Zeichenhandlungen

Patrycja German, Arbuz  (Detail)

Patrycja German

Andreas Mertin

Grenzen ...

Info Andreas Mertin... zu thematisieren und zugleich zu überschreiten, gehört zu den Kernbereichen der Kunst seit ihrer Neudefinition in der Moderne. Was ist machbar, was ist noch thematisierbar, was kann noch ausgehalten werden und was nicht? Nicht nur das jeweils Neueste, sondern auch das jenseits des Vorstellbaren Liegende ist Arbeitsfeld der Künste.

Als heroisches Projekt (my private heroes) der Selbstthematisierung und Selbstfindung des Menschen haben viele Künstler versucht, die Grenzen selbst unter Gefährdung des eigenen Lebens und der Beschädigung des eigenen Körpers auszuloten. Dazu muss man nicht erst an die Wiener Aktionisten erinnern, schon William Turner hat einen Teil seiner Arbeiten unter Einsatz seines Lebens zu erstellen versucht. Und in der zeitgenössischen Kunst finden wir gleich eine kaum zu überschauende Zahl von Künstlerinnen und Künstlern, die diesen nicht einfachen Weg gegangen sind: Marina Abramović, Wolfgang Flatz, Timm Ulrichs u.v.a.

Über Grenzen hinwegzugehen, über das bloß Selbstverständliche hinauszugehen ist daher ein fortdauernder Movens von Kunst.

Symbolisch/Zeichenhaft ...

... ist das, insoweit es um mehr geht als um individuelle Mythologien, um bloß Subjektives, um reine ostentative Gesten. Wenn mit der Arbeit auf der Grenze zugleich eine über den individuellen Anlaß hinaus gehende Bedeutung verknüpft wird.

Patrycja German ist eine junge Performancekünstlerin, die im Rahmen ihrer Aktionen genau diese Zeichendeutungs- und -aneignungsprozesse in Gang setzt. Patrycja German schreibt selbst über ihre Arbeitsweise:

"Meine Arbeiten sind Skizzen, nichts Großes, keine Geheimnisse, keine Belehrungen. Sie sind Selbstbeobachtung, eine Reflexion auf das eigene Ich; Notate aus dem persönlichen, privaten Bereich, ohne erzählerischen Fluss. Ich bin auf der Suche nach Bildern, die Einsichten in die Realität des Menschen erlangen lassen: Trauer, Lebenskraft, Eros, Elend. Dabei glaube ich an die subversive Kraft des Fragens, auf störrische, unablässige Weise, als wäre in der Tat eine zufriedenstellende Antwort möglich. Tatsächlich ist es immer eine Gratwanderung: die Frage ist, wie weit muss ich gehen, um eine Sache von mir selbst zu abstrahieren, um sie auf Allgemeingültigkeit zu überprüfen?

Was passiert, wenn man an der Stelle weitermacht, an der etwas gewöhnlicherweise beendet wird, wenn man darüber hinausgeht, wo man sonst immer aufhört ? Was passiert, wenn man trotz des vorprogrammierten Scheiterns sich der Situation, der tiefsitzenden Angst vor dem Versagen stellt ?

Werden wir bedrängt oder überwältigt von den seelischen Zuständen unseres Gegenüber?

Ich beobachte die Obszönität des öffentlichen Bekenntnisdrangs auf der einen Seite und gleichzeitig eine große Scheu vor dem Offenlegen der Gedanken und Gefühle auf der anderen Seite.

Mein Körper ist nicht, wie er bei einer Schauspielerin oder Tänzerin sein sollte: passiv reagierend, als ob er im Moment der Kreation nicht existierte, sondern bietet viele Widerstände, führt mich an meine Grenzen. Ich beschränke mich bewußt auf die elementare Wirkung einfachster Bewegungsabläufe und konzentriere mich auf eine Idee, verzichte auf illustrierende, unterhaltsame Elemente und missachte somit die Erwartung des Publikums im Hinblick auf dramaturgische und spektakuläre Momente. Rhythmische Übungen, endlose Wiederholungen, einfachste Handlungen- sie sind wie Muster oder Rituale alter Kulturen, sie versetzen Performer und Publikum zusammen in einen anderen Geisteszustand, weg vom Alltagsbewußtsein. Das ermöglicht dem Betrachter, Zusammenhänge zu erspüren, das nicht ganz Greifbare hinter dem bloßen Klischee einer Figur. Selbstdarstellung als Ausgangspunkt, wird nach und nach aufgelöst. Mein Ziel ist es, die Gegensätze zu entschärfen, bis es keinen Unterschied zwischen Abstraktion und Figuration gibt und Posen und Poesie zusammenfallen. Und ein Zustand ohne Absicht erreicht ist."

