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Magazin für Theologie und Ästhetik


Fragmente einer „fidelen“ Lebenskunst

Lieben, Sein lassen, Verwandeln, Scheitern

Marcus Ansgar Friedrich

Auftakt

 „Was kann Religion zu einem guten Leben beitragen?“ Das Thema liegt dem Theologen am Herzen, weil es quasi die Grundfrage seiner beruflichen, seiner Lebenspraxis, man könnte auch sagen seiner Lebenskunst ist. Die Fragestellung selbst verleitet schon dazu, bei „Adam“ anzufangen und bei „unendlich“ aufzuhören. Denn, sollte man nicht sagen: Eigentlich alles Entscheidende trägt Religion zu einem guten und schönen Leben bei? Ganz so steil soll hier nicht eingestiegen werden, im Folgenden kommen ein paar begrenzte Versuche der Verhältnisbestimmung von Lebenskunst und Religion zur Darstellung. Nach dem Präludium geht es zunächst I. um priesterliche Existenzen als Lebenskünstler Gottes.

Es folgen drei weitere Perspektiven: II. Religion und die Lebenskunst des Seinlassens, III. Religion und die Lebenskunst der Verwandlung, und schließlich, IV. Religion und die Lebenskunst des Scheiterns.

Präludium

Zum Einstieg eine kleine Beobachtung: Das Thema steht in Anlehnung an Aristoteles unter der Frage nach dem guten und schönen Leben. Ist es Zufall, dass man als Theologe in erster Linie nach dem guten und weniger nach dem schönen Leben fragt? Unterstellen wir nicht immer wieder schnell, im Bereich der Ethik läge der wesentliche Beitrag von Religion fürs Leben? Ich möchte diesen kleinen Unterschied gegenüber dem Thema „Vom guten und schönen Leben“ nicht überbewerten. Ich möchte ihn aber nutzen, um das schöne Leben erst recht mit ins Geschehen dieses Textes und in den Raum der Religion zu holen: In Theologie und Kirche und in der neuen transkulturellen religiösen Sensibilität feiern wir gerade auch eine Renaissance des schönen, des kunstvollen religiösen Lebens und begreifen Religion endlich wieder in dem Umfang als ästhetisch-schöpferische Praxis, wie es dem Universum des Glaubens entspricht.

Diese Vielfalt genauer zu beschreiben, würde hier zu weit führen. Nur ein Beispiel aus der religiösen Pop-Kultur: Wer einmal durch einschlägige City-Viertel Hamburgs gegangen ist, und sieht, wie der „Yuppie-Buddhismus“ zugleich geistliches Leben light und urbaner Einrichtungsstil ist, wird dies bestätigen können. Vielfach geht es um schöner Wohnen durch und mit „schöner Beten“! Vielleicht müssten wir Ikea entsprechend modifizieren: „Wohnst du noch oder betest du schon?“

Verwunderlich ist das nicht, denn Religion ist nicht in erster Linie ein funktionaler Apparat zur Bewältigung von Krisen, etwa nach dem Motto: Wenn das Schöne aufhört, dann geht der Glaubenskampf ums Gute los. Religion bietet vielmehr ein lebenskünstlerisches Multiversum, in dem Ethik und Ästhetik untrennbar mit- und ineinander wirken.

I. Priesterliche Existenzen - Lebenskünstler Gottes

Eine Theorie, insbesondere ein Ansatz der Lebenskunst, wird immer auch ein Stück mit der und durch die Person dessen begreiflich, der die Theorie als eine Reflexion auf sein Leben entworfen hat. In welcher Weise steht das Leben, das er oder sie führen, im Verhältnis zum gedanklichen Entwurf? Ist er selbst ein Lebenskünstler, ist sie als eine Lebenskünstlerin erkennbar? Oder lehren er oder sie womöglich das, was ihr Leben am meisten vermissen lässt, nach der lebenspraktischen Regel: „we teach, what we want to learn?“

