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Magazin für Theologie und Ästhetik


Kompetenzen und anvertraute Pfunde

Ein Kunst-Stück zu einem Kinderbuch von Italo Calvino

Ulrike Baumann

In der pädagogischen und religionspädagogischen Diskussion heute ist von Kompetenzen die Rede, die Kinder und Jugendliche haben oder erwerben sollen. In diesem Beitrag möchte ich mich zunächst aus biblischer Sicht mit Kompetenzen befassen und auf ein Gleichnis eingehen, das Jesus dem Lukasevangelium zufolge erzählt:

12 Und er sprach: Ein Fürst zog in ein fernes Land, um ein Königtum zu erlangen und dann zurückzukommen.
13 Der ließ zehn seiner Knechte rufen und gab ihnen zehn Pfund und sprach zu ihnen: Handelt damit, bis ich wiederkomme! …
15 Und es begab sich, als er wiederkam, nachdem er das Königtum erlangt hatte, da ließ er die Knechte rufen, denen er das Geld gegeben hatte, um zu erfahren, was ein jeder erhandelt hätte.
16 Da trat der erste herzu und sprach: Herr, dein Pfund hat zehn Pfund eingebracht.
17 Und er sprach zu ihm: Recht so, du tüchtiger Knecht; weil du im Geringsten treu gewesen bist, sollst du Macht haben über zehn Städte.
18 Der zweite kam auch und sprach: Herr, dein Pfund hat fünf Pfund erbracht.
19 Zu dem sprach er auch: Und du sollst über fünf Städte sein.
20 Und der dritte kam und sprach: Herr, siehe, hier ist dein Pfund, das ich in einem Tuch verwahrt habe;
21 denn ich fürchtete mich vor dir, weil du ein harter Mann bist; du nimmst, was du nicht angelegt hast, und erntest, was du nicht gesät hast.
22 Er sprach zu ihm: Mit deinen eigenen Worten richte ich dich, du böser Knecht. Wusstest du, dass ich ein harter Mann bin, nehme, was ich nicht angelegt habe, und ernte, was ich nicht gesät habe:
23 warum hast du dann mein Geld nicht zur Bank gebracht? Und wenn ich zurückgekommen wäre, hätte ich's mit Zinsen eingefordert.
24 Und er sprach zu denen, die dabeistanden: Nehmt das Pfund von ihm und gebt's dem, der zehn Pfund hat.
25 Und sie sprachen zu ihm: Herr, er hat doch schon zehn Pfund.
26 Ich sage euch aber: Wer da hat, dem wird gegeben werden; von dem aber, der nicht hat, wird auch das genommen werden, was er hat.                  [Lukas 19, 12 – 13, 15 – 26]

Das ist keine nette Geschichte. Hier erzählt kein Jesus, der immer nur lieb ist, sondern einer, der etwas fordert. Doch zuerst wird in der Geschichte den Knechten, die für uns Menschen stehen, etwas gegeben. Zehn Pfunde vertraut ihnen der König an, und er ist zuversichtlich, dass sie daraus etwas machen werden. Zwei Knechte rechtfertigen sein Vertrauen über alle Maßen. Sie setzen ein, was ihnen anvertraut wurde und reichern es fünffach und zehnfach an. Ein dritter aber riskiert gar nichts. Von Anfang an hat er das Bild, dass der König hart und unerbittlich sein wird. Deshalb versteckt er ängstlich, was er erhalten hat. Seine inneren Bilder vom König verstellen ihm den Blick für seine eigenen Kompetenzen. Unsere Fähigkeiten sind uns von Gott anvertraut, sagt uns das Gleichnis; wir sollen damit in der Welt etwas anfangen, sie einsetzen. Wer alles einsetzt, dem kann viel oder zumindest manches gelingen. Aber wer ängstlich an dem klebt, was er hat, wird möglicherweise auch das noch verlieren. Auf die Frage nach den Kompetenzen gibt das Gleichnis eine eindeutige Antwort: Jede oder jeder hat etwas bekommen, mit dem er oder sie etwas anfangen kann. Also mach was draus! Das ist keine Geschichte für Feiglinge. Das Urteil über den ängstlichen Knecht erscheint streng und unerbittlich. Wegen dieser Strenge bleibt das Gleichnis für manche Menschen unverständlich.

