Rezension über Wilhelm Gräb. Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur. Gütersloher Verlagshaus. Gütersloh 2006. Im Grunde ist Wilhelm Gräb ein Vertreter einer Kultur-Theologie, deren Ziel darin besteht, quasi von einer konstruierten Außenperspektive her die gesellschaftliche Funktion der hiesigen Religion zu betrachten. Ich werde in der Besprechung dieses Sammelbandes seiner neueren Aufsätze[1] zeigen, dass Wilhelm Gräb gerade in dieser Perspektive der christlichen Religion gerecht wird und den Sinn dessen aufzeigt, was die Kirche heute zu sagen hat[2], wenn sie denn den Anspruch nicht aufgeben will, möglichst viele Menschen zu erreichen und nicht nur solche, die der alten Kirchensprache verhaftet sind. Dennoch habe ich ihn, neben seiner klar positionierten Argumentation, die sicherlich nicht in allem die Zustimmung kirchlicher Gremien findet, in seiner Eigenschaft als brillanter Formulierer dessen entdeckt, was über den Glauben in der aktuellen Sprache zu sagen ist. Als Beleg dazu möge gleich zu Beginn ein Zitat aus dem Vorwort des Buches dienen: „Die Religion reduziert einerseits Komplexität. Sie bremst die Reflexion aus und konstituiert fundamentale Überzeugungen. Sie kennt andererseits aber auch die Sehnsucht nach dem Vollkommenen, ist mehr Frage als Antwort, eher eine Bewegung der Suche und des unaufhaltsamen Problematisierens als die Gewissheit des Gefundenhabens und der fertigen Antworten. Diese Suche ist letztlich eine Suche nach Sinn. … Nichts kennzeichnet die Moderne tiefenschärfer als die Suche nach dem (verlorenen) Sinn. Sinnfragen aber sind die Fragen der Religion. Sie gehen aufs Ganze und brechen in den verschiedenen Bereichen des Lebens auf, sind aber ohne Ausgriff ins Metaphysische nicht zu ertragen, geschweige denn zu beantworten. … Wo Sinnfragen aufs Ganze gehen, zeigt sich in der modernen Kultur das Verlangen der Menschen nach Symbolen und Ritualen, wie sie die Religionen und in unseren Breiten besonders das Christentum seit jeher entwickelt haben.“[3] Die Stärke dieses Bandes ist die pointierte Ausrichtung auf den Adressaten, wie sie Aufsätzen eigen ist, die oft vom Material aus Vorträgen entstanden sind. Zunächst überrascht aber andererseits die Tatsache, dass damit hier keine geschlossene Monographie vorliegt, womit das klar gestellte Themas „Sinnfragen. Transformation des Religiösen in der modernen Kultur“[4] mich zunächst in die Irre führte. Doch wie bei einer Symphonie, die dasselbe Thema in verschiedenen Zusammenhängen erklingen lässt, zeigt der Verfasser sein Thema in aufeinander aufbauenden und einander ergänzenden Abschnitten.. Ich verstehe dieses Thema folgerndermaßen: Es ist in unsrer Zeit, ja sogar in unserer westlich zivilisierten und säkularisierten Gesellschaft möglich und notwenig, religiös zu reden und zu denken, wenn man denn dabei beachtet, dass dieses Reden in seiner Form der modernen Gesellschaft entsprechen sollte. Die mit der Wiederkehr der Religion erneut aufkommenden fundamentalistischen Wiederholungen sind zwar in einer postmodernen Situation unter bestimmten Bedingungen tolerabel, was aber meistens nicht bedeutet, dass sie auch die Sprache der meisten Menschen treffen. Ich möchte hier nun einfach den Inhalt der einzelnen Abschnitte referieren um zum Ende den ganzen Text noch einmal abschließend zu würdigen. Gräb grenzt sich ab von einer theistischen Rede von Gott, weil diese die symbolische Bedeutung des Wortes „Gott“ verschleiert.