Ohne Umwege führt also die Frage nach der Lebenskunst in der Religion zur eigenen Person. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, dass ein Großteil der populären Lebenskunstliteratur den Charakter von Lifestile-Beratern im „Du-Stil“ hat, so dass man gar nicht umhin kommt, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Es geht schließlich um die Lebenskunst selbst. Sie stellt immer auch die Frage, in welcher Weise ich mein Leben wahrnehme und gestalte, wie ich mein Leben führe. Lebensführung verstehe ich dabei als einen ästhetischen Gestus, Führung, wie einer den Strich eines Pinsels führt, oder ein anderer etwa das Wort im Munde führt.[1]

Was für eine Art Lebenskünstler gibt sich hier zu lesen, ist hier also auch die Frage, ohne zu lange damit belästigen zu wollen: Es ist erstaunlich und der erste Weg ins Thema, dass die Rolle des Berufsreligiösen, des Priesters, Pastors, Vorbeters, Seelsorgers lebenskünstlerische Dimensionen hat. Ein Pastor ist eigentlich eine Art lebenslänglicher „Life-Artist in Residence“. An einigen Rahmenbedingungen seiner Arbeit ist das gut abzulesen: Es beginnt damit, dass er keinen Lohn im engeren Sinne für seine Arbeit erhält, keine Arbeitsstunden hat und demgegenüber andere Stunden so genannter Freizeit. Es ist in der Erwerbsgesellschaft etwas außergewöhnliches, dass er dies – wie ein Künstler, Maler oder Dichter - auch nicht gebrauchen kann. Versucht man seine Arbeit nach diesen Kategorien zu bewerten, wird man dem Tun nicht gerecht. Ein Pastor wird nach dem Pfarrergesetz bezeichnenderweise alimentiert für das Leben, das er führt. Geistlich und ästhetisch praktisch ist es entsprechend sinnvoll, von unterschiedlichen Aufgaben zu sprechen, die im Spannungsfeld zwischen Seelsorge und Selbstsorge ausbalanciert werden müssen. Dieses Amt ist in erster Linie eine Aufgabe der Lebensführung im oben benannten Sinne; das ist ein Privileg und eine Last zugleich.

Die Wahrnehmung einer lebenskünstlerischen Rolle hat unter anderem zur Folge, dass die Tätigkeit des Pastors sich von außen oft konventioneller Bewertungen entzieht und entziehen muss, mit dem Effekt, dass die Belastungen der pastoralen Existenz entweder radikal überschätzt oder unterschätzt werden. Zwischen dem überarbeiteten und zu bedauernden Pastor und dem faulen Beutelschneider, der mit den schönen Dingen Geld verdient, die andere in ihrer Freizeit zum Vergnügen machen, ist da alles drin. Damit der Pastor alle Freiheit hat, aus eigener geistlicher Erfahrung ein Lebenskünstler Gottes zu werden, seine eigene geistlich schöpferische Glaubens- und Lebensspur darin zu verfolgen, ist seine dienstliche Aufgabe im evangelischen Horizont bewußt so minimal wie möglich definiert. Kirche ist da, wo das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente recht verwaltet werden. Dafür hat der Pastor zu sorgen, für nichts eigentlich mehr, aber auch nicht weniger. Und was das heißt, ist aus theologischen Gründen relativ unterbestimmt!

Das, was ein Pastor wie jeder Priester auch in anderen religiösen Kulturen praktisch tut, ist darüber hinaus vorrangig ästhetische Praxis und Inszenierung. Der Lebenskünstler Gottes feiert Rituale, er singt, bewegt sich und leitet andere dazu an, er liest, redet und interpretiert heilige Texte.

Es ist nur folgerichtig für eine Existenz als Lebenskünstler Gottes, dass die pastorale Existenz nicht mit der Pensionierung endet. Dem Pfarrer bleiben alle Rechte seine Aufgabe, sein Amt bis an das Ende seines Lebens auszuüben, seine Lebensform fortzusetzen, entsprechend den Belastungen, die er noch zu tragen vermag.

