluralismus, Werterelativismus und einheitlichen Rechtsräumen vertiefen können, bin ich verschwunden. Hans-Jürgen übernimmt. Fortschritt, ein vieldeutiger Begriff. Technischer Fortschritt, moralischer Fortschritt. Dazwischen liegen Welten. Und nicht zuletzt persönlicher Fortschritt. Aber was ist das? Darum dreht sich zunächst das Gespräch mit zwei etwas älteren Damen und einem Herrn. Der Mann wirft ein, dass es, wenn man Luthers Theologie ernst nehme, eigentlich keinen Fortschritt geben könne. Der Mensch, dem Scheitern und der Sünde ausgeliefert. Warum rackern wir uns dann so ab? Warum die Mühen, wenn der Fortschritt in Sachen Gerechtigkeit doch nur ein vorübergehendes Aufbäumen ist, dessen Effekte verpuffen? Irgendwann kommt ein Kunstseminar und bringt unweiterlich seine Themen mit. Drei junge Studentinnen. Wir sprechen über Konkurrenz und Wettbewerb. Der oder die beste solle gewinnen. Ich will jetzt doch mal wissen, wie diese jungen Frauen ihre ganz persönliche Berufsperspektive sehen. Die Statistiken sprechen bekanntlich eine eindeutige Sprache: nur wenige Prozent der KunstabsolventInnen können später von ihrer Kunst leben. Ja, das sei ihnen bewußt. Aber sie würden schon mit dem Ehrgeiz antreten, einmal zu diesen Wenigen gehören zu wollen. Hier muss man an sich glauben. Ob sie das auch so sehe, frage ich eine der drei Ladies, die sich bisher kaum geäußert hatte. Früher schon, aber, so räumt sie ein, mit den Jahren des Studiums sei auch Ernüchterung eingekehrt. Immerhin könne man ja auch andere Jobs machen, um seine Brötchen zu verdienen. Kunst und Kellnern? Während Meese und Richter absahnen, weil ihre Sachen gerade passen, weil sie Glück haben: weil die Kombination aus genetischen Voraussetzungen, biographischen Hintergründen, individueller Ambition und soziokultureller Position gerade ins Bild passt. Kunst-Lotterie. Wenige Hauptgewinner, viele Verlierer. Teilnehmen bedeutet die Chance auf einen Hauptgewinn, aber die Wahrscheinlichkeit leer auszugehen, ist, wie beim Lotto, unendlich viel größer. Diese drei haben sich für die Teilnahme entschieden. Glückauf! Zum Glück, so assoziiert der Theologe, ist Weihnachten immer noch eine Veranstaltung, bei der im Prinzip alle beschenkt werden oder jedenfalls beschenkt werden sollen. Eine Veranstaltung gegen das Lotterie-Prinzip. Jedenfalls von seinen Wurzeln her gesehen. Ich melde mich am 29. Dezember wieder an dieser Stelle. Bis dahin: frohe Weihnachten! Jörg Herrmann |
30. Dezember 2006 Offenheit und Dichte Zwei BesucherInnen sind mir noch besonders im Gedächtnis. Eine mittelalte Frau und ein noch etwas jüngerer Mann mit schwarzen Haaren. Bei der Frau wagte ich einen recht persönlichen Einstieg. Ich hatte aufgeschnappt, dass sie von der Reife des Kindes am Eingang beeindruckt war. Auf der Basis dieser Wahrnehmung stieg ich mit der Beobachtung ein, dass mir bei meiner vierjährigen Tochter schon wiederholt aufgefallen ist, wie viel sie schon kann, und dass ich bei ihr, aber auch bei anderen Kindern gelegentlich den Eindruck habe, sie seien viel kompetenter als ich selbst es im gleichen Alter war. Die Besucherin stimmt mir zu, sie mache ähnliche Beobachtungen und wir vermuten, dass es sich um einen Trend handelt. Hat sich also die Entwicklung der Kinder beschleunigt, lassen diese Beobachtungen im Blick auf die Verbesserung des Menschen und der Welt hoffen? Wir räsonnieren noch ein wenig über diese Frage, ohne konkretes Ergebnis, aber in einer freundlichen spekulativ-meditativen Atmosphäre. Bis ich schließlich verschwinde. Der Mann ist demgegenüber ein harter Brocken. Er entpuppt sich bald als Künstler und will genau das tun, was Tino Sehgal als Todsünde gebrandmarkt hat: er will über die "Arbeit" von Sehgal sprechen. Ich erläutere ihm, dass ich, wenn ich mich darauf einlasse, ein Tabu verletze, dass mir aber in der Freiheit des Interpreten diese Überschreitung erlaubt ist und ich also ausnahmsweise auf seinen Wunsch eingehen wolle. Der Künstlerbesucher moniert gleich zu Beginn, dass das aufgeführte