Im Rahmen ihrer Arbeiten setzt sich Patrycja German mit den Grenzen der eigenen Möglichkeiten auseinander („Warum ich keine Ballerina wurde, Mannheim 2005), studiert ritualisierte Schönheitsideale (A O U X), die bis an die Grenze des Erträglichen gehen („Frühherbst“) oder fragt nach den Wünschen, die in Erfüllung gehen sollen („Glück“).

Patrycja german, verschiedene Performances

Die neueren Arbeiten der Jahre 2005 und 2006 wie „Schenkeldrücken“, „Du und keine andere“, „Gewicht“, „Fahrstuhl“, „Polish Kiss“, „100 vs. 100“ oder „80 vs. 3“ gehen in einer noch viel dramatischer zugespitzten Situation auf das Publikum und den Betrachter zu. Die Begegnungen, die hier hervorgerufen werden, atmen nicht mehr die Idylle der kunsthistorisch oftmals visualisierten Begegnung von Maria und Elisabeth, sondern nehmen den revolutionären Alles-oder-Nichts-Impuls biblischer Zeichenhandlungen auf. Keine harmlosen Kultur-Events, sondern eine bis ins Mark gehende Infragestellung der Zuschauer wie der Beteiligten. Welche Rolle spielt Intimität und spielt Nacktheit in einer Zeichenhandlung bzw. einer öffentlichen Performance? Was ist ein „Polish Kiss“ in Relation zu einem Bruderkuss? Was wäre, wenn man den Kampf Jakobs mit dem Engel als konkrete Körper-Performance sehen würde? Die kulturgeschichtlichen Implikationen sind weit reichend.

Zeichenhandlungen ...

... gehören zu den interessantesten Berichten in der hebräischen Bibel und sie können in einem gewissen Sinne als inszenatorische Vorformen heutiger Aktions-, Fluxus- und Performancekunst begriffen werden (wie diese selbst als legitime Nachfolger der biblischen Zeichenhandlungen interpretiert werden können). Wenn der biblische Prophet Hosea seine gesamte Ehe mit einer Tempelprostituierten als öffentliche Zeichenhandlung interpretiert (Hos 1-3), wenn Jesaja drei Jahre nackt und barfuss durch Jerusalem läuft, um den Gang der Geschichjte anzudeuten (Jes 20), wenn Jeremia symbolisch ein Joch trägt und dieses Joch über seinem Kopf zerbrochen wird (Jer 27f.), wenn Gideon den Feuchtigkeitszustand eines Tuches über Nacht als Zeichen wertet (Richter 6), wenn Jesus seinen Jüngern die Füße wäscht (Joh 13) und eine Frau Jesus die Füße mit teurem Öl salbt (Mk 14), dann sind wir immer im Bereich der ostentativen Grenzüberschreitung, im Bereich des Unerwarteten und Interpretationsbedürftigen. Die Reaktion des Publikums auf Hosea, Jesaja, Jeremia, Gideon oder Jesus dürfte weitgehend ebenso verstört (wie fasziniert) gewesen sein, wie auf heutige Aktions-, Fluxus- und Performancekunst: Was passiert, wenn man an der Stelle weitermacht, an der etwas gewöhnlicher weise beendet wird, wenn man darüber hinausgeht, wo man sonst immer aufhört ? Was passiert, wenn man trotz des vorprogrammierten Scheiterns sich der Situation, der tief sitzenden Angst vor dem Versagen stellt? (German) Zeichenhandlungen im künstlerischen Bereich gehören seit den berühmten Aktionen von Joseph Beuys („Zeige Deine Wunde“, „Aktion Celtic“, „Fahrt über den Rhein“ ...) zu den wichtigen Äußerungsformen der Kunst. Auch Marina Abramović übte diese Form der Zeichenhandlung aus, als sie 1997 auf der Biennale in Venedig den Balkan Baroque aufführte und jeden Tag stundenlang einen Berg frischer Rinderknochen mit einer Bürste reinigte. All dies sind keine Gesten, die sich in der Aufführung, der Performance erschöpfen, sondern über sie hinausgehen und Resonanzen auslösen.

