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Magazin für Theologie und Ästhetik


Rennen

Von der schnellen Bewegung über die Oberfläche des Bodens

mit Hilfe der Beine[1] und den dabei begegnenden Resultaten

in ausgewählten Durchläufen durch biblische Passagen

Marion Keuchen und Martin Leutzsch

Für Dietrich Zilleßen,
der von Rennen und Gängen (am Rande) weiß
1. Auferstehungsbeschleunigungen (Joh 20,1-18)

Mit der Bewegungsart des Rennens sind die Evangelien sehr sparsam. Am häufigsten gerannt wird im Markusevangelium (siebenmal). Zweimal lässt Matthäus rennen. Lukas schildert einmal ein Rennen und lässt Jesus von einem, der rennt, erzählen. In einer einzigen Szene begegnet Rennen im Johannesevangelium[2]. Hier, in Joh 20,1-11, rennen gleich drei Personen. Die Osterfestspiele des Spätmittelalters mit ihrer Performance eines Wettlaufs der Apostel[3] und ihren gelegentlichen Vorschriften, Petrus müsse dabei hinken[4], focussieren das Erzählte auf die Konkurrenzsituation eines Wettrennens von zweien. Im Evangelium rennen drei, und mit demselben Recht oder Unrecht, mit dem man vom Wettlauf der beiden Apostel spricht (das Joh spart sich den Apostelbegriff für eine einzige Stelle – nicht Joh 20 – auf[5]), kann die dritte Person, die rennt, als Apostelin, ja gar als apostola apostolorum bezeichnet werden[6]. Die dritte Person? Im Text rennt sie als erste, Maria die Magdalenerin. Aus welchem Anlass und zu welchem Ende tut sie das?

Noch im Dunkeln ist sie losgegangen, allein, keineswegs zu zweit (wie bei Mt), zu dritt (wie bei Mk) oder zu mehr als Dreien (wie bei Lk), nein, als Einzel-Gängerin kommt sie im Joh zum Grab.

Ihr erstes Ziel

Maria aus Magdala kommt (ἔρχεται) am ersten Tag nach dem Sabbat früh zum Grab Jesu und sieht, dass der Stein weggenommen ist. Der Anblick des Ziels entsetzt Maria aus Magdala. Der Ort, ihr Ziel, war ihr klar. Sie hielt es für schon bekannt, ein verschlossenes Grab. Daher brauchte sie auch nicht zu laufen. Der Zielort, das Grab beim Hügel Golgatha, ist aber anders als erwartet. Das Grab ist offen. Vielleicht kommt ihr Leichenraub in den Sinn. Daraufhin rennt (τρέχει) sie los, ohne in das Grab selbst zu blicken.

Sie sieht den Stein weggenommen – und nun? In keiner neutestamentlichen Schrift wird so oft ge-„nun“-t wie im Joh, und dieses „nun“ (ουν V. 2), dieses „also“ ist die einzige Verknüpfung der nun einsetzenden Beschleunigung mit dem Vorherigen und Folgenden.

Es ist wahr: Auch in anderen Evangelien begegnet eine Auferstehungsbeschleunigung. Doch – Sparsamkeit des Neuen Testaments angesichts der redundanten Vielfalt der Evangelien – jedes Mal sind die Modalitäten des erhöhten Tempos andere. Bei Mt, Mk und Lk rennt die jeweilige Anzahl der Frauen, nachdem im oder am Grab die Begegnung mit gewissen Figuren – einem Boten, einem Jüngling oder zwei Männern – stattgefunden hat. Bei Mt und Mk erhalten die Frauen dabei den Auftrag, den JüngerInnen eine Botschaft auszurichten. Bei Mt rennen sie los, um genau das zu tun (28,8). Bei Mk fliehen sie und tun es nicht (16,8). Bei Lk erhalten sie keinen Auftrag, sondern geben ihn sich selbst, bewegen sich in unbestimmter Schnelligkeit vom Grab weg und unterrichten alle Übrigen. Nicht dass ihnen geglaubt würde (24,11): Petrus steht auf und rennt los zum Grab (allein, kein Wettlauf), mit einem Ergebnis, das ihn verwundert (24,12)[7].

Ein Zwischenstand: Durch die Beschleunigungen in Mk 16,8 und Lk 24,12 wird nichts beschleunigt. Mt 28,8-10 führt immerhin dazu, dass die Elf rechtzeitig in Galiläa eintreffen, und zwar auf einem Berg, der zuvor nicht erwähnt worden war, nun aber als vorherbezeichnet eingeführt wird (28,16). Jesu Aufforderung, nach Galiläa zu gehen, war allerdings, genau genommen, nicht an die Elf ergangen, sondern an seine Brüder bzw. Geschwister (V. 10)[8]; es war der Bote in V. 7 gewesen, der die JüngerInnen ins Spiel gebracht und an Jesu Vorhersage Mt 26,32 erinnert hatte.

Was und wen erreichen die Rennenden in Joh 20?

Im Vergleich mit dem Timing der synoptischen Auferstehungsbeschleunigungen fängt im Joh die Geherin aus Magdala sehr früh an zu rennen. Keine Begegnung mit Jüngling, Mann oder Bote, keine Aufforderung kommt dazwischen, ihr genügt der Blick, dann rennt sie los. Was sieht sie, als sie den Stein vom Grabmal weggenommen sieht? In welche Richtung rennt sie? Welches Ziel hat ihr Rennen? Welchen Sinn?

Ihr zweites Ziel

Ist ihr Ziel des Laufens die Weitergabe ihres Erlebnisses? Dann ist der Zielort vom Aufenthaltsort dieser beiden Personen bestimmt. Dabei wissen Simon Petrus und der andere Jünger nicht, dass sie das Ziel von Marias Lauf sind. Maria weiß es vielleicht selbst auch nicht. Der Lauf dient ihr dazu, diesen Ort schneller zu erreichen. Ihr eigenes Ziel ist die schnelle Weitergabe ihrer Befürchtungen. Dieses Ziel ist nicht das Ende für Maria aus Magdala. „Und am Ziel war’s damit nicht zu Ende, wenn dich die Zuschauer auch jubelnd empfangen, weil du weiter mußt, bevor du wieder zu Atem kommst, und du hörst erst richtig auf, wenn du über einen Baumstamm stolperst und dir das Genick brichst oder in einen unbenutzten Brunnen fällst und für immer tot in der Finsternis liegst.“[9] Auch Maria kommt gar nicht richtig wieder zu Atem und zur Ruhe. Es geht hinter und nach dem Ziel für Maria aus Magdala weiter.