[5] Er empfiehlt, sich der Sprache der Tradition, wie schon ausgeführt, eher von außen zu nähern, als Religionstheorie. Darin greift er zurück auf Friedrich Schleiermacher (1768-1834) und sieht wie dieser im individuellen Selbstgefühl der einzelnen Menschen den Ort der Religion. In dieser Situation ist die religiöse Sprache bewusster zu gebrauchen, wenn man auf die ständige Übersetzung achtet, die nötig ist. Nach Niklas Luhmann stellt Gräb fest, dass die Religion von ihrer Funktion her in der Gesellschaft nicht zu ersetzen ist. Der Ort der Religion in der Gesellschaft ist die Bearbeitung der Sinn-Frage. Wilhelm Gräb stellt sich bewusst in die Tradition des Kulturprotestantismus von Friedrich Schleiermacher über Adolf von Harnack(1851-1930) bis Ernst Troeltsch (1865-1923) einig mit deren Thema, die Antwort auf die Akzeptanzkrise der kirchlichen Tradition darin zu verstehen, sich dem Dialog mit der säkularen Welt zu stellen[6]. In der verfassten Kirche ist dieser Ansatz weitestgehend abgelehnt worden, was die Entfremdung der Kirche von weiten Teilen der Gesellschaft eher noch gefördert hat. Dabei ist die christliche Botschaft im Kern für die Gesellschaft wichtig, denn sie begründet Individualität, Freiheit und in der modern verstandenen Rechtfertigungslehre die Vorstellung von der Menschenwürde. Auf die Kritik des Kulturprotestantismus durch die dialektische Theologie geht Gräb nur indirekt ein, indem er zeigt, dass die Nähe zur Gesellschaft in der Form der Kulturtheologie in der Kirche selbst kaum Anerkennung findet, wenn diese weiterhin etwa im Sinn der Barmer Theologischen Erklärung auf die Förderung „konfessioneller Milieus“ setzt. Was dies nun konkret bedeutet zeigt der dritte Abschnitt: „Kirche in der modernen Lebenswelt: Eine Existenz in der Diaspora?“[7] Im Grunde wird hier das erste Kapitel direkt fortgesetzt und eine Standortbestimmung in der säkularen Welt gegeben. In der Neuzeit kann sich die Kirche auf die Weitergabe des Evangeliums sogar verstärkt konzentrieren, da sie davon enthoben ist, das bis 1918 bestehende Bündnis von Thron und Altar zu stützen. Die Religion ist ebenfalls aus verfassten Denkformen ausgewandert und hat sich in vielfältige Formen und Denkweise der modernen Kultur hinein transformiert. Die Teilnahme am Religionsangebot ist in dieser Gesellschaft pluralistisch offen und individuell geprägt. Sowohl die „Civil Religion“ der Berliner Doms, als auch die kulturelle und liturgische Präsenz der Religion sind in der letzten Zeit verstärkt wahrzunehmen. Religionsunterricht und Konfirmandenarbeit gehören nicht in eine Randexistenz, sondern sind sehr wichtige Formen der Auseinandersetzung mit Religion geworden. „Was hält letztendlich am Leben?“ Diese Sinnfrage bricht in unterschiedlichsten Krisen auf. Mit Religion erhalten die Menschen ein Stück ihres Selbstgefühls zurück, das sie in den gesellschaftlichen Krisen verlieren. Da in der Krisenerfahrung Kirche gefragt ist, kommt ihr darin auch eine besondere Rolle zu. Dazu gehört offene inszenierte Trauer (z. B. Eschede, Tsunami) genauso wie die Behandlung persönlicher Krisen. Leider fehlt hier das Stichwort Seelsorge, das an diese Stelle gut gepasst hätte. Im folgenden Kapitel werden einige Themen der Theologie auf die Grundannahme angewandt, dass der Gegenstand der Theologie im Grunde die gelebte Religion ist.