Patrycja German arbeitet mit den Resonanzen des Körperlichen, des Intimen, des auf die Haut, unter die Haut und auch auf die Nerven gehenden. Dabei beschränkt sie sich, wie sie selbst schreibt, „bewusst auf die elementare Wirkung einfachster Bewegungsabläufe und konzentriere mich auf eine Idee, verzichte auf illustrierende, unterhaltsame Elemente und missachte somit die Erwartung des Publikums im Hinblick auf dramaturgische und spektakuläre Momente“. Ihre Frage „Werden wir bedrängt oder überwältigt von den seelischen Zuständen unseres Gegenüber?“ muss der Zuschauer beantworten, er muss sich der Herausforderung stellen.

Barszcz ...

Patrycja German, Barszcz

... ist die Videodokumentation einer Performance in der Kunstakademie Karlsruhe, die Patrycja German am 28. Juni 2004 durchgeführt hat. Sie schreibt dazu:

"Ich bin mit einer feierlichen weißen Bluse bekleidet. Ich setze mich an einen weiß gedeckten Tisch. Der Topf ist gefüllt mit 10 Litern Barszcz (traditionelle polnische Rote-Bete-Suppe, die an Heiligabend serviert wird). Ich trinke die Suppe, indem ich mir den Inhalt des Topfes in den Mund gieße."

Der Betrachter sieht zunächst einen weißen Raum mit einem mit einem weißen Tuch gedeckten Tisch, hinter dem ein Stuhl steht. Es folgt der Auftritt der Künstlerin, die mit einem großen Stahltopf die Szene betritt. Sie setzt sich auf den Stuhl und platziert den Topf vor sich.

Dann hebt sie mit beiden Händen den Topf an, führt ihn über den Kopf - während sie den Betrachter frontal anblickt. Sie blickt nach oben, öffnet den Mund und kippt langsam den Topf nach hinten. Zunächst nur tröpfchenweise, dann in einem immer stärkeren Schwall ergießt sich eine rote Flüssigkeit aus dem Topf in den sich rasch füllenden Mund und dann über das Gesicht der Künstlerin, über ihre weiße Bluse und dann über den gesamten Tisch. Wenn der Topf leer ist, setzt sie ihn vorsichtig auf einen noch nicht überfluteten Bereich des Tisches ab und verlässt die Szenerie.

Das Ganze hat nicht einmal drei Minuten gedauert und ist gleichzeitig von einer ungeheuren Intensität. Anders als bei anderen Arbeiten von Patrycja German ist der Betrachter bei dieser Arbeit aber nicht selbst existentiell herausgefordert oder in Frage gestellt. Er neigt weder dazu, zu intervenieren, weil er das Betrachtete nicht mehr aushält, noch dazu, sich dem Betrachteten zu entziehen. Vielmehr steht man der Performance in einer Art fasziniertem "interesselosem Wohlgefallen" und zugleich einer interessierten Neugier gegenüber: Was für eine Flüssigkeit breitet sich da eigentlich aus? Welche Assoziationen weckt die sich ausbreitende rotviolette Farbe auf dem weißen Tischtuch und der festlichen Kleidung? Was bedeutet das Ausgießen dieser konkreten Flüssigkeit?

Obwohl die Performance so reduziert ist, ist sie zugleich im wahrsten Sinn des Wortes mit Zeichen und Symbolen gesättigt. Sie legt eine kaum mehr nachvollziehende Menge an Spuren

Ein erster Hinweis ist natürlich der Titel der Arbeit: Barszcz. Er ist das polnische Wort für die in Ost- und Ostmitteleuropa verbreitete Gemüsesuppe mit Roter-Bete. Das Lexikon verweist uns darauf, dass sich der der sogenannte Borschtsch-Gürtel von Südostpolen über Galizien, die Ukraine, Weißrussland bis in das Wolga-/Don-Gebiet zieht. Barszcz ist zugleich ein kulturelles Differenzierungsmoment, denn es wird je nach Region unterschiedlich bereitet. Ein typischer polnischer Borschtsch wird mit natursauer vergorenen Roten Beten (oder Rote-Bete-Saft), Karotten und Zwiebeln angesetzt. Im Russischen Borschtsch wiederum treten oft Tomaten oder Tomatenmark an die Stelle der Roten Bete. Kartoffeln findet man im russischen Borschtsch häufiger als im Ukrainischen Borschtsch. In religiöser Perspektive wird Borschtsch häufig mit dem Judentum verbunden, weil jüdische Auswanderer aus den verschiedenen Ländern Osteuropas diese Speise in ihre neue Heimat mitbrachten und dort weiter gebrauchten und pflegten.