Ob beabsichtigt oder nicht – Marias Rennen führt dazu, dass sie zwei Gestalten trifft. Auch die beiden Marien in Mt 28,8-10 treffen jemanden, während sie rennen: Jesus. Die johanneische Magdalenerin trifft keinen Gestorbenen und Auferstandenen, sondern einen, der erst noch sterben wird (Joh 20,19), und eine Figur, die nicht sterben wird (20,23). Wo sie sie antrifft, bleibt in der Schwebe: auf offener Straße? in einem Haus[10]? Was sie den beiden sagt, zeigt, was sie aus dem, was sie gesehen hat, folgert: „Sie haben den Herrn aus dem Grab getragen und wir wissen nicht, wohin sie ihn gelegt haben.“ (20,2) Für die LeserInnen des Joh (spätestens ab 20,11-18) ist das ein Missverständnis, keineswegs das erste im Joh und keineswegs Marias letztes: Sie wird es gegenüber den beiden Boten (20,12f.) und dem mit einem Gärtner verwechselten Jesus (20,14f.) aufrecht erhalten[11]. Diese (Fehl-)Information setzt das von Maria angetroffene Paar in Bewegung. Sobald das geschieht, verschwindet Maria aus dem Text, um in V. 11 wieder aufzutauchen – am selben Ort wie die beiden, denen sie begegnet war und die dann dahin gerannt waren.

Wieder ihr erstes Ziel

In V. 11 wird deutlich, dass Maria aus Magdala wieder am leeren Grab ist, an dem Ort, den sie im Laufschritt verlassen hat. Es wird nicht gesagt, wie und mit wem Maria wieder an diesen Ort kommt, ob im Laufschritt mit den beiden anderen, ein wenig hinter den beiden, da Frauen durchschnittlich langsamer als Männer sind.[12] Oder geht sie, wird sie von jemand begleitet? Der Anfangsort ihres Laufs ist für sie zum Zielort ihres zweiten Laufs geworden.

War Maria zurück gerannt? War sie zurück gegangen – mit oder ohne Entdeckung der Langsamkeit[13]? Wie stark auch immer ihre Kreisbewegung ihren Kreislauf beansprucht haben mag: ihr Retour-Tempo bleibt ebenso offen wie die Frage, ob sie den beiden auf deren Rückweg (V. 10) nochmals begegnet war und, letzteres vorausgesetzt, wovon bei dieser Begegnung geredet (oder geschwiegen) worden wäre.

Kultur-, sozial- und gendergeschichtlich ist das Rennen von Frauen in den Öffentlichkeiten der kaiserzeitlichen Antike wenig untersucht. Bei den professionellen Wettkämpfen in den Stadien jener Zeit waren neben anderen Athletinnen auch rennende Frauen zu sehen[14]. Doch obwohl körperlich fit[15], unternimmt Maria in Joh 20 keinen Wettlauf. Sie ist auch nicht auf der Flucht[16] oder überspringt vor Freude die Anstands- und Würdegrenze langsamer Fortbewegung[17]; nicht der Eifer des Lernbegierigen[18] treibt sie zur Schnelligkeit. Kulturüberschreitend war im Mittelmeerraum (nicht nur) der römischen Kaiserzeit das gemessene Gehen das Gebotene[19], insbesondere für Angehörige der Oberschichten[20]. Wer rennt, hat geringeren Status[21] oder verzichtet situationsbezogenen auf höheren. Maßvolles Gehen, nicht Laufen[22] war mit Würde vereinbar, gemessener Schritt besser als Laufen[23]. Schon schnelles Gehen signalisiert Ungewöhnliches, Beunruhigendes[24]. Noch die beinahe sprichwörtliche Abgrenzung von denen, die jeden Sonntag oder nur, um in ihren Kleidern gesehen zu werden, in die Kirche sich bewegen, zeigt sich darin, dass sie nicht gehen, sondern rennen.

Ist Marias Rennen ein zielloses? Sucht sie nach den Leichenentfernern? Will sie die Suche delegieren? Hat sie mit der an Petrus und den Jünger, den Jesus liebte, gerichteten Information ihr Ziel erreicht? Ist ihr Ziel, weil ihre Information eine Fehlinformation ist, ein vermeintliches Ziel?

Dass Maria Petrus vor ihrem Rennen bereits gekannt hätte, wird im Joh nirgends ausdrücklich vermerkt. Bekanntschaft zwischen ihr und dem Jünger, den Jesus liebte, wird hingegen ausdrücklich vorausgesetzt (19,25-27). Der „Lieblingsjünger“ (Joh 13,23; 19,26; 20,2; 21,7.20) ist eine vielumrätselte Gestalt. Ebenso wenig, wie das Joh Petrus als einen Fischer einführt[25], wird dort ein Jesusjünger Johannes erwähnt[26], mit dem der Jünger, den Jesus liebte, gleichzusetzen wäre. Die Namenlosigkeit dieses Jüngers ist für den Neutestamentler und Marathonläufer Klaus Wengst ein Indiz dafür, dass es sich in erster Linie um eine Identifikationsfigur für die LeserInnen des Joh handelt[27], liebt doch der johanneische Jesus alle JüngerInnen (13,34).

Erst einer am Ziel

Dabei läuft der andere Jünger schneller und ist vor Simon Petrus am Grab. Der andere Jünger hat den Zielort als erster erreicht. Er hat den Lauf gewonnen. Es wird nicht gesagt, warum er schneller gelaufen ist, ob aus innigerer Liebe (Schenke) oder aufgrund von besserer physischer Kondition. Schenke betont, dass man nicht von einem Wettlauf sprechen sollte, denn dann hätte Petrus verloren und das wolle der Textautor nicht zum Ausdruck bringen.[28] Für Becker dagegen ist es ein Wettlauf[29] mit einer Abwertung des Verlierers Petrus aus Sicht der johanneischen Gemeinde[30]. Der andere Jünger hat sich vielleicht vor dem Ziel ähnlich wie Sillitoes Langstreckenläufer gefühlt und noch einmal einen Endspurt eingelegt: „Denn eigentlich renne ich mit niemandem um die Wette; ich laufe einfach, und irgendwie ist mir klar, wenn ich nicht daran denk, daß das ein Wettrennen ist, und bloß so langtrab, bis ich nicht mehr weiß, daß ich lauf, da gewinn ich jedes Mal. Denn wenn meine Augen erkennen, daß es aufs Ziel zugeht – wenn sie einen Zauntritt oder die Ecke eines Bauernhauses sehn -, zieh ich meinen Spurt an, und der ist schnell, weil ich spüre, daß ich bis dahin noch gar nicht gelaufen bin und mich überhaupt noch nicht verausgabt hab.“[31] Der andere Jünger hat das Ziel, das Grab gesehen und darauf hin noch einmal angezogen, aus Neugierde, aus brennendem Verlangen zu erfahren, wo Jesu Leichnam ist und was überhaupt passiert ist. In diesem Moment kurz vor dem Ziel hat er vermutlich seinen Mitläufer völlig ausgeblendet. Er hat nur noch das Ziel vor Augen.

Zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger scheint eine gewisse Konkurrenz zu bestehen – oder weshalb vollführen die beiden, wenn sie denn schon rennen, ein Wettrennen? Die im weiteren Verlauf (21,20-23) spürbare Konkurrenz wäre noch deutlicher, wenn der Lieblingsjünger mit jenem „anderen Jünger“ gleichzusetzen wäre, der zusammen mit Petrus dem verhafteten Jesus zum Anwesen des Hohenpriesters gefolgt war (18,15) – kein Alleingang des Petrus wie bei den Synoptikern, aber für Petrus mit erhöhtem Risiko, weil – die Synoptiker lassen das offen – er es war, der den Verlust eines Ohres herbeigeführt hatte (18,10f.). Wie Petrus gegenüber dem Lieblingsjünger beim Grabwettlauf zurückbleibt, so war er gegenüber dem anderen Jünger zurückgeblieben, bis dieser ihm eine geöffnete Tür verschafft hatte (18,15f.). Doch die Identität des Lieblingsjüngers mit dem anderen Jünger ist, wie gesagt, nicht gesichert.

Was versprechen sich Petrus und der andere Jünger davon, zum Grab zu rennen? Was verspricht sich der Lieblingsjünger davon, das Rennen zum Wettrennen zu machen? Welchen Sinn hat es im Joh, Erster zu sein[32]? Wozu Erster am Grab sein wollen, wenn man dem Zweiten am Grab den Vortritt ins Grab (20,6.8) lässt?

Am Ziel und doch nicht am Ziel

Am Zielort angekommen ist der andere Jünger nicht in der Lage, in das Grab hinein zu schauen. Er ist am Ziel und doch nicht am Ziel. Er wartet auf seinen langsameren Mitläufer und lässt sich von ihm überholen, indem Simon Petrus als erster ins Grab schaut. Der andere Jünger wartet mit Absicht auf Simon Petrus. Es wird klar, „daß ich das Rennen mit Absicht verlor“[33]

Endlich beide am Ziel und doch immer noch nicht am Ziel.

Beide haben in das leere Grab hineingeblickt. Beide haben aber noch nicht das neue Ziel erreicht. „Und am Ziel war’s damit nicht zu Ende, wenn dich die Zuschauer auch jubelnd empfangen, weil du weiter mußt, bevor du wieder zu Atem kommst, und du hörst erst richtig auf, wenn du über einen Baumstamm stolperst und dir das Genick brichst oder in einen unbenutzten Brunnen fällst und für immer tot in der Finsternis liegst.“[34] Das neue Ziel und das Wissen um es, dass nach den Schriften Jesus Christus auferstehen muss. Sie kennen das neue Ziel noch nicht und wissen nicht, dass es überhaupt ein neues Ziel und ein solches Wissen um Christi Auferstehung gibt. Und damit endet die biblische Geschichte anders als die Bücher, die Sillitoes Läufer Colin Smith gelesen hat. Die Geschichte geht weiter und Simon Petrus und der andere Jünger sollen daraus lernen und glauben. So ein Ende hätte sich Colin Smith auch für seine gelesenen Bücher gewünscht. Stattdessen enden seine Bücher alle am Ziel, und er konnte gar nicht draus lernen, „denn alle [die ein, zwei Bücher, die ich seitdem gelesen hab] endeten am Ziel, und ich konnte gar nichts draus lernen“[35]

Nach Leichenentfernern suchen sie nicht. Sie finden allerlei Leichenzubehör vor. Der Lieblingsjünger findet Glauben – weil er sieht, doch was unterscheidet sein Sehen eines Abwesenden vom Nichtsehen der selig gepriesenen Glaubenden in 20,29?

In einem historischen Kontext, zu dem durch die römische Herrschaft bewirkte Beschleunigungsphänomene gehören[36], bewirkt die literarische Thematisierung von Beschleunigung, das Rennen der Maria, des Petrus, des Lieblingsjüngers, nichts. Was sie erreichen oder nicht erreichen, hätten sie, so scheint es, auch durch Gehen (nicht) erreicht.

2. Wüste(R/n)Sex: Pornographie und Schnelligkeit in Jer 2,23-25

Nicht nur Menschen rennen – gelegentlich – in der Bibel, sondern auch Tiere[37]. Die – relative – Schnelligkeit der Kamele ist bereits in der Antike Gegenstand naturkundlicher Erörterung[38]. In Jer 2,23f. werden „eine junge Kamelstute, die schon einmal geworfen hat“[39], und eine Wildeselin genannt.

„(23) Wie kannst du sagen: Ich habe mich nicht kultisch unrein gemacht, den Baalen bin ich nicht gefolgt. Betrachte doch dein Verhalten im Tal, erkenne, was du getan hast! Kreuz und quer läuft eine junge Kamelstute ihre Wege, (24) eine Wildeselin, an die Wüste gewohnt, schnappt gierig nach Luft in ihrer Lust. Wer kann sie stoppen, ihre Brunst? Alle, die auf der Suche nach ihr sind, brauchen sich nicht müde zu laufen, sie finden sie in ihrer Brunftzeit.“ (Jer 2,23f., übersetzt von Maria Häusl, gerechte Bibel)

Wie viele Tiere laufen hier überhaupt? Sind es zwei? Und was sind das für Tiere? Eine Kamelstute und eine Wildeselin? Hamp, Stenzel und Kürzinger[40] übersetzen: „(23b) Schau doch dein Treiben im Tal, überlege, was du getan hast, eine schnelle Kamelin, die ihre eigenen Wege kreuzt. Sie bricht durch zu den Wassern der Wüste hin; in der Gier ihres Triebes schnappt sie nach Luft, wer kann stillen ihre Brunst? Alle, die sie begehren, haben keine Mühe; sie finden sie in ihrer Brunstzeit.“ (Jer 2,23bf.) Hier läuft nur eine Kamelin, der auch das Verhalten der obigen Wildeselin zugeschrieben wird.

Im masoretischen Text laufen zwei Tiere, ein domestiziertes und ein wildlebendes Säugetier: Der Kamelstute folgt in V. 24 ein Wildesel oder – wie die Wortform des nur an dieser Stelle belegten Substantivs nahe legt – eine Wildeselin. In den Übersetzungen, die das Christentum geprägt haben, lief lange Zeit entweder überhaupt kein Tier durch den Text (so in der Septuaginta, die in V. 23 das Adjektiv πολυάνδριος einbringt[41]) oder nur eines, ein Onager (so die Vulgata in V. 24). Erst mit dem Rückgriff auf den masoretischen Text hielten beide Tiere Einzug in das christliche Jer-Verständnis. Im vergangenen Jahrhundert allerdings irritierte die Wildeselin die Jer-Exegese: Sie erhielt literarkritisch[42] oder – mit Hilfe der Konjekturalkritik – textkritisch[43] einen Platzverweis[44]. (Interessanterweise wurde der Onager in Palästina/Israel just zu dieser Zeit, Anfang des 20. Jahrhunderts, in Palästina/Israel ausgerottet[45].) Die dem masoretischen Text damals zugeschriebene Sinnlosigkeit[46] unterliegt dem Verdacht, zeit- und milieubedingter professioneller Nichtverstehensgestus zu sein: Mit dem hermeneutischen Risiko, uns zu verirren, lassen wir lieber die Wildeselin unruhig durch den Text laufen, statt durch die Annahme Ruhe zu finden, sie wäre gar nicht da. (Übrigens: Anders als im heutigen Deutsch, wo „Kamel“ und „Esel“ – relativ harmlose – Schimpfworte sind, konnten die entsprechenden Tierbezeichnungen im antiken Israel auch als Personennamen fungieren[47].)