Nun ist in der Entwicklung der Idee etwas eingeflossen, was bewusst gemacht werden muss, weil es grundlegend für das Verhältnis von Religion und Lebenskunst ist. Die Rede vom „Lebenskünstler Gottes“ verdeutlicht, dass religiös motivierte Lebenskunst zuerst und zuletzt Beziehungspflege ist. Aufgabe ist ein Leben aus, durch und mit dem anderen, mit Gott.

Exemplarisch und hauptamtlich, auch ein Stück stellvertretend, hat der Priester, die Pastorin, der Mönch im Kloster diese Rolle auszufüllen, mit dem göttlichen ein schönes und gutes Leben zu führen, sozusagen der „Lebenskünstler Gottes vom Dienst“ zu sein. Der Text in chassidischer Tradition von Martin Buber zum „Du“ gibt das dialogische religiöser Lebenskunst in einzigartiger Form wieder:

Wo ich gehe - Du !
Wo ich stehe - Du !
Nur Du, wieder Du, immer Du !
Du, Du, Du !
Ergeht's mir gut - Du
Wenn's weht mir tut - Du
Du, Du, Du
Himmel - Du, Erde - Du
Oben - Du, unten - Du
Wohin ich mich wende, an jedem Ende
Nur Du, wieder Du, immer Du
Du, Du, Du[2]

Wie nun entsteht Schönheit als Qualität einer Beziehung, tiefe nicht oberflächliche Schönheit? Sie entsteht durch Liebe und Freundschaft, die in dieser Beziehung wirken - womit wir doch und immerhin ohne große Umwege beim guten Leben ankommen, nachdem auch gefragt war. Erste Antwort also auf die Frage, was kann Religion beitragen zu einem guten Leben? Liebe, die in der Orientierung am Du, die in der Beziehung wurzelt.[3] Augustin hat die christliche abendländische Lebenskunst einmal auf die paar Worte eingeschmolzen: „Ama et fac quod vis, liebe und tu, was du willst!“

Lebenskunst ist demnach zuerst ars amandi, die Kunst zu lieben, liebevolle Begegnungen mit Gott in anderen Mitmenschen und der Kreatur, und liebevolle Begegnungen mit Gott im eigenen selbst anzubahnen, zu gestalten.

Liegt hier ein Proprium religiöser Lebenskunst vor? Es ist ein Symptom, dass in Wilhelm Schmids „Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst“ (2000) kein Kapitel über Freundschaft und Liebe vorkommt. Alles scheint zunächst auf das Freiheit und Selbstbestimmung suchende Individuum bezogen. Im „Buch der Lebenskunst“ (2002) des Benediktinerpaters Anselm Grün - man beachte den anmaßenden Titel „Das Buch der Lebenskunst“, als ob es kein anderes gäbe - da hingegen bildet das Kapitel über Freundschaft die Mitte seines Entwurfes.

Zwischenruf der prophetischen Stimme Herman v. Veens: „Es hört sich so leicht an, einfach jemand lieben, doch wehe, wenn man’s anfängt!“ „Wie ist es möglich, dass, wenn man hart urteilt, die religiös engagierten Brüder und Schwestern ästhetisch und ethisch, oft keinen Deut besser scheinen als die anderen?“, diese Frage mag dem Leser auf der Zunge brennen. Das ist ein weites Feld. „Es hört sich eben so leicht an, einfach jemand lieben, doch wehe, wenn man´s anfängt!“ Es ändert aber nichts an den Grundprämissen einer religiösen Lebenskunst christlich Prägung, die ihre Gültigkeit und ihre Notwendigkeit für ein schönes und gutes Leben behalten. Was wär unser Leben ohne das Du, ohne Freundschaft und ohne Liebe?

