Kunstausstellungen in Kirchenräumen
Am Beispiel der documenta Begleitausstellungen
Horst Schwebel
1. Kunstausstellungen in Kirchen
Beschäftigt man sich mit raumbezogenen Kunstinszenierungen, ist es sinnvoll, auch solche Inszenierungen ins Blickfeld zu nehmen, die sich eines Kirchenraums als Austragungsort bedienen. Für Deutschland gibt es hierfür inzwischen eine stattliche Zahl an Beispielen[1]. Die Vielzahl der Kunstausstellungen im Kirchenraum, wobei es sich meist, aber nicht nur um Stadtkirchen handelt, ist fast zu einer Mode geworden und hat dazu geführt, bei solchen Räumen - leicht spöttisch - gar von "Galerien des Herrn"[2] zu reden. Solche Kunstausstellungen mögen von unterschiedlicher Qualität sein. Vor Ort sind meist ein Pfarrer oder dessen Frau, eine Kunsthistorikerin oder eine andere aktive Person die treibenden Kräfte, wobei man sich mit einer Galerie, einer Kunsthochschule, einem Universitätsseminar oder einer sonstigen Kunsteinrichtung verbündet, wenn man sich nicht allein auf sein eigenes künstlerisches Gespür und Qualitätsverständnis verlässt. Eine Zusammenstellung der Namen der Künstler, die bereits in einer Kirche ausgestellt haben, umfasst sowohl solche, deren Name über die Gemeindegrenzen nie hinausgekommen sind, als auch Spitzenkünstler der Gegenwart. Greifen wir willkürlich drei Personen heraus, die bereits eine documenta inszeniert haben - Harald Szeemann, Rudi H. Fuchs und Jan Hoet - , so haben diese hoch renommierten Ausstellungsmacher 'selbstverständlich' schon einmal in einer Kirche eine Ausstellung ausgerichtet.
Für eine Kirchengemeinde ist die Werkschau eines Künstlers oder die thematisch gebundene Ausstellung - zum Beispiel zum Thema 'Schöpfung' - ein spirituell bemerkenswertes Ereignis, bei welchem das eigene Glaubensverständnis mit dem der Gegenwartskunst konfrontiert wird, was in der Regel zu einer Reibung, schlimmstenfalls auch zum Konflikt führt. Dieser kann zerstörend, aber auch durchaus fruchtbar sein.
Für die Künstler ist eine Ausstellung in einem Kirchenraum eine Ausstellung an einem zunächst ungewöhnlichen Ort mit einem ungewöhnlichen Publikum. Die Künstler setzen sich mit ihrem Werk einem Lebenszusammenhang aus, der anders strukturiert ist als der der Kunstwelt. Die Fragen, die dort an die Künstler gestellt werden, sind andere. Ein Werk, das in einer Galerie unauffällig geblieben wäre, evoziert in einem Kirchenraum womöglich ungewöhnliche Reaktionsweisen und Assoziationsketten. Für Kirche typisch mag sein, dass sich der Organist bei der Eröffnung zu einer freien Improvisation oder gar einer Komposition veranlasst fühlt und der Pfarrer das eine oder andere Kunstwerk in seine Predigt einbezieht, wenn er sich nicht gleich zu einer Bildpredigt veranlasst sieht.
Kommt eine Ausstellung in eine Kirche, so ist die Innenraumgestaltung bereits vorgegeben. Das betrifft die Prinzipalstücke Altar, Kanzel, Taufstein ebenso wie Kruzifix, die Kunstwerke, die Orgel, Gestühl und Emporen (kath. noch Nebenaltäre, Sakramentshaus, ewiges Licht, Kerzenbaum u. a.). D. h. Der Kirchenraum ist kein white cube wie etwa eine Galerie oder eine Kunsthalle, sondern ein Raum mit einer relativ fixierten Innenarchitektur, deren einzelne Orte einen unterschiedlichen Gebrauch und eine unterschiedliche religiöse Wertigkeit haben. Die Vorgabe, auf die sich der Künstler mit seinen Werken auszurichten hat, ist nicht allein durch diese Gegenstände bestimmt, sondern betrifft auch die Raumgestaltung in ihrer Ganzheit, etwa gotisches Maßwerk oder eine ganz bestimmte Lichtführung.