Die Kamelin[48] „läuft umher“ (Luther 1912), „läuft kreuz und quer“ (Maria Häusl), ist „[e]ine schnelle Kamelstute“ (Gerlinde Baumann)[49]. Beschleunigung als Ausdruck des Exzesses begegnet hier im Kontext einer jener Stellen, die in den letzten zwanzig Jahren unter der Fragestellung Prophetie und Pornographie in der Exegese diskutiert worden sind[50].

Und Beschleunigung begegnet hier als Ausdruck der Freiheit: Florian Schmitz-Kahmen betont die Freiheit der Wildesel wie auch Gott selbst in Hi 39,5: „Wer hat den Onager freigelassen, die Fesseln des Wildesels – wer hat sie geöffnet –“- (Jürgen Ebach, gerechte Bibel). Onager sind kaum zähmbare Wildesel und lassen sich vom Menschen nicht verzwecken. Daher waren assyrische Könige stolz darauf, wenn sie solche Tiere vor ihre Streitwagen gespannt bekamen. Gott habe diese Gattung für ein Leben in freier Wildbahn bestimmt. „Garant solcher Freiheit ist die vom Schöpfer bereitgestellte Salzwüste“[51] wie sie z.B. Jer 17,6 („Sie wohnen in heißer Wüstengegend, in salzigem, unbewohnbarem Land“, Häusl; auch Hi 39, 5-8) erwähnt wird. Menschen können in dieser Umgebung nicht leben. Wildesel sind vom Menschen verfolgt, da sie in Saaten einbrechen, diese zerstören und müssen, um zu überleben, in unwegsamen Regionen siedeln. Außerdem galten sie als Vertreter der gegenmenschlichen Welt und wurden daher von altägyptischen und altorientalischen Königen gejagt.[52]

Sind die Ziele auf der Bildebene hier klar? Die Kamelstute läuft brünstig umher, auf der Suche nach einem Kamelhengst. Auch die brünstige Wildeselin schnappt vor Lust nach Luft. Grammatikalisch stehen hier feminine Formen, in dem Bild ist von einer Kamelstute und einer Wildeselin die Rede. Kamelstuten verhalten sich in der Natur – bisherigen Beobachtungen in der in der ägyptischen Wüste beispielsweise – nach anders. Männliche Kamele verhalten sich in der Brunstzeit wie in dem Bild beschrieben, sie sind angrifflustig, unbändig und laufen wild umher. „Such a young camel never takes more than about three steps in any direction“[53]. Sie rennen also um der Bewegung willen und wegen ihrer ungebändigten Lust kreuz und quer herum. Ihr Ziel, eine Kamelstute, wird zwar gewollt, aber eben nicht zielstrebig anfixiert. Weibliche Kamele verhalten sich in der Brunstzeit nicht in dieser Weise, sie zeigen kein solches Verhalten und rennen nicht wild hin und her. So können sie dann auch von den männlichen brünstigen Kamelen erreicht werden.

Anders dagegen verhalten sich brünstige Wildeselinnen. Hier stimmen die Beobachtungen in der Natur mit dem beschriebenen Bild einer Jungeselin überein. Bei dieser Tiergattung ist die Jungeselin begierig und lustvoll den Jungesel zu finden. „When in heat, she sniffs the path in front of her, trying to pick up the scent of a male (from his urine). When she finds it, she rubs her nose in the dust and then straightens her neck and, with head high, closes her nostriles and ‘sniffs the wind’. What she is really doing is snuffing the dust which is soakes with the urine of a male ass. With her neck stretched to the utmost she slowly draws in a long, deep breath, then lets out an earthshaking bray and doubles her pace, racing down the road in search of the male.”[54] Junge Wildeselinnen laufen nach dieser Beobachtung umher, um Männchen zu finden. Diese Schilderung passt zu fast jedem Wort im Jeremiatext.[55]

So klar sind die Ziele hier demnach doch nicht.

Ein Vorwurf in der Debatte um Pornographie in der Bibel lautet, (überwiegend) männliches oder männerbestimmtes negativ gewertetes Verhalten werde ausführlich in weiblicher Metaphorik beschrieben und Weiblichkeit so abgewertet[56]. Dieser Vorwurf sollte der Person, die Jer 2 verfasst hat, nicht erspart bleiben, wenn sie der Kamelstute zuschreibt, was biologisch dem Kamelhengst vorbehalten ist – und zwar so überzeugend, dass ein Kommentator ohne empirische Nachprüfung von dem „derbe[n], aber treffende[n] Bild von der Kamelstute, die im Brunstmonat mit schäumendem Maul und schnaubenden Nüstern wie rasend kreuz und quer umherrennt, bis ihre Brunst gestillt ist“[57], reden kann.

Jer 2,23f. steht innerhalb einer insbesondere in der ersten Hälfte von Jer entfalteten Liebes- und Ehegeschichte JHWHs mit Israel[58] und symbolisiert den Ausbruch Israels aus dieser Liebe und Ehe. Die dabei verwendete Gendermetaphorik ist unausgewogen: „ ‚Schuld’ haben auf metaphorischer Ebene vor allem die ‚Frauen’ Israel/Juda/Jerusalem. Wird es konkret, sind meist Vergehen von Männern genannt.“[59]

Und das Rennen? Die (im Sinn von Drorah Setel pornographische) Objektifizierung weiblicher, auf einer animalischen Stufe angesiedelter Sexualität[60] wird so inszeniert, dass der unkontrollierte Bewegungsdrang der weiblichen Tiere männlicher Lust zugute kommt, die sich an den (angeblich, was die Kamelin betrifft) brünstigen Säugerinnen schadlos halten kann. Den Singularen „Kamelin“ und „Wildeselin“ steht dabei in V. 24 ein männliches Kollektiv gegenüber.