[8] Dabei ist diese Theologie in die gelebte Religion eingebunden. Dennoch orientiert sie sich hermeneutisch am zeitgenössischen Denken der Menschen und legt dadurch die „kognitiven Dissonanzen“, das heißt die inhaltlichen Unstimmigkeiten der religiösen Sprache offen. Am Beispiel der Rechtfertigungslehre zeigt Wilhelm Gräb, dass dieses zentrale Thema des evangelischen Glaubens nicht aufgegeben werden muss, weil bestimmte Denkvoraussetzungen nicht mehr funktionieren, wenn angesichts der Selbstrechtfertigung und der Leistungsansprüche klar wird, dass die Identität in Gott von Funktion, Rolle und Leistungen unabhängig ist. „Christlicher Glaube verhält sich deutend auch noch zu den Sinnabgründen“ und lädt die Menschen ein, die fragmentarischen Erfahrungen in ihre Identität zu integrieren. In den folgenden Kapiteln führt Gräb den Begriff der Transformation ein und zeigt an verschiedenen Beispielen wie in verschiedenen Beispielen kulturellen Lebens Religion erkennbar wird.[9] Am Beispiel der Kunst, wie sie in der Dokumenta 11 in Kassel gezeigt wurde, wird die Verbindung von Religion und Kunst erkennbar. Vor allem der Kirchenbau fordert die Symbolisierung der Religion und die Beteiligung von Kunst daran. Der künstlerischen Arbeit selbst lässt sich vor allem auf der Deutungsebene „ein religiöses Moment“ nicht absprechen, und sie zeigt oft eine Verbindung zum Unbedingten auf. Dazu heißt es im folgenden Kapitel[10]: „Möglicherweise ist religiöse Erfahrung nichts anderes als mit Hilfe religiöser Semantik gedeutete ästhetische Erfahrung.“[11] Religiöse Erfahrung ist sinnliche Erfahrung und spricht das Gefühl an. Dabei erfährt sich der Einzelne in einem überpersönlichen Zusammenhang, wird Teil des Ganzen, transformiert und deutet dies mit religiöser Sprache und Symbolik als Transzendenz. Wie in der Kunst so steht auch in der Religion die Erfahrung im Vordergrund. Man kann dabei durchaus mit ein wenig Neid auf die öffentliche Inszenierung katholischer Massenreligion schauen oder auch einen ganz gewöhnlichen Gottesdienst betrachten. In dieser Blickrichtung treten die Massenmedien nun ein wenig zurück, denn die eigentliche performative Erfahrung machen Menschen life. Der Unterschied zwischen ästhetischer und religiöser Erfahrung liegt nicht auf der Ebene des Geschehens, sondern in der Deutung. Die Diskussion innerhalb der christlichen Religion zeigt sich am Beispiel des Bilderstreits[12]. Es ist einerseits bekräftigend festzustellen, dass der Glaube von inneren und äußeren Bildern lebt, andererseits aber haben Bilder die Kraft zur Verführung und sogar dazu, den Menschen den Verstand zu nehmen. Gegen die Macht der Bilder richtete sich der reformierte Protest. Demgegenüber wird heute zum Beispiel in einer gemeinsamen Denkschrift festegestellt, dass Kunst in den kirchlichen Raum gehört. Gräb rät auch auf diesem Hintergrund unbedingt dazu, kirchliche Räume, die aus Finanzgründen nicht mehr für den Gottesdienst zur Verfügung stehen, nicht endgültig aufzugeben, sondern für Ausstellungen o. ä. zu nutzen. In künstlerischen Bildern werden Existenzfragen aufgearbeitet und zum Teil sogar biblische Themen behandelt. Es geht natürlich nicht darum, wie ursprünglich im Bildersturm bekämpft, ein Bild oder einen Kunstgegenstand religiös zu verehren; dagegen richtete sich das Bilderverbot zu Recht. Im nächsten Abschnitt gibt Wilhelm Gräb konkrete Beispiele für den Gebrauch von Kunst im kirchlichen Raum[13]. Dies zeigt er zunächst am Musical „Godspell“ aus den sechziger Jahren, das von einem kirchlichen Projekt neu inszeniert wurde. Fast jede der 40 