Solche von der Architektur und der Inneneinrichtung gesetzten Vorgaben können bei einer geplanten Ausstellung als Hindernis empfunden werden. Es handelt sich auf jeden Fall um eine Beeinträchtigung hinsichtlich einer unbegrenzten freien Entfaltung. Doch dieses vermeintliche Manko kann auch positiv als Herausforderung empfunden werden, auf eine räumliche Konstellation seitens des Künstlers oder des Inszenators kreativ zu antworten. Da nämlich auf Grund der Vorgabe nicht mehr alles möglich ist, wird der Künstler gestalterisch in die Pflicht genommen. Gleichgültig wie er gegenüber einer Vorgabe - etwa der Altarzone - reagiert, muss er damit rechnen, dass sein Werk an den Vorgaben im Raum, auch an den anderen Kunstwerken, gemessen wird.
Die Herausforderung seitens des Kirchenraums betrifft allerdings nicht nur den Raum als architektonisches Gebilde, sondern auch seine Atmosphäre und spirituelle Präsenz. Mag ein neugotisches Kirchenschiff eine andere Atmosphäre haben als eine barocke Dorfkirche oder gar ein Betonbau der 60er Jahre, so wird man in allen diesen Fällen - mehr oder weniger präzise - die Atmosphäre dieser Räume charakterisieren können. Hinzu tritt, dass in diesen Räumen Gottesdienste stattgefunden haben oder immer noch stattfinden, dass also Gebet, Gesang, Predigt und Abendmahlsempfang mit ihnen verbunden sind. D. h. Die Kunstwerke einer Ausstellung treten nicht allein in ein architektonisches, sondern ebenfalls in ein geistig-geistlich vorgeprägtes Feld, in dem sie sich mit ihrer eigenen spirituellen Ausstrahlung zu bewähren haben.
2. Die kirchlichen documenta-Begleitausstellungen von 1982 - 2002
Da es nicht möglich ist, alle Beispiele von Kunstausstellungen in Kirchenräumen vorzustellen, werde ich mich im Folgenden auf einen einzigen Typ von Kunstinszenierungen in einem Kirchenraum beschränken, nämlich auf die Begleitausstellungen der Evangelischen Kirche während der letzten 5 documenta-Ausstellungen in Kassel.
Abendmahl. Zeitgenössische Abendmahlsdarstellungen
Alte Brüderkirche, Kassel 1982
Die erste kirchliche Begleitausstellung zu einer documenta fand 1982 unter dem Thema "Abendmahl. Zeitgenössische Abendmahlsdarstellungen"[3] statt. Der Ort war die Brüderkirche, etwa 400 Meter vom Friedericianum, dem Hauptaktionsort der documenta, entfernt. Die Brüderkirche, als spätgotische Hallenkirche (begonnen 1292) das älteste Gebäude von Kassel, wurde nach dem Krieg von 1955 bis 1971 gemeindlich genutzt, bevor die Gemeinde an anderer Stelle einen Neubau bekam. Seitdem stand sie leer, war allerdings beim Evangelischen Kirchbautag in Kassel 1976 Veranstaltungsort für Vorträge, Gruppenarbeit und einen Gottesdienst. Die Ausstellung im Jahr 1982 verfolgte das Ziel, die Brüderkirche für eine Kunstausstellung wieder in Gebrauch zu nehmen. Als verantwortlich zeichnete das Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, ein Institut der EKD an der Philipps-Universität Marburg.
Die Abendmahl-Ausstellung hatte aus inszenatorischer Sicht keine Besonderheiten. Für die 17 Kunstwerke wurden die Wände der Brüderkirche und das von Peter Lehrecke für den Kirchbautag 1976 entwickelte Stellwandsystem ein zweites Mal verwendet. Einige der ausgestellten Bilder - etwa das 'Abendmahl' von Harald Duwe - wurden von einem Teil der Besucher als recht provokant empfunden, weshalb es zu einer öffentlichen Auseinandersetzung in der Presse kam, die auch vom Fernsehen aufgegriffen wurde. Dies lag am Thema und seiner Umsetzung in den einzelnen Kunstwerken. Das Abendmahl ist kirchlich ein Sakrament, und die Brüderkirche - obgleich sie zu diesem Zeitpunkt keine gemeindliche Nutzung mehr hatte - ist als gotischer Kirchenraum wahrnehmbar und hat bis heute einen Steinaltar und eine Steinkanzel. Harald Duwe zeigte beispielsweise eine realistische Szene, in welcher der Körper Christi auf dem Tisch zerstückelt liegt und die Jünger - der Künstler und seine Freunde - durch ihre Gestik und Mimik zu überlegen scheinen, ob sie zugreifen sollen. Ein solches Bild - und nicht nur dieses - erwies sich in einem als Kirchenraum wahrgenommenen Raum als Provokation, obgleich es eine ernste Frage stellte, nämlich die, ob die Christenheit Christus in den 2000 Jahren nicht ähnlich 'zerstückelt' habe. In einer Ausstellung des Künstlers an einem anderen Ort wäre es womöglich gar nicht zum Konflikt gekommen.