V. 25 redet (wie zuvor V. 23) wieder die für Israel stehende Frauenfigur an:

„(25) Erspare deinem Fuß das Barfußgehen und deiner Kehle den Durst! Darauf hast du gesagt: Kommt nicht in Frage, nein, ich liebe die Fremden, ihnen will ich folgen.“ (Jer 2,25, Häusl)“

„Ihnen will ich folgen.“ Folgen aus Lust und Laune. Genauso resümiert Faust, ein Mann, da es in der Literatur (fast) nur Männer gibt, die aus Lust und Laune durch die Welt rennen: „Ich bin nur durch die Welt gerannt; Ein jed Gelüst ergriff ich bei den Haaren, Was nicht genügte, ließ ich fahren, Was mir entwischte, ließ ich ziehn.“[61] So äußert er sich in Faust II gegenüber der Sorge im Himmel. Anders als im biblischen Text beschreibt der Läufer hier selbst sein Laufen. Und er spricht auch vom Rennen, während die Frauenfigur Israel von „folgen“ (wörtl. „hinter jemandem gehen“, אחרי הלך ) spricht. Die Kamelin „läuft umher“ (Luther 1912), die Wildeselin „lechzt und läuft“ (Luther 1912) im Bild. Beide bestimmen ihre Richtungen selbst. Über die Frauenfigur Israel wird gesagt, dass sie „nachlaufe“ (Luther 1912). Anders als Faust kann sie also ihre Richtung nicht selbst bestimmen. Laufen und Beschleunigung sind also nicht immer und für alle Laufende das „Garant der Freiheit“.

3. Rennen – ein Missverständnis (Mk 15,36)?

Nur zweimal wird Jesus im Mk laut. Zwischen seinem ersten – noch artikulierten – Schrei (15,34) und dem letzten, dem Todesschrei (15,37), rennt jemand auf den Gekreuzigten zu und tränkt ihn mit einem Essigschwamm (15,36 [auch Mt 27,48]). Die Forschung hat sich eingehend mit der Identität der rennenden Person (Soldat oder nicht[62]), ihrem Motiv und ihrer Absicht (gutwillig, böswillig), mit dem Effekt der Darreichung des Essigs auf den Gekreuzigten (Qualen vermindernd oder verlängernd) und mit intertextuellen Fragen (liegt eine Bezugnahme auf Ps 69,22 vor?) beschäftigt. Über das Phänomen des Rennens wird hinweggegangen[63].

Auch im Bereich der laufenden Bilder, in Jesusfilmen wird an dieser Stelle nicht gerannt: In Mel Gibsons „The Passion of the Christ“/ dt. „Die Passion Christi“ (USA/Italien 2004) äußert Jesus seine Sätze als Sterbender am Kreuz aus allen Evangelien hintereinander. Mel Gibson verfilmt auch Joh 19,28: Auf Jesus Äußerung „Mich dürstet“ reagiert hier ein römischer Soldat und reicht ihm einen auf eine Lanze gesteckten Schwamm, den er zuvor mit Flüssigkeit getränkt hat. Der Behälter mit dieser Flüssigkeit steht vor ihm auf dem Boden wie auch in Joh 19,29. Er muss daher nicht laufen. In diesem Film herrscht Bewegungslosigkeit unter dem Kreuz.[64] Ebenso in der Verfilmung Pier Paolo Pasolinis „Il Vangelo secondo Matteo”/ dt. “Das 1. Evangelium - Matthäus“ (Italien/Frankreich 1964). Während in Mt 27,48 auch gerannt wird und ein Schwamm geholt wird, lässt der Film dieses Rennen aus. Auch hier steht der Behälter mit der Flüssigkeit, in den hier auch ein Soldat seine Lanze steckt, vor ihm auf dem Boden. Hier neigt Pasolini wie an weiteren Stellen zu einer „johanneisch beeinflußten Passionssequenz“[65]. Er hielt aber im Gegensatz zu Mt Joh insgesamt für „zu mystisch“[66] zum Verfilmen. Keiner muss hier rennen. So kann der Kamerafokus auf die Sterbeszene gerichtet sein und ein Schwenk wird vermieden. In Terry Jones’ „Monty Python’s Life of Brian“/ Dt. „Das Leben des Brian“ (GB 1979) wird dagegen unter dem Kreuz unheimlich viel gerannt. Die „Judäische Volksfront“ rückt im Laufschritt in Samurairüstungen an, und die Römer rennen bei dem Anblick alle weg. Die „Judäische Volksfront“ ersticht sich als „fliegendes Suizidkommando“ kollektiv selbst unter dem Kreuz. Daher können sie nicht mehr wegrennen. Judith, Brians Freundin, rennt in der nächsten Szene zu Brian am Kreuz und teilt ihm ihre Bewunderung für sein Tun mit, danach rennt sie davon. Mandy, Brians Mutter, rennt ebenfalls zu ihrem Sohn und macht ihm Vorwürfe, danach rennt auch sie wieder weg. Alle rennen und sind in Bewegung, bringen aber nichts in Bewegung. Am Schluss, nachdem Brian erkannt hat, dass ihm keine und keiner hilft, wegzurennen, kommt er selbst anders in Bewegung, indem er am Kreuz tanzt und singt „Always look of the bride side of life“. Insofern ist diese tänzerische Bewegung Ausdruck eines Perspektivenwechsels.

Drei Annäherungen unternehme ich im folgenden.

Erstens: Elias und der weiße Neger Wumbaba. Das Rennen steht im Kontext eines Missverständnisses: Jesu geschrieenes Zitat (15,34) bewegt nicht alle der Umstehenden zu den Bahnen von Ps 22 hin. Weder im „Kleinen Handbuch des Verhörens“[67] noch in der „Kulturgeschichte der Missverständnisse“[68] notiert, ist das Verhören von „Eloi“ in „Elias“ ein klassischer Fall von Missverständnis. Einige beim Kreuz Stehende hören „Elias“ und verlaufen sich deshalb in die Elijahu-Traditionen hinein (15,35). Einer davon redet nicht nur, sondern beginnt zu handeln – und zwar, wie sein Kommentar zum (?Laufen und) Essigreichen zeigt, auf den Bahnen des Elijahu-(Miss)verständnisses. In den Elijahu-Erzählungen 1Kö 17-19 bekommt der Prophet dreimal zu essen und zu trinken: zunächst durch Raben (feste Nahrung) und einen wunderbarerweise unvertrockneten Bach (Flüssiges) (1Kö 17,3f.6), dann, als das Trinkwasser ausgeht, in der Fremde durch eine Fremde (erst flüssig, dann fest) (1Kö 17,10-16), schließlich durch eine Botengestalt (fest und flüssig) (1Kö 19,6). Nirgends allerdings ist von Essig die Rede – und ohnehin bekommt in der Sicht des Rennenden in der Markuspassion nicht Elias etwas zu trinken, sondern einer, der auf ihn wartet[69]. Die LeserInnen des Mk wissen zudem, dass Elias nicht erst kommen wird, sondern schon gekommen ist (9,11-13): Mit dem vom Rennenden selbst entweder erwarteten oder gerade nicht erwarteten Kommen des Elias ist’s – wenn man so sagen darf – Essig.