Werk von Sehgal "zu offen" sei. Er habe in Berlin schon etwas anderes gesehen, erlebt, dass ihm weitaus besser gefallen habe. Der Zuschauer wurde dort mehr bedrängt und herausgefordert, die Hamburger Anordnung plätschere demgegenüber so vor sich hin und sei ihm letztlich "zu lahm". An genau diesem Punkt beschleunige ich mit schnellen Schritten und entziehe ich mich der Kommunikation und lasse ihn mit seiner Klage über die Lahmheit allein zurück. Es hängt natürlich bei dieser "Arbeit" ganz klar an dem, was sich jeweils zwischen BesucherIn und InterpretIn ergibt. Das kann lahm sein oder werden, kann aber auch erstaunliche Intensitäten erreichen, die Intensität von Gesprächen, wie man sie auch aus Begegnungen in Zügen kennt, wo man weiß, dass man seine GesprächspartnerIn vermutlich nie wiedersehen wird, was manchmal dazu ermutigt, in durchaus unüblicher Offenheit miteinander zu sprechen. Gespräche unterwegs sozusagen, während des Gehens und Fahrens. Im Neuen Testament gibt es auch so ein Gespräch auf Reisen: Philippus steigt beim Kämmerer auf den Wagen (Apostelgeschichte 8, 26-42). Während der Fahrt nach Jerusalem redet er mit dem Gottsucher aus dem Morgenland, erläutert ihm den Propheten Jesaja. Dem Kämmerer erschließt sich daraufhin der Sinn der neuen Religion der Christen und er will prompt getauft werden. Das geschieht auf der Stelle, als ein Fluss in Sicht kommt, und, so heißt es weiter, "er aber zog seine Strasse fröhlich". Das Reisegespräch, die Kommunikation von Unterwegsseienden ist hier von existenzieller Bedeutung. Fahrende und Gehende, die Schrift und Erfahrung interpretativ erschließen, können sich offenbar zu einschneidenden Einsichten verhelfen. Warum sollte das nicht auch für den Kunstverein gelten? Man müsste die BesucherInnen einmal befragen und eine qualitative Studie durchführen. Ich melde mich erst im neuen Jahr wieder, am 4. Januar oder auch, wenn es wieder eng wird, erst am 5. Januar. Frohes Feiern und bis dahin, Jörg Herrmann |
05.01.2007 - Nachtwächterstaat Ich bin gerade wahnsinnig frustriert: habe über eine Stunde geschrieben und dann falsch geklickt: alles weg. Darum nun im Telegrammstil: Interpret zu sein bei Sehgal ist ganz schön aufwendig. Heute hat es mich einen vollen Arbeitstag gekostet: Tochter in den Kindergarten, Telefonat, Interpretationsschicht, Gespräch, Kindergarten. Computerei bis spät in die Nacht wegen der aufgetürmten Arbeit (1:53 ist es jetzt). Darum die dringende Bitte an den Künstler weiterhin gute Ideen zu liefern, damit den Interpreten nicht langweilig wird und sie eine gute Zeit haben! Meese kann ja in einer Nacht zehn Blätter bemalen, die in Miami für 10000 Dollar pro Stück verkauft werden und dann nur noch von flüchtigen Blicken gestreift werden (was zeigt sich da?). Ich war aber nun schon 24 Stunden Teil einer Arbeit von Sehgal. Das ist sehr viel Zeit. Das Ganze erinnert übrigens ein wenig an Duchamp: Wir Interpreten und Besucher sind ja in den Kunstkontext gestellt und werden dadurch bedeutsam. Ich konnte das beobachten. Das Kunstsystem sorgt für Erwartungen, erzeugt eine Aura der Bedeutsamkeit. Ich sage nur "Panama", wer Ohren hat zu hören.... Heute hatten wir Dänenbesuch. Doch zuvor Neoliberalismuslektion von einer quirligen Frau mit Brille. Sie hat mir den neoliberalen Nachtwächterstaat erklärt, in dem der Markt alles regelt und der Staat nur läppische Nachtwächterfunktionen hat, sozusagen aufpassen muss, dass nicht zu viel geklaut wird. Ich habe sofort die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft eingeklagt (siehe auch Berthold Vogel unter www.hamburger-edition.de). Nachtwachen reichen dem Patienten nicht aus, das Personal muss auch mal operieren und eine Visite machen. Ein Ehepaar um die 60 spricht über Krieg. Ich frage, ob eine Abschaffung des Militärs in der Menschheitsgeschichte noch denkbar sei. Früher, meint der Mann, habe er daran geglaubt. Ich erinnere an diese Zeit des Aufbruchs und der Aufladung in den 60er und 70er Jahren (manche wollten auch die bessere Welt herbeibomben, siehe: http://www.dtv.de/dtv.cfm?wohin=dtvnr24584). "Man glaubte, noch etwas ändern zu können, da haben Sie etwas gesagt." Ich verschwinde in diesem Moment in meiner Lücke. Zwei Dänenjungs erläutern mir, dass das Land nach 12 Jahren Sozialdemokratie jetzt wieder einen liberalen Regierungschef habe, der auf sein Buch über den Minimal-Staat nicht mehr angesprochen werden möchte, weil ihm die Praxis des Regierens gezeigt habe, dass der besagte Nachtwächterstaat nicht ausreicht. Da haben wir es! Jörg Herrmann |