Die Auseinandersetzung betraf auch andere Bilder, etwa "Die Vergabe der Begeisterung durch Handschlag" (1978) von Johannes Grützke, ein von der Rückempore herabhängendes 4 x 4 m großes Bild, das Jesus und die Jüngerschar in die Nähe des Debilen bringt, wobei sich der Künstler ähnlich wie beim „Marsch der Demokraten“ in der Paulskirche in Frankfurt - der Groteske als Vermittlungsmedium für seine als human zu begreifende Botschaft bediente.
ECCE HOMO. Vom Christusbild zum Menschenbild
Alte Brüderkirche, Kassel 1987
Bei der zweiten documenta-Begleitausstellung, die ebenfalls vom Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart ausgerichtet wurde, kann man bereits von Inszenierung sprechen.[4] Das Thema war "ECCE HOMO - Vom Christusbild zum Menschenbild". Mit den Worten "Ecce homo - siehe, der Mensch" verweist Pilatus im Johannesevangelium (19,5) auf Christus mit Dornenkrone und Purpurmantel, um dasVolk womöglich von der Kreuzigung abzuhalten (was ihm freilich nicht gelingt). Unter diesem Motto wurden Christusbilder von Künstlerinnen und Künstlern gezeigt, die anthropologisch relevante Deutungen ermöglichten. Das auch in der Abendmahl-Ausstellung benutzte Stellwandsystem fand erneut Verwendung, um dem Raum in einem Innenbereich zu umgürten, ohne dass Altar, Kanzel und die Grabsteine die Geschlossenheit stören konnten[5]. Man hatte für die Objekte eine den ganzen Raum umfassende Umwandung, auf die man Bilder hängen konnte, ebenfalls verblieb genügend Freiraum für die Einbeziehung von Plastiken.
Die niederländische Künstlergruppe "Die Vier Evangelisten" ließ sich angesichts des Themas "ECCE HOMO" etwas Besonders einfallen. Unter der Decke des Kirchenschiffs schufen die Niederländer ein 16 Meter langes und 6 Meter breites Oval, das einen verdunkelten, bewölkten Himmel darstellte. Darunter waren in einem Kreis 6 Stahlgebilde (Panzersperren) zu sehen. Die Künstlergruppe nannte ihr Kunstwerk, das nahezu die gesamte Ausstellungsfläche überspannte "Über Lithóstrotos", wobei sie Bezug nahm auf den im Johannesevangelium benannten Ort "Lithostrotos" (Steinpflaster; Joh. 19,13), an welchem die Verurteilung Jesu stattgefunden haben soll[6]. Angesichts einer Ausstellung dieses Titels wurde sozusagen das ganze Kirchenschiff zum Ort "Lithostrotos". Blickte man von Unten hinauf in das dunkle Oval, ließ sich der Metallkreis der "Panzersperren" als überdimensionierte Dornenkrone vor einem dunklen Himmel deuten.[7]
Im Unterschied zur Abendmahl-Ausstellung wurde diesmal der Kirchenraum in seiner Länge, Breite und Höhe voll in die Inszenierung einbezogen. Als die Ausstellung weiter ging und in anderen Kirchen gezeigt wurde, wurde auf die Deckeninstallation "Über Lithóstrotos" verzichtet. - Wird eine Ausstellung von einer anderen Kirche übernommen, ergeben sich zum Teil andere Konstellationen. Ein Kunstwerk, das an dem einen Ort eher zurücktritt, kann anderen Ortes ins Zentrum des Interesses rücken.