Ist die Elijahu-Tradition der Hebräischen Bibel essigfrei, so wird doch an entscheidenden Punkten gerannt: Ahab rennt Elijahu entgegen (1Kö 18,16), um dessen Aufforderung zum praktischen Religionsvergleich entgegenzunehmen. Der Prophet bescheinigt ihm und seiner Sippschaft dabei, hinter den Baalen hergerannt zu sein (1Kö 18,18). Nachdem auch ungewöhnliche Fortbewegungsbemühungen (1Kö 18,26; dazu auch 18,21) die Baalspropheten nicht zum Erfolg geführt hatten, läuft Elijahu, der ihnen ihr Leben genommen hatte, um seines (1Kö 19,3). Elijahus Mantelwurf bringt Elischa in schnelle Bewegung (1Kö 19,20), und nach Elijahus Abflug sieht man ProphetiekollegInnen auf Elischa zu rennen (2Kö 2,15), um ihn – vergebens und überflüssigerweise – zu einer Suche nach Elijahu zu veranlassen. Nur das Rennen Elijahus und Elischas bringt den Rennenden etwas ein, die anderen Rennenden (der König, seine Sippschaft, die Jerichoer ProphetInnen) erreichen dadurch nicht, was sie erwarten. Das verbindet sie mit dem Rennenden in Mk 15,36: Was er erwartet – Elias zu sehen –, trifft nicht ein.

In Tom Tykwers „Lola rennt“ (BRD 1998) wird die ganze Zeit über gerannt. Und auch nur in einer der drei verfilmten möglichen Verläufe des Schicksals bringt Lola das Rennen etwas ein. In der ersten Variante ist ihr Rennen vergeblich, sie erreicht nicht, was sie erwartet, da sie erschossen wird, im zweiten Durchlauf wird ihr Freund Manni überfahren. Erst ihr dritter Lauf ist erfolgreich: Sowohl sie als auch Manni sind gerettet und können ihr gemeinsames zukünftiges Leben erträumen.

Zweitens: Schrei und Lauf. In drei Erzählungen des Mk gibt es Korrespondenzen zwischen Laufstärke und Lautstärke: Dämonengesteuert rennt eine aus Gerasa herauskatapultierte Person schnell auf Jesus zu (5,6) und schreit ihm – wie unter anderem einst Isebel dem Elijahu – entgegen: „Was ist zwischen mir und dir?“ (5,7; vgl. 1Kö 17,18). Es folgt die Anrede (und damit Anerkennung) Jesu als Gottessohn. In 9,14-29 ist es nicht der – hier ohnehin nicht zum Sprechen aufgelegte (9,17) – Dämon, sondern das Volk, das auf Jesus zuläuft, einmal zur Begrüßung (9,15), dann, nach dem Aufschrei (9,24) des Vaters des besessenen Jungen, ein zweites Mal, vielleicht als pressure group, die Jesus zum Exorzismus bewegen soll, was auch gelingt: Der Dämon muss sich schreiend (9,26) entfernen. Die dritte Erzählung ist Mk 15,33-39, wo das Rennen einer Einzelperson von zwei Schreien eingerahmt ist. Expression gesteigerter Intensität: das haben Schrei und Lauf hier jeweils gemeinsam, und die gesteigerte Intensität hängt damit zusammen, dass es um Leben und (gewaltsamen) Tod geht. Der Tod der Schweineherde, die – rasend (5,13) – in den Tod stürzt, verschafft dem Entdämonisierten ein befreites Leben als eigenständiges Subjekt. Die wiederholte Lebensgefahr (9,22) für den besessenen Jungen besteht nach dem Exorzismus nicht mehr: Auch wenn es zunächst so aussieht, als sei der Junge dabei gestorben (9,26), erweist sich das als Missverständnis: Er wird aufgeweckt und aufgerichtet, ersteht auf (9,27). 15,33-37 steht ebenfalls im Kontext eines gewaltsamen Todes, der nun nicht aufgehalten wird, auch nicht durch eine aus Missverstehen heraus erwartete und (deshalb) ausbleibende Intervention des Elias. Um Leben und Tod geht es auch an den anderen Stellen, wo im Mk gerannt wird: Die große Menge, die zusammenläuft, um Jesus anzutreffen (6,33), ist aus dessen Sicht gefährdet (6,34) und leidet akut Mangel (6,35-44). Diejenigen, die laufen, um Jesus Kranke zu bringen (6,55), erhoffen sich für sie ein neues, von Krankheit befreites Leben. Der reiche Renner von 10,17-22 erhofft sich ewiges Leben.

So auch erhofft sich in Robert Zemeckis „Forrest Gump“ (USA 1994) der an einem Wirbelsäulenschaden leidende und mit einem geringen IQ ausgestattete Protagonist Forrest Gump durch seinen Lauf durch US-Amerika einen Sinn in seinem Leben zu finden. Anders als bei den Menschen, die in Mk zu Jesus laufen, ist für Forrest Gump der Weg das Ziel seines Laufens.

Drittens: Erwartung und Beschleunigung. Seine Spekulation, etwas Spektakuläres zu erleben, bringt den Essigschwammträger in Bewegung. Auch die übrigen Renn-Stellen im Mk stehen im Kontext spektakulärer Erwartungen: Bedrohliches erwarten die rennenden Dämonen in der Gegend von Gerasa von Jesus (5,6-8), und das Erwartete widerfährt ihnen auch, auf spektakuläre Weise. Die rennenden Menschen in 6,33.55 erwarten Lebensförderndes von der Begegnung mit Jesus und erhalten es auch, in Form von Teilungswunder und Heilungswundern. Die Menge in 9,15.25 erhofft von Jesus, was seine AnhängerInnen, darunter die als Exorzisten erfolgreichen Zwölf (6,13), nicht vermochten: einen Exorzismus, und auch sie erfahren, was sie erwarten. In mehrfacher Hinsicht nicht das Erwartete erhält der Renner in 10,17-22[70] – nicht aus Mangel an Auskünften, sondern weil er die entscheidende Auskunft nicht anzunehmen vermag. Ob der Essigschwammträger in 15,36 ebenso betrübt wegläuft wie der Reiche in 10,22, ob er sein Verständnis von Jesu Äußerung und sein daraus resultierendes Handeln als Missverständnis erkennt, wie er sich zu dem Bekenntnis des ebenfalls beim Kreuz stehenden Centurio 15,39 stellt, lässt das Mk offen.

Übrigens: Wer auch immer im Mk rennt, rennt zu Jesus: Ob Dämonen, Menschenmengen oder einzelne Menschen – Jesus ist stets das Ziel ihrer schnellen Bewegung über die Oberfläche des Bodens mit Hilfe der Beine.