II. Religion und die Lebenskunst des Seinlassens

„Endlich Ruhe!“, das wünscht sich die Norddeutsche Entertainerin Ina Müller als Inschrift für ihren Grabstein am Ende ihres Lebens. Das bekam ich gerade vor ein paar Wochen am Fernseher zu hören, als ich mich in die Theorien der Lebenskunst vertiefte. Ausgerechnet Ina Müller, die für endloses reden, moderieren, kommentieren, für scherzen, spielen, singen und schreien steht, bringt eine Sehnsucht nach Unterbrechung dieses Wort- und Lebensschwalls zum Ausdruck, den sie im Tode selbst verkörpert; „Endlich Ruhe!“. Dabei muß man nicht bis ans Ende aller Zeit mit der Ruhe warten: Was heute immer mehr Menschen in der westlichen Kultur zu ihrer eigenen, spirituellen und körper-ästhetischen Praxis machen, war schon Bertold Brecht als Prinzip der Lebenskunst bekannt. Er dichtete, wenn sicher nicht buddhistisch, dann den Regeln der Inspiration folgend:

„Geh ich zeitig in die Leere,
Komm ich aus der Leere voll,
Wenn ich mit dem nichts verkehre,
Weiß ich wieder, was ich soll,
Wenn ich liebe, wenn ich fühle,
ist es eben auch Verschleiß,
gehe ich zeitig in die Kühle,
werde ich wieder heiß.“
[4]

Beim Lebenskünstler, den Christen Gottes Sohn nennen, Jesus von Nazareth, wird der Ort der Leere dann etwa so angekündigt: „Kommt her, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch eine Pause geben.“ (Mt 11, 28) Annapauo steht da im Griechischen, insofern ist es nicht ganz korrekt, wenn Luther „ich will euch erquicken“ übersetzt.

Was kann Religion zu einem guten Leben beitragen? Religiöse Lebenskunst unterbricht den alltäglichen Gang, sie führt immer wieder in die Stille, die von Anhalten, Stehen, kommt, im tosenden Lauf der Welt. Die vita passiva haben die Mystiker des Mittelalters das genannt, ein Leben, das auf einen Punkt absoluten Nichttuns, des Seinlassens hinausläuft. Als Gegenbewegung zu dem Lebenswettlauf, der Sätzen wie „Gehen se mit der Konjunktur!“, dem Gesellschaftsprojekt „Zeitmanagement“ und anderen heilsversprechenden Lebensprogrammen folgt.

Während Wilhelm Schmid in seinem Lebenskunstentwurf mit der „Arbeit der Sorge“ beginnt, setzt religiöse Lebenskunst bei der Unterbrechung, der „Aufhebung der Sorge“ ein.[5] Das macht natürlich nur Sinn, wenn die bestehende Sorge wahrgenommen wird. Die Perspektive vom göttlichen Horizont her ist aber eher weltdistanzierter und sucht die absolute Gegenwart, die Präsenz, in der Anapausis, der Stille.

„Sorgt euch also nicht um morgen, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen.“ (Mt 6, 34) Das sind die Spitzensätze des Tagediebes aus Nazareth, die uns ermuntern, Abstand zu nehmen, um auf das Wesentliche zu schauen. Auf die Frage, wohin mit der Sorge, gibt der 1. Petrus eine gestische Antwort: „Alle Eure Sorge werfet auf ihn“ heißt es im Kpt. 5, V. 7. Das ist eine impulse Gebetshandlung, man bemerke wieder die Beziehungsdimension darin. Diese Personalisierung ist natürlich etwas anderes als die apersonale Leere im Gegenüber. Allerdings hat sie unter Umständen ähnliche Wirkungen: Welt- Selbstvergessenheit, dessen, der alles sein lassen kann, auch die Sorge.

III. Religion und die Lebenskunst der Veränderung

Wenn sich einer entledigt dem Lauf der Dinge, wenn sich eine vom Alltag der Welt entledigt, ergibt sich die Chance der Veränderung, des Neuanfangs. Viele ritualisierte Gesten solcher Befreiung gibt es im Bereich der Religion, die Beichte, die symbolische Waschung, die Niederschrift, das Klagegebet. In Ritualen suchen Menschen diesen Zwischenraum ihrer göttlich geprägten Existenz auf. Zwischen allen Stühlen und allen alltäglichen Welten und Rollen, erfahren sie, wenn Liebe Gestalt gewinnt, dass sie nicht aufgehen in dem, was ist, in ihren Sorgen und Verpflichtungen. Sie begreifen, dass sie nicht identisch sind mit ihren Funktionen. Sie nehmen war, dass sie sich wörtlich auf etwas anderes verlassen können und dürfen, als allein auf sich selbst.