Ich möchte den Sinn des Bibeltextes deshalb durch eine weitere Geschichte erhellen, die das Motiv der anvertrauten Pfunde aufnimmt. Diese Geschichte ist harmloser als das Gleichnis, dafür aber auch humorvoller. Sie steht in dem Kinderbuch „Die Wette, wer zuerst wütend wird“ von Italo Calvino.[1] Eine Hauptfigur ist ein italienischer Landpfarrer. Er scheint mit sich und der Welt zufrieden zu sein, denn er nennt vieles sein eigen: ein großes Haus, hundert Schweine, hundert Schafte und gleich zwei Haushälterinnen. In seiner Gemeinde lebte ein armer Mann, der drei Söhne hatte: Giovanni, Fiore und Pirolo. Kurz vor seinem Tod rief er sie zu sich und sagte: „Alles, was ich euch hinterlassen kann, sind drei Scheffel Geld, die ich in mühsamer Arbeit zusammengetragen habe. Nehmt jeder von euch einen und macht das Beste daraus.“ Die drei Söhne betrauern den Vater lange, doch dann besinnen sie sich: „Das Ersparte wird bald verbraucht sein. Um zu leben, müssen wir arbeiten und etwas daraus machen.“ So treten die ersten beiden Söhne in den Dienst des Pfarrers. Doch dieser ist ein Schlitzohr im geistlichen Gewand. Nacheinander legt er die ahnungslosen Brüder durch eine Wette herein: „Ich habe auch einen Scheffel Geld“, sagt er. „Wenn du in meine Dienste trittst, werden wir einen Pakt schließen: Wer von uns beiden zuerst wütend wird, verliert seinen Scheffel Geld.“ Als Giovanni und Fiore einwilligen, lässt er sie den ganzen Tag auf dem Feld arbeiten, ohne dass die Magd ihnen etwas zu essen bringt. Am späten Abend erscheint sie endlich mit tausend Entschuldigungen, einer Flasche und einem Henkeltopf. Die hungrigen Burschen machen sich darüber her. Aber Topf und Flasche sind fest verschlossen und lassen sich nicht öffnen. Die Brüder fluchen, was das Zeug hält: „Ist das eine Art, die Leute zu behandeln?“ „Hast du unsere Wette vergessen“, grinst der Pfarrer. „Ach zum Teufel damit“, schreien die Brüder und machen sich ohne ihr Geld davon.

Da zieht Pirolo, der jüngste Bruder aus, um es dem Pfarrer heimzuzahlen. Seine Chancen stehen besser, denn er ist selbst mit allen Wassern gewaschen. Vor der Feldarbeit stopfte er sich die Taschen voll, so dass ihm der Hunger nichts anhaben konnte. Am nächsten Tag soll Pirolo die hundert Schweine verkaufen. Aber er verkauft nur 99, nicht ohne ihnen vorher die Schwänze abgeschnitten zu haben. Das Geld behält er für sich. Das letzte Schwein und die 99 Schwänze steckt er in die Erde und schreit: „Zu Hilfe, zu Hilfe, Herr Bölle, die Schweine fahren zur Hölle; versinken im Boden, o Graus, und nur noch das Schwänzchen guckt raus!“ Nur das letzte Schwein könne er gerade noch aus der Erde ziehen. Der Pfarrer platzt fast vor Wut, kann sich aber in letzter Minute beherrschen. Mit den hundert Schafen macht Pirolo das gleiche, nur geht es jetzt in die andere Richtung. Pirolo hängt das letzte an einen Baum und ruft: „Zu Hilfe, zu Hilfe, Herr Zimmel, die Lämmchen fliegen zum Himmel. Seht nur das Hinkebein Zappel dort droben hoch auf der Pappel!“ Auch dieses Mal kann sich der Pfarrer gerade noch beherrschen. Aber dann trifft Pirolo das Herzstück des Pfarrhaushalts, sprich: die beiden Mägde. Ich zitiere den Text aus dem Original:

„Beim Abendessen fragte Pirolo erneut, was er am nächsten Tag machen solle. Und der Pfarrer: ‚Mein Sohn, ich habe keine Arbeit mehr für dich. Morgen früh gehe ich in einen benachbarten Sprengel, um dort die Messe zu lesen. Du kannst mitkommen und den Messdiener machen.’ Am nächsten Morgen stand Pirolo sehr früh auf, putzte die Schuhe des Pfarrers, zog sich ein weißes Hemd an, wusch sich das Gesicht und ging seinen Herrn wecken. Sie brachen zusammen auf, aber kaum waren sie unterwegs, begann es zu regnen, und der Pfarrer sagte: ‚Lauf rasch zurück und hol mir die Holzpantinen. Ich möchte mir nicht die Schuhe dreckig machen, die muss ich noch zur Messe anziehen. Ich warte hier unter diesem Baum auf dich.’

Pirolo lief zum Pfarrhaus und rief die zwei Mägde: ‚He, wo steckt ihr? Der Pfarrer hat gesagt, ich soll euch beide küssen!’ ‚Uns küssen? Bist du verrückt? Das soll der Pfarrer gesagt haben?’ ‚Alle beide, jawohl! Ihr glaubt mir nicht? Wartet, gleich wird er’s euch selber sagen!’ Sprach’s, beugte sich aus dem Fenster und rief zu dem Pfarrer, der drüben wartete: ‚Hochwürden, eine oder alle beide?’ ‚Alle beide natürlich, alle beide!’ rief der Pfarrer. ‚Habt ihr gehört?’ sagte Pirolo und gab jeder der beiden einen Kuss. Dann nahm er die Holzpantinen und lief zu dem Pfarrer zurück, der ihn verwundert fragte: ‚Was hätte ich denn ohne die Pantinen anfangen sollen?’