14.01.2007 - Der Engel der Geschichte Heute, am 14. Januar 2007, ist die Ausstellung von Tino Sehgal zu Ende gegangen. Es war ein Sonntag mit 160 Besuchern. Wenn man bedenkt, dass eigentlich immer nur ein oder zwei Besucher oder in Ausnahmefällen eine kleine Gruppe zu gleicher Zeit die Arbeit besuchen können, sind 160 sehr viel. Heute nun hatte Tino Sehgal alle Interpreten im Anschluss an die letzte "Schicht" noch zu einer generationenübergreifenden Zusammenkunft eingeladen. Es gab ein von allen bestrittenes Bufett, eine Dankesrede des Künstlers und viele Erzählungen von schlimmen und lustigen Erlebnissen mit Besuchern der Arbeit (darunter natürlich auch bekannte Kuratoren, Künstler, Sammler und Kritiker). Es war ein wirklich netter und sehr unterhaltsamer Abend. Viel wäre darüber zu sagen. Ich will nur zwei Fragen jetzt zum Schluss noch einmal aufgreifen. Die eine hat der Kommentar des "grünen Auges" vom 2. Dezember aufgeworfen. Das grüne Auge hatte meine Aufgabe als spannend und unwirklich bezeichnet und gefragt, wie die Besucher auf "diese Art der Offenbarung" reagieren. Sie reagieren gut, d.h., viele sind angeregt, erheitert, nachdenklich gestimmt, jedenfalls auf irgendeine Weise berührt. Nicht alle natürlich. Es hängt an der Bereitschaft der Besucher, sich auf das Angebot einzulassen. Die Fortschrittsthematik gibt den Rahmen ab, aber darin ist Vieles möglich. Sehr existenzielle Gespräch, aber auch quälender Smalltalk und der mühsame Versuch, irgendwie ein Gespräch am Leben zu erhalten. Am heutigen Abend berichtete eine Interpretin, ein Besucher habe gemeint, es gebe nur technischen Fortschritt, in keiner anderen Hinsicht könne von Fortschritt die Rede sein. Das bringt mich auf die zweite und entscheidende Frage: Gibt es einen Fortschritt in anderen Hinsichten und auf anderen Ebenen als auf der technisch-naturwissenschaftlichen? Als Theologe bin ich an diesem Punkt eher skeptisch. Auch als ein Beobachter der bisherigen Menschheitsgeschichte kann keine Euphorie aufkommen. Da scheint mir das Bild von Walter Benjamin treffend, der in seinen berühmten geschichtsphilosophischen Thesen den Engel der Geschichte beschreibt, der in die Vergangenheit blickt und dort nur "eine einzige Katastrophe" erblickt, die "unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagen zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm." Diese Sicht konvergiert mit der theologischen. Die theologische Sicht geht ebenfalls vom Zustand wiederholten Scheiterns aus. Mit dem Scheitern ist zu rechnen. Ein Fortschritt zum Himmelreich ist nicht möglich. Es gibt nur vorübergehende Besserungen. Ein qualitativer Sprung bedürfte eines neuen Menschen, einer neuen Schöpfung. Denn die vorhandene ist zweideutig. Wer wollte das leugnen? Jörg Herrmann |
Die Kunst von Tino Sehgal nimmt allein in dem Moment Gestalt an, in dem der Zuschauer ihr begegnet. Für seine Arbeiten benutzt er Interpreten, die mit den Besuchern der jeweiligen Ausstellung in Form von Bewegungen, gesprochenen Worten oder Gesang in Kontakt treten. So lässt er zum Beispiel in einer Ausstellung als Museumswärterinnen verkleidete Interpretinnen einen Satz singen wie This is propaganda, you know, you know. Seine Arbeiten, die nur in Museen oder Kunstausstellungen realisiert werden, sind käuflich und können über Monate hinweg während der ganzen Öffnungszeit aufgeführt werden. Von seinen Arbeiten gibt es keine filmischen oder fotografischen Aufnahmen.[Quelle: wikipedia, Art. Tino Sehgal] |