Wer sich auf das Göttliche verlassen hat, sich selbst los geworden ist, kann wieder verändert bei sich einkehren. Das verbirgt sich unter anderem hinter dem geheimnisvollen Mantra Jesu „Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es gewinnen.“ (Mt. 10,39) Aber wieder gilt auch: Ein Mensch braucht Gesichter, freundliche Menschenwesen, die ihm zu Christus werden und ihn anleiten auf dem Weg in diese „Zonen des Heiligen“. Diese Wege sind nicht nur einfach und reibungslos, die „provozierten Krisen“[6] im Zusammenhang von Ritualen können und müssen oft erschüttern, bevor sich das Leben neu ordnen kann.

Religiöse Lebenskunst, die auf Veränderung abhebt, geht weiter als Schmid an dieser Stelle, der den klärenden Blick auf die Dinge und die Verhältnisse von außen fokussiert.[7] Es ist nicht nur eine Frage der Perspektive und der Deutung. Die Rituale verändern Menschen, sie schaffen nicht nur Distanz. Im Wirkungsbereich der Liebe verändern sie in Richtung auf Heilung, Wachstum, Neuanfang.

IV. Religion und die Lebenskunst des Scheiterns

Was aber ist zu sagen, wenn Heilung, Verwandlung und Erneuerung des Lebens innerhalb der eigenen lebenskünstlerischen Praxis nicht gelingt, weil physische und soziale Krankheit unbarmherzig und unendlich zuschlagen?

Ansätze zur Lebenskunst stehen in einer Welt, in der es vielfach um individuelle Selbstvervollkommnung geht, immer ein Stück im Verdacht, für den schlimmsten anzunehmenden Unfall keine wirklich überzeugenden Optionen parat zu haben. Religion und der Glaube an das Göttliche kommt oft erst ins Spiel, wenn keiner mehr etwas machen kann. In diesen Momenten die Logik wieder heraufzubeschwören, die in der Theologie Tun-Ergehens-Zusammenhang genannt wird, ist nicht eben hilfreich sondern zuweilen der schlimmste Zynismus. Am Beispiel: Im Bereich der Krankheit Krebs erleben wir es gegenwärtig massiv, dass die Menschen, die Krebs bekommen, sich schuldig fühlen für ihre Krankheit. Es gibt vermutlich Zusammenhänge, aber sie sind nicht individualisierbar, generalisierbar, schon gar nicht spiritualisierbar.

Die zwei klassischen Worst-Case-Szenarien der Lebensführung in der Bibel sind im Alten Testament Hiob und im Neuen Testament die Kreuzigung Jesu. Hiob wird von einem Schicksalsschlag nach dem anderen geschlagen, ohne jegliches persönliches Verschulden und trotz aller Bemühungen, ein gutes und schönes Leben zu führen. Seine so genannten Freunde versuchen nach tagelangem Schweigen, das Leid weg zu erklären, die Fehler bei Hiob zu suchen: Tun-Ergehens-Zusammenhang. Hiob hält einfach aus und hält auch in der Anklage am göttlichen Gegenüber, an Jahwe fest. Das Geheimnis des bösen Unrechts wird damit offen gehalten. Es ist ein menschliches Beziehungsparadox und eine lebenskünstlerische Herausforderung zugleich: im Zorn auf Gott ist Hiob ihm treu.