DUCCIO di Buoninsegna, Abendmahl (Detail)Eine weitere Spur ist der weiße Tisch in Verbindung mit einer zentralen Handlungsfigur. Niemand kann sich seit Leonardo da Vincis Mailänder Abendmahl einfach an einen Tisch frontal vor ein Publikum setzen, um in einer Art Zeichenhandlung symbolisch eine Speise zu sich zu nehmen, ohne zumindest im religiösen Kontext und im christlichen Abendland eine Fülle von hinreichend bestimmten Assoziationen auszulösen. Die Verbindung mit dem Abendmahl ist so tief mit der abendländischen Bildgeschichte verknüpft, dass sie angesichts dieses Arbeit unausweichlich ist. "Der Blutstrahl der Gnade", der in der Bildenden Kunst der frühen Neuzeit eine wichtige und in der Zeit der Reformation eine kontroverstheologische Rolle spielte, wird hier ebenfalls mit evoziert. Erinnern wir uns, dass Lukas Cranach auf dem Weimarer Altarbild das Blut Christi direkt auf sein Haupt spritzen ließ, während Albrecht Dürer in seinem Bild "Christus in der Kelter" diesen geradezu auspressen ließ.

Damit soll nicht unterstellt werden, die Künstlerin operiere mit einer direkten Anspielung auf das Letzte Abendmahl in einem intendierten religiös-symbolischen Akt. Das ist nicht der Fall. Aber in einer religiösen Re-Lektüre ihrer Performance stellt sich die Quer-Verbindung unmittelbar ein.

RESTOUT, Jean II - Pfingsten (Detail)Und es ist nicht die einzige sich einstellende Assoziation. An die polnische Sitte, Borschtsch zu Weihnachten zu servieren, hatte die Künstlerin selbst erinnert. Aber mit dem Thema der "Ausgießung" kommen gleich mehrere weitere religiöse wie visuelle Überlieferungsstränge zusammen. Die dominanteste ist sicher die Erinnerung an die Ausgießung des Hl. Geistes in der Pfingsterzählung, die in der kunsthistorischen Tradition an zentraler Stelle mit der Figur der Maria verbunden ist.

All das schwingt in der beschriebenen Performance natürlich nur als kulturgeschichtliche Resonanz mit. Ihr Thema ist, wie bereits gesagt, nicht die religiöse Zeichenhandlung. Aber die Performance „Barszcz“ steht in einem subkutanen Zusammenhang mit diesen Bedeutung generierenden Akten. Ohne eine derartige unterstellte bzw. wahrgenommene Bedeutung wäre das Ausgießen von Rote-Bete-Saft über Kopf, Kleidung und Tisch ein sinnfreier Akt. Indem es aber in einen Assoziations- und Resonanzraum gestellt wird, entwickelt es eine Eigendynamik, die weitere Bedeutungen generiert – abhängig vom Betrachter und seinem jeweiligen Assoziationskontext. Performance-Künstler geben aber nicht etwas anderem Gestalt, sondern sich selbst. Aber darin gehen sie über sich hinaus. Patrycja German ist in diesem Kontext ein interessanter und viel versprechender Ansatz in der jüngeren Performance-Kunst-Szene, die in der als verallgemeinerbar angesonnenen Subjektivität der Künstlerin ihren Ausgangspunkt nimmt und nach ihren gesellschaftlichen Implikationen fragt.


Eine Performance mit Patrycja German findet am Nachmittag des 28. Juli 2007 in der Martinskirche in Kassel statt. Interessenten sind herzlich eingeladen. Im Rahmen der Ausstellung VISION | AUDITION wird zugleich ihre Arbeit Barszcz gezeigt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/47/am212.htm
© Andreas Mertin