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Anmerkungen
  1. So wird das Verbum τρέχειν von Louw/Nida 1989; Louw/Nida 1989a, jeweils sv, definiert. Vgl. den Überblick von Bauernfeind 1969; ferner Lee 2003, 17.22; Sittl 1890, 268.
  2. Die Stellen: Mt 27,48; 28,8; Mk 5,6; 6,33.55; 9,15.25; 10,17; 15,36; Lk 15,20; 24,12 (vgl. noch ειστρέχειν Apg 12,14); Joh 20,2.4. Nur Mk nutzt auch die Komposita επιτρέχειν, περιτρέχειν, προστρέχειν und συντρέχειν, ansonsten steht überall das verbum simplex. – Vgl. auch das affine Thema der Flucht (bei Mk 5,14; 13,14; 14,50.52 [dazu Pramann 2006]; 16,8; bei Mt 2,13; 3,7; 8,33; 10,23; 23,33; 24,16; 26,56; bei Lk 3,7; 8,34; 21,21; bei Joh 6,15; 10,5.12), das nicht immer, aber manchmal eine schnelle Fortbewegungsart impliziert.
  3. Vgl. Stumpfl 1930, 319-330.
  4. Vgl. Steinbach 1970, 10 Anm. 39.
  5. Joh 13,16
  6. Vgl. Brock 2003, 1.161f.; Boxler 1996, 40.199f.; Jansen 1998.
  7. Der Rückblick der beiden Emmauswanderer macht aus Petrus mehrere und bremst das Tempo auf ein Gehen herunter (Lk 24,24).
  8. Vgl. Mt 12,46-50; 13,55.
  9. Sillitoe 1967, 55.
  10. Εξηλθεν 20,3 könnte darauf schließen lassen, dass sie aus irgendetwas heraus gegangen sind.
  11. Als ein weiteres mögliches Missverständnis benennt King 2003, 131, die Anrede „Rabbuni“ (20,16), „indicating a relatively low standing on the hierarchical scale of Johannine Christological titles“.
  12. Der Weltrekord bei 100m Sprit liegt derzeit bei Männern unter 10 und bei Frauen unter 11 Sekunden. Beim Marathon liegt der Weltrekord der Männer bei 2 Std. und knapp 5 Minuten, die schnellste Frau brauchte dafür bisher 10 Minuten länger.
  13. Vgl. dazu Nadolny 1994.
  14. Zu Athletinnen vgl. Eichenauer 1988, 80-82; Decker 1997; Scanlon 2002, 98-198, sowie die ehemalige professionelle Laufsportlerin und jetzige Neutestamentlerin Poplutz 2004, 86-95. – Zum Thema Sport in der kaiserzeitlichen Antike vgl. besonders Müller 1995; zum Verhältnis des antiken Judentums zum Sport vgl. Sly 1996, 149-151.153.
  15. Sie sieht sich imstande, eine Leiche zu tragen (Joh 20,15) – als Einzelne; unterstellt hatte sie, dass eine Mehrzahl von Personen die Leiche aus dem Grab entfernt hatte. Steinbezogene Wälzprobleme (Mk 16,3) thematisiert Joh ebenso wenig wie Mt und Lk.
  16. Vgl. Mk 14,52.
  17. Vgl. Lk 15,20; dazu Pöhlmann 1993, 107 bei Anm. 87.
  18. Vgl. Philon, qu. Gen. IV 101, wo das Laufen des Sklaven aus Gen 24,17 als Eifer des Lernbegierigen gedeutet wird.
  19. Vgl. für Griechenland Bremmer 1991, Fehr 1979, 12.17-23.73, und z. B. Dion von Prusa 31,162; 32,52.54; für Rom Thome 1993, 165 Anm. 389 sowie z. B. Horaz, sat. I 3,9-11; Seneca d. Ä., contr. 2,4,1 (amens cucurri). Vgl. weiter Brown 1989, 11 mit n. 23; Bailey 1976, 181 mit nn. 177-179. Für spätere Zeiten und Kulturen vgl. Schmitt 1990, Ruderman 2000, 118. – Zum Phänomen des Gehens (nicht nur) in der Bibel vgl. Schroer/Staubli 1998, 205-208; Zilleßen 2006.
  20. Zur Bedeutung der Gangart vgl. Sir 19,30.
  21. Vgl. z. B. Gen 18,2, oder Hermas, sim IX 6,2, wo in der Schilderung des adventus des Herrn des Turms (d. h. der Kirche) vom προστρέχειν der die christlichen Tugenden symbolisierenden zwölf Jungfrauen gesprochen wird.
  22. Vgl. Pöschl 1989, 27.30; Bradley 1994, 142f. mit n. 19; Rolke 1975, 81-83.
  23. Vgl. Maximos von Tyros 25,1.
  24. Vgl. Millett 1991, 193.
  25. Allerdings geht er in 21,3 fischen.
  26. Joh 20,2 erwähnt die Zebedaiossöhne.
  27. Vgl. Wengst 1990, 25 mit Anm. 58; Wengst 2001, 102f.
  28. Vgl. Schenke 1998, 373.
  29. Vgl. Becker 1981, 608.614.
  30. Vgl. Becker 1981, 615.
  31. Sillitoe 1967, 53.
  32. Angekündigte Degradierung (Mk 10,31) und empfohlene Selbstdegradierung (Mk 10,44) der Ersten fehlen im Joh.
  33. Sillitoe 1967, 68.
  34. Sillitoe 1967, 55.
  35. Sillitoe 1967, 69.
  36. Einiges davon benenne ich in Leutzsch 2001, 49 Anm. 14. 64-66. Vgl. weiter den Ausbau des mediterranen Straßensystems zur Erhöhung der Effizienz von Militär und Verwaltung durch die Römer. Angesichts dessen erscheint mir eine rein epochenbezogene Verbindung von Beschleunigung und Modernisierung (z. B. Borscheid 2004; Paul-Horn ed. 2000; Rosa 2005; auch Virilio 1989 und die philosophischen [Heintel 2002] und theologischen Reaktionen als zu wenig realitätsgerecht. – Material für eine Theologie der Beschleunigung bei Benz 1977.
  37. Vgl. die besessenen Schweine Mk 5,13 (Mt 8,32; Lk 8,33).