In die gleichen Abgründe des Scheiterns steigt hinab, wer Jesus von Nazareth folgt. „Mein Gott mein Gott warum hast du mich verlassen“, klagt er mit den Worten des Psalms 22 am Kreuz. Das ist der apokalyptische Nullpunkt am Ende der Passion, einer Geschichte des Scheiterns. Wieder zeigt sich der gleiche Widerspruch wie bei Hiob, der scheinbar Abwesende wird angeredet. Jesus ist der Mensch, der exemplarisch die radikale Gottverlassenheit aushält. „Wenn du Gottes Sohn bist, dann steigt doch vom Kreuz!“, wird er von den Herumstehenden aufgefordert. Er bleibt, und bezeugt gerade darin seine transzendente Freiheit. Ein völlig neues Bild der Gottheit entsteht, ein Gott, der aus Liebe zum scheiternden Menschen das Scheitern durchlebt. An sich völlig idiotisch, sagt Paulus und spricht von der „Torheit des Kreuzes“ in der Welt (1. Kor. 1, 18). Christen seien „Narren Christi“ (1. Kor 4, 10), in dieser Narrheit verberge sich aber die Weisheit Gottes.

Die Kunst des Scheiterns, die im Raum der Religion Gestalt gewinnt, wirft Fragen auf: In welcher Weise gehört zur Kunst des Scheiterns, sich im Scheitern noch als Held zu inszenieren? Können wir beim Opfer überhaupt von Lebenskunst sprechen? Das Verhältnis von Lust und Leid müsste angeschaut werden.

Es gibt einen überzeugenden Ansatz, das Scheitern als lebenskünstlerische Herausforderung zu begreifen und dem Thema dabei die unerträgliche Schwere zu nehmen. Die Theologin Gisela Matthiae hat die paulinische Rede von den Narren Christi zum Anlass genommen, die Clownerie als religiöse Lebenskunst des Scheiterns zu erschließen. „Du bist ungeschickt, aber siehe, ich bin noch viel ungeschickter.“[8], lautet einer der Spitzensätze einer solchen Lebenskunst des Scheiterns, die hineinführt in die Komik des Augenblicks, die Karikatur und die Parodie des Tragischen.

Dieses humoreske, subversive Element der Verwandlung der Welt im Scheitern ist Teil unserer abendländischen Kultur auch im Bereich der Religion. Deswegen verletzten religiöse Karikaturen, die die eigene Religion betreffen im Westen religiöse Gefühle nicht nur. Sie beleben auch entscheidende religiöse Regungen, die wir in der Lebenskunst des Scheiterns nicht missen sollten.

Die Parodie als Weg und Ausweg im Scheitern: Beispielhaft dafür ist für mich der Film mit dem für unseren Zusammenhang so bezeichnenden Titel „Das Leben ist schön!“ des italienischen Komikers Benini. In diesem Film gelingt es der Hauptfigur, die Benigni selbst spielt, im Konzentrationslager im Italien Mussolinis, seinem Sohn durch die clowneske Parodie des KZ-Geschehens bis zum Schluss zu vermitteln, das das Leben im finstersten Moment trotz allem schön und gut ist. Im Verhältnis zu seinem Kind und zu seiner Umwelt kreiert der Handelnde eine Weltsicht, die komisch und frei ist, und hält damit die Liebe im Moment des Todes wach.

Schluss

Es scheint unvermeidlich, und verhält sich so mit der Religion wie mit der Lebenskunst: Redet einer von Lebenskunst, so spricht er immer auch von seiner Lebenskunst. Spricht einer von Religion, so bezieht es sich bewusst oder unbewusst unvermeidlich auf seine Religion. Lebenskunst, Religion und das Subjekt gehören eben untrennbar zusammen.

Anmerkungen
  1. Gegenüber den organisatorischen Führungsdefinitionen im Bereich der Personalentwicklung vgl. A. Felten, B. Petry, Gut geführt. Personalentwicklung in der Kirche, Hannover 2002.
  2. Chassidisches Gebet, zit. bei Martin Buber
  3. Im Unterschied dazu: Schmid, Schönes Leben?, 132
  4. Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band, Suhrkamp 1981, 1024.
  5. Schmid, Schönes Leben?, 33ff.
  6. G. M. Martin, Provozierte Krisen. Rituale in Religion und Gesellschaft, EvTh 98 (1998), 12-24.
  7. U. a. Schmid, 104.
  8. G. Matthiae, Clownin Gott, Stuttgart, 1999, 301.

© Markus Ansgar Friedrich 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 45/2007
https://www.theomag.de/45/maf4.htm