Als sie von der Messe zurückkamen, sah der Pfarrer, dass die zwei Mägde ärgerlich auf ihn waren. ‚Was ist denn los?’ fragte er sie. ‚Was los ist? Uns fragt Ihr, was los ist? Wie könnt Ihr dem jungen Mann solche Anweisungen erteilen? Wenn wir’s nicht mit eigenen Ohren gehört hätten, hätten wir’s nie geglaubt!’ Und sie erzählten ihm von den Küssen.

‚Jetzt reicht’s aber’, sagte der Pfarrer, ‚ich werde den Kerl auf der Stelle entlassen!’ ‚Aber Feldarbeiter kann man nicht entlassen’, sagten die Mägde, ‚solange der Kuckuck nicht ruft.’ ‚Dann werden wir eben vortäuschen, dass er ruft!’ sagte der Pfarrer, rief Pirolo zu sich und sagte zu ihm: ‚Hör zu, ich habe zurzeit keine Arbeit für dich. Du kannst gehen, du bist in Frieden entlassen.’ ‚Wie?’ sagte Pirolo. ‚Ihr wisst sehr gut, dass Ihr mich nicht fortschicken könnt, ehe der Kuckuck ruft.’ ‚Stimmt’, sagte der Pfarrer. ‚Also warten wir, bis der Kuckuck ruft.’

Da schlachtete die alte Magd ein paar Hühner, rupfte sie und nähte die Federn auf einen Rock und eine Hose des Pfarrers. Am Abend schlüpfte sie in das Federkleid, setzte sich aufs Dach und rief: ‚Kuckuck! Kuckuck!’ Pirolo saß mit dem Pfarrer beim Essen. ‚Horch!’ sagte der Pfarrer. ‚Mir scheint, der Kuckuck ruft!’ ‚Ach was’, sagte Pirolo, ‚wir haben doch erst März, und vor Mai ruft der Kuckuck nicht.’ Aber es war ganz deutlich zu hören: ‚Kuckuck! Kuckuck!’                 

Da lief Pirolo hin und holte die Schrotflinte, die über dem Bett des Pfarrers hing, machte das Fenster auf und erblickte den großen Vogel, der auf dem Dach saß. ‚Nicht schießen! Nicht schießen!’ rief der Pfarrer, aber Pirolo schoss. Die gefiederte Magd fiel getroffen vom Dach. Diesmal konnte der Pfarrer sich nicht mehr beherrschen: ‚Pirolo! Fort mit dir! Komm mir nie wieder unter die Augen!’ ‚Warum? Seid Ihr wütend auf mich, Herr Pfarrer?’ ‚Jawohl, jawohl, ich bin sehr wütend auf dich!’ ‚Gut, dann gebt mir die drei Scheffel, und ich gehe fort.’ So kehrte Pirolo mit vier Scheffeln Geld und dazu noch all dem, was er für die Schweine und die Schafe bekommen hatte, zu seinen Brüdern heim. Er gab ihnen ihre drei Scheffel zurück, eröffnete einen Altwarenladen, nahm sich eine Frau und lebte fortan immer glücklich.“[2]

Wer hat in dieser Geschichte im Sinne Jesu gehandelt? Sicher nicht der Pfarrer, der seine Autorität und seine Güter einsetzt, um sich auf Kosten anderer zu bereichern. Davon hat Jesus nichts gesagt. Eher schon Pirolo, er setzt seine Kompetenzen, seinen Witz und Verstand ein, um sich und seinen Brüdern zu ihrem Recht zu verhelfen. Dabei lässt er sich von der Autorität des Pfarrers nicht sonderlich beeindrucken. Die Geschichte lebt von der Anarchie. Pirolo findet sein Glück: zum Schluss hat er eine Frau und einen Altwarenladen in Italien. Es sei ihm gegönnt!

Aber Jesus ging es im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden noch um mehr: Er verkündete eine neue Welt, die im Geist Gottes existiert. Als er sein Gleichnis erzählte, war er mit zahlreichen Menschen auf dem Weg nach Jerusalem. Die Leute dachten, jetzt werde Gottes neue Welt gleichsam von selbst vom Himmel fallen. Jesus dagegen sagt: Das Reich Gottes kommt nicht ohne euch. Aber wenn ihr die Gaben und Fähigkeiten einsetzt, die ihr empfangen habt, dann kann Gottes Reich schon beginnen, mitten unter euch. Möge die Diskussion um Kompetenzen auch dazu anregen, uns auf diese Gaben zu besinnen.

Anmerkungen
  1. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber, Carl Hanser Verlag, München / Wien, 5.Aufl. 1998
  2. A.a.O. S. 23 - 30

© Ulrike Baumann 2007
Magazin für Theologie und Ästhetik 45/2007
https://www.theomag.de/45/ub1.htm

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