  38. Vgl. Plinius, n. h. 8,67f.: „Die Kamele läßt der Orient unter Großvieh-Herden weiden; es gibt zwei Arten von ihnen, die baktrische und die arabische. Diese unterscheiden sich dadurch, daß die Tiere der erstgenannten Art zwei Höcker auf dem Rücken haben, die anderen aber nur einen, sowie an der Brust einen zweiten, auf den sie sich niederlegen können. Wie beim Rind fehlt beiden Arten die obere Zahnreihe. Alle aber verrichten mit ihrem Rücken die Dienste von Tragtieren und in Schlachten auch von Reittieren. Ihre Schnelligkeit ist geringer als die der Pferde, doch bei beiden je nach Größe wie Kräften verschieden. Sie gehen nie weiter als die gewohnte Strecke und lassen sich nicht überladen. Gegen Pferde haben sie einen angeborenen Widerwillen. Durst ertragen sie sogar vier Tage lang und trinken sich satt, wenn sich Gelegenheit dazu bietet, für die Entbehrung in Vergangenheit und Zukunft, nachdem sie vorher das Wasser durch Treten trübe gemacht haben: den anders haben sie am Trunk keine Freude. Sie werden fünfzig Jahre alt, manche sogar hundert. Allenfalls werden sie auch von der Wut befallen. Eine Möglichkeit des Kastrierens hat man auch für die weiblichen Tiere gefunden, die zum Kriegsdienst abgerichtet werden sollen: so werden sie mutiger, da ihnen der Geschlechtstrieb versagt ist.“ (Zitiert ist die Übersetzung von Roderich König, in: Plinius Secundus 1976, 59 und 61; vgl. auch die Erläuterungen ebd. 194f.) – Zum Kamel im Kontext von Tempo und Transport vgl. Bulliet 1990.
  39. Riede 2002, 189. Nicht berücksichtigt ist Jer 2,23 in Janowski/Neumann-Gorsolke/Gleßmer eds. 1993. Die biblische Kamelforschung ist jüngst gefördert worden durch Baumann/Baumann 2006; vgl. auch Keel/Staubli eds. 2001, 23.43-45.
  40. Hamp/Stenzel/Kürzinger 1966
  41. Heutige Assoziationen gehen fehl, wenn sie an etwas anderes denken als an „Begräbnisplatz“ (vgl. Lust/Eynikel/Hauspie 2003, 505).
  42. Z. B. Nötscher 1934, 44 (aus Jer 14,6 eingeschlichen).
  43. Z. B. Bright 1965, 13 n. g: „Hebrew has ‚a wild ass [or: ‚a heifer’] schooled to the desert,’ which disturbs the figure and does not fit grammatically; perhaps it is a gloss or variant reading.“ Bright lässt den Anfang von V. 24 unübersetzt und markiert das mit eckigen Klammern, Rudolph 1947, 16, folgt einer 1909 vorgeschlagenen Konjektur von Ludwig Köhler.
  44. Tur-Sinai, damals noch Harry Torczyner, hatte den masoretischen Text in MGWJ 1931, 18f., verteidigt, ohne die christlichen Exegeten seiner Generation überzeugen zu können.
  45. Vgl. Staubli 2001, 17, der darauf hinweist, dass mit der Gründung des Staates Israel und mit dessen strengen Tierschutzbestimmungen der Onager wieder angesiedelt wurde.
  46. So Rudolph 1947, 16.
  47. Vgl. Glatz, 2001, 29f., Nr. 6 und Nr. 25.
  48. Buber/Rosenzweig 1985 und Tur-Sinai 1993 übersetzen „Jungkamelin“ Nötscher 1934 und Rudolph 1947 „Kamelin“. Die „Camelin“ hatte Martin Luther im 16. Jahrhundert in die Übersetzungstradition von Jer 2,23 eingebracht (die Zürcher Bibel von 1531 hat „ein ringferig Dromedary“). In den heutigen Lutherbibeln (die mit Luthers Bibel nicht verwechselt werden sollte, vgl. knapp und vorläufig Leutzsch 2006, 392) ist diese – womöglich gar protofeministische? – Sprachschöpfung gegen eine diesbezüglich nicht verunsichernde „Kamelstute“ ausgetauscht – schade eigentlich!
  49. Häusls Übersetzung findet sich in: Bibel in gerechter Sprache, Baumanns Übersetzung in Baumann 2000, 132. Zur Übersetzung von שרך vgl. weiter Zehnder 1999, 366.
  50. Die Forschung zu Prophetie und Pornographie in der Hebräischen Bibel ist aufgearbeitet und weitergeführt von Baumann 2000; für die Apk vgl. Palmer 2002; Pippin 1992.
  51. Schmitz-Kahmen 1997, 55.
  52. Riede 2002, 237.
  53. Bailey/Holladay 1968, 258.
  54. Bailey/Holladay 1968, 259.
  55. Herrmann 1990, 144.
  56. So steht etwa das Bild der „Hure Babylon“ (Apk 17f.; dazu Sals 2004) für die Verheerungen, die durch imperialistische Staatsführung, militärische Interventionen und ökonomische Ausbeutung verursacht wurden – mit Ausnahme  vereinzelter Großkauffrauen im römischen Kontext exklusive Männerdomänen.
  57. Nötscher 1934, 44. In Nötschers „Biblischer Altertumskunde“ begegnet das Kamel (Nötscher 1940, 190f.201.213.337), nicht aber Sex unter Kamelen. In Dalmans ausführlicher Kamelstudie (Dalman 1939, 147-160) ist Jer 2,23f. nur ausgeschrieben, nicht kommentiert (ebd. 157).
  58. Wichtig dazu die ausführliche Analyse von Baumann 2000, 111-141. Vgl. ferner Bauer 2000.
  59. Baumann 2000, 140 (im Fazit ihrer Jer-Analyse).
  60. Vgl. Baumann 2000, 131-133; auch ebd. 112f. mit Anm. 356.
  61. Verse 11433ff.
  62. Das Maskulinum δραμών legt nahe, dass an eine Person männlichen Geschlechts gedacht werden soll.
  63. Eine Durchsicht von 13 Kommentaren erbrachte zum Thema Laufen einen Querverweis zur Verwendung des Verbums im Mk (Pesch 1977, 496, der aus dem Laufen folgert, es sei unwahrscheinlich, „daß einer der römischen Soldaten gemeint sei“) und einen Beleg aus Josephus für die verwendete Verbform (Schlatter 1982, 783). Die einschlägigen Analysen zu Elijahu im Mk und im NT (ausführlich zu Mk 15,33-39 zuletzt Pagliara 2003, 221-264) umgehen das Rennen ebenfalls. Der Artikel von Bauernfeind 1969, 232, beschränkt sich auf die Feststellung:  „Umstritten ist dgg das Motiv, aus dem der Mk 15,36 Par genannte Unbekannte zum Kreuz Jesu lief, um ihn mit Essig zu tränken [...].“
  64. Zu künstlerischen Vorbildern der filmischen Standbilder vgl. Gormans 2004, 60-98.
  65. Zwick 1997, 175.
  66. Zwick 1997, 91.
  67. Vgl. Hacke/Sowa 2004.
  68. Vgl. Henscheid/Henschel/Kronauer 2002.
  69. Der Rennende teilt also nicht die Ansicht derer, die Jesus mit Elias identifizieren (Mk 6,15).
  70. Vgl. dazu Leutzsch 2007.

© Marion Keuchen und Martin Leutzsch 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 45/2007
https://www.theomag.de/45/mkml1.htm