Vorstellungen war ausverkauft, das Echo dagegen geteilt: Jugendliche und kirchlich eher Distanzierte lobten diesen Zugang zur biblischen Botschaft, andere dagegen lehnte schroff ab. Diese Resonanz ist auch auf dem Hintergrund einer Untersuchung über die „Kultursoziologie“ zu betrachten, die in der Bevölkerung unterschiedliche Milieus zeigt, deren Rezeptionsweise sehr unterschiedlich, ja zum Teil sogar gegensätzlich ist. Tröstlich ist, dass die Rezeption der kirchlich, biblischen Inhalten doch von solcher Milieubindung unabhängig ist, da sie auch in Bereiche der Kultur eindringt, die kirchlich nicht geprägt sind, wie z.B. das Kino. Sowohl die Strategie der christlichen Heilsgeschichte als auch das Erleiden einer Passionsgeschichte sowie der letztendliche Ausblick auf ein neues Leben ereignen sich in diversen Filmen der Gegenwart. Diese Feststellung schlägt natürlich eine Brücke zur Religionspädagogik, wo solche Inhalte dem Jugendmilieu oft angemessener sind als der binnenkirchliche Alltag. Daran anknüpfend zeigt der nächste Abschnitt, dass folglich die Religionstheologie zur Religionshermeneutik ausgeweitet werden sollte[14]. Die Vermittlung symbolischer Gehalte der biblischen Überlieferung geht zusammen mit der Beobachtung religiöser Inhalte in den Medien. Die Ergebnisse einer empirischen Studie, die 2006 veröffentlicht worden ist, zeigt dies am Beispiel einiger Filme wie „Cast away“. Es wird darin deutlich, dass ein hermeneutischer Zirkel vollzogen wird, wenn Individuen religiöse Inhalte aufnehmen und dabei im persönlichen Gespräch eine Einstellung zu Gott voraussetzen. Auch hier tritt durch das religiöse Bildungsgeschehen in den Vordergrund, wie es durch religiös geprägte Medien gestaltet werden kann. Nun wird zunächst erst einmal die Gottesdienstkultur der Kirche selbst als religiös kulturelles Geschehen in den Blick genommen[15]. Kann man nun auch die innerste religiöse Handlung der Kirche aus der Außenperspektive betrachten? Dazu zunächst ein Zitat: „Gott ist der absolute, unendliche Sinn, symbolisiert in einem personalen Gegenüber, dem Vater im Himmel, von dem Jesus uns gezeigt hat, dass an ihm sich das Vertrauen festmachen kann auf Bewahrung in der Gefahr, dem die Klage und die Verzweiflungsschreie gelten können in den Erfahrungen des Ungeheuren und Absurden.“[16] Ohne irgendeine Angst vor Synkretismus feiert die Kirche Gottesdienst in ansprechender Gestalt und nimmt die Fragen der Menschen besonders dann auf, wenn das Menschsein als Ganzes betroffen ist (Rituale). Kirchliche Symbole werden als lebendige Lebenszusage erfahren. Religiöse Räume sind da und werden wahrgenommen. Wilhelm Gräb geht in diesem Kapitel besonders ein auf drei Fragen, die der Liturgiewissenschaftler K.H. Bieritz an ihn gerichtet hat: Wer ist der Träger der Liturgie? Was ist Gehalt und Sinn? Wie ist der Bezug zur Geschichte Gottes mit den Menschen zu sehen? Es geht dabei in allen drei Fragen um die Kritik am Begriff des Gottesdienstes als Inszenierungsgeschehen. Die Kritiker setzen metaphysisch auf die Gegenwart zweier Welten, die sich im Gottesdienst begegnen. Hier ist es ausschließlich die Gegenwart der Gemeinde, die im Gottesdienst von der göttlichen Wirklichkeit berührt wird. Bei Wilhelm Gräb dagegen ist der Gottesdienst ein Kommunikationsgeschehen zwischen Amtsträger und Gemeinde, sich darin auf Luther beziehend. Das Geschehen der Liturgie ist performativ, d. h. die Segenskraft Christi erwächst aus Worten und