Liebe und Eros. Metamorphosen biblischer Tradition
Alte Brüderkirche, Kassel 1992
Dass bereits 1976 in der Brüderkirche sich die Tendenz anbahnte, den Raum als Ganzen künstlerisch in Anspruch zu nehmen, hätte dazu führen können, bei der dritten Begleitausstellung zu einer documenta gänzlich auf ein Thema zu verzichten und stattdessen den Raum der Brüderkirche selbst für eine nicht themengebundene Ausstellung zur Disposition zu stellen. Denn nicht allein die Decke, auch andere markante loci des Raums sind offen für Gestaltungsmöglichkeiten. Dieser Weg wurde vom Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, das erneut für diese dritte documenta-Begleitausstellung verantwortlich war, nur zum Teil beschritten. Der Erfolg der Themenausstellungen und die Gleichzeitigkeit eines Bibeljahres, bei dem Gelder zweckgebunden für die Sache der Bibel bereitgestellt wurden, führten dazu, dass den Künstlern erneut ein Thema vorgeschlagen wurde: "Liebe und Eros. Metamorphosen biblischer Tradition"[8]. Aufgefordert wurden Künstler unter 40 Jahren. Zum Teil gingen die Künstlerinnen und Künstler auf dieses Thema - wenn auch sehr weit gefasst - ein. Andere wollten völlig darauf verzichten, machten aber deutlich, dass sie dabei sein wollten. Als der Veranstalter einem Künstler und einer Künstlerin mitteilte, ihre Werke seien bei einer Ausstellung unter dem Thema "Liebe und Eros. Metamorphosen biblischer Tradition" nicht zu integrieren, kam es zum Konflikt, der dazu führte, dass die Vorschläge der beiden Personen letztlich nicht realisiert werden konnten.
Ob und wie die Künstlerinnen und Künstler das Thema "Liebe und Eros" und gar seinen Bezug zur Bibel behandelt haben, braucht in unserem Kontext nicht entfaltet werden. Statt dessen geht es um den Aspekt der Rauminszenierung. Inwieweit wurde in dieser Ausstellung auf die besondere Vorgabe der Brüderkirche Bezug genommen?
Dazu einige Beispiele:
- Siegfried Pietrusky setzte zwei mächtige Doppelstützen aus Holz diagonal gegen ein Fenster der Nordwand. Im Inneren der Kirche wiederholte er das gleiche: Ebenfalls wurden zwei Doppelstützen gegen die Wand gesetzt, so dass die Kirchenwand - und hier speziell das Fenster - wie eine Membran von den Holzbalken umschlossen wurde.
- Für die drei Ebenen ihrer mehrteiligen Holzskulptur "Liebe - Eros - Hoheslied" wählte Claudia Blume einen Bereich im Seitenschiff, in den sie die Elemente rotes Herz mit Flammen, eine blaue männliche und eine grüne weibliche Figur und eine Sonnenscheibe mit Strahlen setzte. Die Holzskulptur war genau auf die Architektur des Seitenschiffs bezogen und setzte in diesem Bereich einen strahlenden Farbklang.
- Holger Bunk ließ einen aus Holz ausgeschnittenen Arm mit einer Hand und einem nach oben gerichteten Zeigefinger scheinbar aus dem Boden wachsen, während von oben eine ebenfalls ausgeschnittene, aber viel größere Hand mit gekrümmten Zeigefinger darauf reagiert. Während der Finger des unteren ausgestreckten Arms von oben eine Art Hilfe erwartet, wird diese von der oberen Hand nicht gewährt. Es kommt nicht zu dem 'Funken' wie bei Adam und Gott-Vater in der Sixtinischen Kapelle. "Die bewusst hierarchische und überdeutliche Trennung von Oben und Unten macht das Zusammentreffen, macht die Begegnung und Berührung der beiden Hände nahezu aussichtslos. Die Hand oben bleibt mächtig, die untere dagegen klein und hilflos." (Marianne Heinz)[9]
- Thomas Lehnerer bezog sich in seinem Beitrag auf ein typisch kirchliches Ausstattungsstück, nämlich auf den von der früheren gemeindlichen Nutzung noch verbliebenen Altar. Lehnereres Werk bestand aus einem zu einem Antlitz zurechtgeschnittenen Stück Rindfleisch, das er mit einer Plexiglasstütze auf den Altar platzierte. Dieses Werk "Jesus Christus 'Fleisch'" war in der Brüderkirche das Objekt, das die meisten Diskussionen auslöste. Das Christusantlitz aus einem Fleischstück enthielt die Aufforderung, in Empfindungs- und Denkprozesse einzutreten, die vom Künstler mit dem christlichen „Incarnatus est“ in Verbindung gebracht wurden. - Blieb bei der ECCE HOMO-Ausstellung der Altar der Brüderkirche hinter dem Stellwand-System verborgen, war für Lehnerer der Altar konstitutiv.
