Beratung tut not in Zeiten der Unübersichtlichkeit. Berater und Beraterinnen sind gefragt, um Ordnung ins Chaos zu bringen. Beratungskompetente formulieren Fragen, für die sie die Antworten vorentworfen haben. Beratungsindustrie macht Gefühle und Probleme objektiv, vergleichbar, verkäuflich und enteignet sie den Problembeladenen und Emotionalen. Unser Kapitalismus-System monetarisiert, standardisiert Probleme und Gefühle und stellt diese in Geld und anderen Tauschmitteln öffentlicher Geltung dar. Dadurch werden sie imitierbar und müssen im Privaten auch imitiert werden. Probleme und Gefühle werden manipulierbar, lösbar, indem die idealisierte Berater-Version des privaten Selbst veröffentlicht und veräußerlicht wird. Wir gleichen uns. Albrecht Genin, Künstler in Berlin, hat 1993 „Berater“ in Holz geschnitten, 25 auf 50 cm im Querformat, als Blatt 50 auf 65 cm.Was zeigt sich mir? Die beiden Berater, ein Fisch-Vogel zur Linken und ein Kopffüßler zur Rechten, beides von Genin öfter gewählte, dargestellte Figuren, Symbole für den Reichtum an Lebendigen. Die beiden begegnen sich im offenen, schwarzen, mit weißen waagrechten kleinen Schrunden und Rissen durchzogenen Raum. Sie befinden sich in der Luft in einem durch Ritzung angedeuteten ovalen, nach unten gehälfteten Bereich, auf gleicher Höhe. Der Hintergrund scheint in der oberen Schnittlinie des Ovals in die Waagrechte überzugehen, betont durch die eher waagrechte Verkörperung des Fisch-Vogels und dem mehr senkrechten Kopffüßler. Beide stehen am Rand des Ovals, der Fabel-Vogel ganz links, der Fabel-Füßler von rechts knapp vor der Mitte, wie hingestellt, nicht schwebend, ausharrend, erwartend oder eher abwartend. DerVogel ist dem Füßler zugewandt, der Füßler diesem abgewandt mit dem Blick auf mich, der ich damit in die Berater-Konstellation einbezogen bin und mir mein Bild mache (machen muss). Der Füßler schaut mit großen, leeren Augen, seine rechte Gesichtshälfte auf freilich nicht schroffe Abweisung gestellt und seine linke als Wölbung und Ausdehnung (für Ratschläge ?) auf allerdings abgewandte Kontaktmöglichkeit gestellt. Der spitze Schnabel-Mund des Vogels bleibt geschlossen, ohne Beratungsgespräch. In der Bergpredigt geht Jesus (als österlicher Rabbi) ähnlich mit Vögeln um (Matthäus 6,26): „Sehet die Vögel des Himmels an! Sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen, und Euer himmlischer Vater ernährt sie“. („Seid ihr nicht viel mehr wert als sie“.) Schöpfungstheologisches: Die Schöpfung als Beraterin, deren Ratschläge sich beim sinnlichen Nachspüren und Ahnen fragmentarisch, nur in Unterstellungen fassbar auftun, keine analogia entis zum Beraten ex cathedra. Beraten bleibt eine Begegnungsweise außerhalb der Logik des Tauschgeschäftes. Der Kopffüßler schaut kopflos und doch hat er etwas von Zugewandtheit und Fülle. Er berät nicht und wünscht keine Beratung. Aber indem er mich anschaut, berät er, mindestens mich. *Was ist doch der Mensch, dass Du seiner gedenkst? Und des Menschen Kind, dass Du Dich seiner annimmst? Du machtest ihn wenig geringer als Engel, mit Ehre und Hoheit kröntest Du ihn. Du setztest ihn zum Herrscher über das Werk Deiner Hände, alles hast Du ihm unter die Füße gelegt“ (Psalm 8, 5-7). Oder deutet das Oval ein Schiff an mit einem zweiäugigen Segel, so etwas wie Advent? Ist der Fisch-Vogel ein Steuermann? Ein bodenloses Schiff? Es gibt kein Entrinnen; der jeweils Andere besteht darauf. Es könnte also auch eine Luft-Arena mit zwei Kontrahenten ohne Schiedsrichter sein? Nach einigem Hinschauen, Sinnieren und Nachdenken bin ich immer wieder überrascht, wie Genin einerseits Profi-Berater zu entlarven und zugleich andererseits so einzusetzen vermag, dass es keine Beratung „von vorne“, mit dem Anspruch der Lösbarkeit, geben kann. Nicht Beratung wird bestritten, sondern Ansatz, Reichweite, Effekt unserer Beratungspraktiken. Genin rückt ohne Imperativ zurecht, indem er die eingangs kurz angesprochene Beratungsordnung aufhebt und die Profi-Berater durch Vogel und Kopffüßler vertreten sieht. Beratung geschieht schon immer zwischen uns; Genin gibt das Beraten in die Alltäglichkeit, ins Kontingente zurück. Jeder hat einen Vogel, einen, der ihm hilft; jeder hat einen zweiten Kopf, der ihm einflüstert. Jeder und jede ist ein Berater, Beraterin, und (mit Beuys) ein Beratungskünstler und eine Beratungskünstlerin. Es ist wie mit der Frage: Wer ist mein Nächster? Jeder und jede, der und die mich um Hilfe und Rat bittet, denn solches Gebetenwerden ist Beraten-, Befreit-, Konstituiertwerden. Wem helfe ich, wenn ich helfe: dem Anderen oder / und mir ? Was erwarten wir? Von professionellen und konfessionellen Beratern im Helferhabit oder als Hochglanzpapier oder als TV-Medium wird Eindeutiges, Seriöses, Integratives erwartet, was den beiden Genin-Beratern nicht zugetraut wird. Die beiden sind zu alltags-menschlich, knapp menschlich. Es ist wie mit Glauben, den wir als Experiment leben, das von Halt und Zweifel, von Rat und Fehlschlag, von Beratung und Enttäuschung durchzogen bleibt. Der und das Andere der Beratung berät, was theologisch als Gnade oder Wirken des Geistes Gottes bezeichnet wird. Der Berater bleibt Stellvertreter, der die Rechtfertigung des beratenen Zweiflers, theologisch: des Sünders, offen hält. „Religion bewährt sich daran, dass es gelingt, die Unsicherheit, die Fragwürdigkeit aller Wahrheiten und Moralen zu ertragen“ (D.Zilleßen; U.Gerber: Und der König stieg herab von seinem Thron. Das Unterrichtskonzept religion elementar. Frankfurt / M. 1997, 17) Schauen Sie hin. Albrecht Genin hatte wahrscheinlich keinen meiner Gedanken, Deutungen, Eisegesen, vielleicht Projektionsbruchstücke beim Anfertigen seiner „Berater“, die sich im Wahrnehmen und Deuten zu meinen „Beratern“ verwandelt haben und die sich für jede und jeden von uns verwandeln. Das Kunst-Stück sinnlichen Wahrnehmens und Deutens ist Mut; Beraten heißt Vermuten. |