Gesten. Dabei steht jedes Individuum vor der Aufgabe sich das Evangelium und den Glauben daran anzueignen. An der Sprachhandlung „Gottesdienst“ als kommunikative Inszenierung erwächst die Möglichkeit „die eigene Lebensgeschichte auf die Gottesgeschichte“[17] zu beziehen und damit die Gegenwart Gottes in der eigenen Lebensgeschichte erkennen zu können. In der Konzentration auf das Wortgeschehen bleibt Gräb streng reformatorisch während er den Kritikern „Eucharistisierung“ und die Gestaltung der evangelischen Gottesdienste nach Vaticanum II. vorwirft. Auch wenn dieses Argument ein wenig pauschal klingt, finde ich es interessant, dass bei Gräb in den Begriffen „Schöpfer- und Segenskraft“ Gottes auch ein energetisches Verständnis des Gottesdienstes aufleuchtet und ich denke, dass er voraussetzt, dass Kommunikation auch nonverbale Ereignisse einbezieht. Dieses Kapitel bildet die Brücke zu vier kleinen Kapiteln, in denen Wilhelm Gräb, wie schon in Kapitel 10 angedeutet auf Grundaufgabe der Kirche zu sprechen kommt: Verkündigung, religiöse Bildung, Kasualpraxis und kirchliche Leitung[18]. Kirchliche Verkündigung kann heute nicht davon absehen, dass wir in einer Mediengesellschaft leben[19]. Während zuvor die Rede davon war, dass religiöse Elemente in der Medienkultur vorkommen, so geht es nun darum den Ort der Kirche als Vertreter der Religion in der Mediengesellschaft näher zu analysieren. Dabei ist zu sehen, dass nun neben den traditionellen Angeboten auch völlig neue auftauchen, wie die Andachten in Radio und Fernsehen. Wilhelm Gräb zeigt Kriterien für eine Radioandacht auf und macht deutlich, dass es hier darauf ankommt, bei den Hörerinnen und Hörern, so wenig Frömmigkeit“ wie möglich vorauszusetzen. Dabei sollte die Radioandacht nicht den Anspruch der Informationsvermittlung haben, da dies von anderen Angeboten wahrgenommen wird. Verkündigung sollte vielmehr als „Lebensdeutung“ aufzufassen sein. Dabei stellt die religiöse Rede immer auch Alltagsbezüge her, als Beispiele gelingenden Lebens. Vielleicht sollte man solche Kriterien auch auf den Gottesdienst anwenden, zumindest zu den Anlässen, wenn die Teilnehmer wenig religiös geprägt sind wie z. B. bei einer Konfirmation. Doch diese Voraussetzungslosigkeit im Anspruch auf religiöses Vorwissen setzt eines sicher voraus: Mit Gott zu rechnen: „Und wo ist Gott? Oft gerade da, wo man ihn nicht sucht.“[20] In nächsten Abschnitt geht es nun um die Aufgabe der religiösen Bildung[21]. In der letzten EKD Umfrage wird nun endlich entdeckt, dass in der Gesellschaft ein hoher religiöser Individualismus besteht, der nicht vorschnell als unkirchlich oder areligiös gedeutet werden sollte. Im Gegenteil: „Wenn Individuen erfahren, dass sie in der Kirche mit ihren religiösen Fragen und ihrem Suchen Ernst genommen und verstanden werden, wenn sie merken, dass sie nichts glauben müssen und keine Vorschriften bekommen, sondern zur freien Einsicht in die lebensdienlichen Sinngehalte des Christentums finden können, entwickelt sich auch wieder eine stärkere Bindung an die Kirche.“[22] Mir persönlich wird in diesem Abschnitt, gerade weil ich ihn so wichtig finde, zu wenig deutlich, wie provokativ dieser Ansatz ist. Religiöse Bildung trägt doch gerade sehr stark bei zur Persönlichkeitsbildung und zur Selbstbildung, da sich Menschen durch religiöse Vollzüge den „Sinn des Ganzen erschließen“[23]. Und erneut fehlt mir hier der Aspekt der Seelsorge, die es ja gerade in ihrer Zuwendung zum Einzelnen fast ausschließlich mit Individuen zu tun hat. Von der Priorität auf die Menschen als Individuum her legt sich natürlich erneut nahe, die kirchlichen Kasualien aus dem Ort einer volkskirchlichen Pflichtveranstaltung zu lösen[24], denn gerade in einer Kasualrede ist es geradezu üblich religiöse Lebensdeutungen konkret zu benennen. Es geht nicht um die Vermittlung kirchlicher Dogmatik, sondern darum, die „Kontingenz“ des Lebens „in einem umfassenden Sinnganzen“ zu integrieren. Der Schlussabschnitt zeigt nun die Konsequenzen dieses Ansatzes für das kirchliche Leitungshandeln auf[25]. Kirche vor Ort prägt oft sehr stark das Amtsverständnis der Pfarrerinnen und Pfarrer. Bei diesem Beruf steht die religiöse Kommunikation im Vordergrund. Wilhelm Gräb greift hier den Begriff der Profession auf, mit dem er den Pfarrerberuf bezeichnet wissen möchte. Das priesterliche Amt ist seit der Reformation dagegen nicht speziell pastoral sondern auf alle Christen übertragen worden. Auch die Bildung von Kirche und Gemeinschaft ist nicht Sache der Pfarrer, da die Gemeinde als Gabe Gottes aufgefasst wird. Von der Priorität des religiösen Individualismus her, rechnen Pfarrerinnen und Pfarrer daher eher mit einer eher „unsichtbaren“ Kirche, die wach und Kompetenz gelebt wird. Sie sind vor allem gefragt, wenn es um das Ganze des Lebens geht und die Deutung des Lebens im Konkreten. Daraus folgt: „Es geht nicht darum, etwas glauben oder akzeptieren zu müssen, was nicht einleuchtet und dem ich mit meiner Lebensführung nicht folgen kann. Es geht auch nicht darum, seinen Glauben in der Zugehörigkeit zu einem bestimmten gemeindlichen Milieu zu leben. Nein, im Glauben geht es darum, dass ich mich selbst in christlicher Freiheit zu allen Dingen des Lebens, den Erfahrungen des Glücks und der Not, in Deutungen verhalten kann, die auf Gott, den Sinn des Ganzen ausgreifen.“[26] Ich bin mir bewusst, dass diese Besprechung in der Darstellung des Buches etwas zu breit geraten ist. Auch wollte ich eigentlich ganz auf Zitate verzichten, um die Leser einzuladen, die Formulierungen Gräbs selbst nachzulesen. Ich habe nur einige wenige herausgenommen, die ich für wirklich so brillant halte, dass ich sie hier schon darstellen wollte. Bei aller Begeisterung für dieses Buch möchte ich abschließend doch noch anmerken, dass Wilhelm Gräb einfach zu wenig auf die Seelsorge eingeht, ja sie als kirchliches Arbeitsgebiet in diesem Buch gar nicht wahrzunehmen scheint[27]. Er scheint weiterhin den Konflikt mit ortsgemeindlicher Milieuarbeit nicht deutlich genug zu markieren, der von seinem Ansatz her unweigerlich vorprogrammiert ist. Außerdem ist mir persönlich durch seinen Ansatz wichtig geworden, die Arbeit in der Kirche als Arbeit in und mit der Religion zu verstehen. Mir fehlt dann aber bei ihm das, was exemplarisch im Moment Manfred Josuttis leistet, nämlich auch nach der Gestaltung der religiösen Vollzüge zu suchen und zu fragen, die den Kriterien des religiösen Individualismus gerecht werden und die Suche der Menschen nach dem einen Ort im Sinnganzen unterstützen. Dennoch, bei aller Kritik, diese Schrift ist ein erneuter Aufruf des Berliner Universitätspredigers zur Reform des kirchlichen Lebens von der persönlichen Religion der Einzelnen her. Die evangelische Kirche wäre schlecht beraten, wenn sie diesen Aufruf in den Wind schlüge. Anmerkungen
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https://www.theomag.de/46/cf5.htm |