Inszenierung und Vergegenwärtigung. Religiöse und ästhetische Erfahrung heute
Martinskirche, Kassel 1997
Für die documenta-Begleitausstellung des Jahres 1997 war Andreas Mertin verantwortlich. Diesmal war nicht eine leerstehende, sondern eine in gemeindlich-gottesdienstlichem Gebrauch befindliche Kirche der Austragungsort, die Kasseler Martinskirche. Das Motto der Ausstellung lautete: "Inszenierung und Vergegenwärtigung. Religiöse und ästhetische Erfahrung heute“. Gezeigt wurden 11 Künstlerinnen und Künstler „die in den Raum der Martinskirche eingreifen und die gewohnte Wahrnehmung des Kirchenraumes verändern, den Betrachter nach dem Besonderen von ästhetischer und religiöser Inszenierung fragen lassen." (Programmtext)
Einige Beispiele bewusster Inszenierung seien herausgegriffen:
- Wer zum Gottesdienst ging, musste im Mittelgang über eine horizontale Plastik aus schwarzem Stahl von Robert Schad mit dem beziehungsreichen Titel 'Alltag' steigen. "Alltag 1988 verstellt den Mittelgang des Hauptschiffes und zwingt den Besucher, sich entweder an der Skulptur vorbei zu zwängen, sie gewissermaßen zu überholen, oder einen anderen Weg zur Begehung der Kirche zu wählen."[10]
- Die Bildhauerin Madeleine Dietz hatte den Altarblock mit Stahlplatten ummantelt und das Kruzifix auf dem Altar mit von ihr gebrannten Erdbrocken eingemauert. Diese Mauer entfaltete vor dem den Chorbereich abtrennenden Betonmaßwerk eine eigene Präsenz. Die hunderttägige Einmauerung ihres Kruzifixes wurde von einem Teil der Gemeinde nicht akzeptiert. Doch ohne die vorangegangene Einmauerung wäre man sich womöglich gar nicht bewusst geworden, dass es in der Martinskirche ein Kruzifix gibt. - Auf jeden Fall kam es zu einem Erkenntnisgewinn.
- Die Video-Installation "Über die Stille" von Christina Kubisch acht blaue Plexiglastafeln mit Schriftbotschaften vermittelte eine meditative Ruhe und wurde am Ort im Rücken der Gemeinde auf Dauer in der Kirche belassen.
Der freie Blick. Künstlerische Interventionen in den religiösen Raum
Martinskirche, Kassel 2002
Zur documenta11 im Jahr 2002 wurde seitens der Landeskirche von Kurhessen und Waldeck Andreas Mertin und Karin Wendt beauftragt. Das Thema lautete: "Der freie Blick. Künstlerische Interventionen in den religiösen Raum"[11].
- Im Chorraum der Martinskirche, der seit den 50er Jahren durch eine Glaswand und Betonmaßwerk vom Hauptschiff abgetrennt ist, wurden fünf Monitore für die Videoinstallation 'The Oral Thing' von Bjørn Melhus installiert.
- Unter dem Titel 'Light Line' bezog Nicola Stäglich die Empore mit ein und schuf ein horizontales Band aus fluoreszierender gelber Farbe, das zu den Vertikalen des gotisierenden, in den 50er Jahren renovierten Kirchenraums in eine anregende Korrespondenz trat.
- Thom Barths Beitrag bestand aus einem begehbaren länglichen Kubus aus roten Montagefolien, der sich auf Stützen quer in die zentrale Achse des Kirchengebäudes hineinschob. Der Besucher betrat diesen Bereich vom Kirchplatz über eine Treppe, die ebenfalls mit roter Folie überzogen war, gelangte so in den bereits erwähnten roten Kubus von dem aus er den Kirchenraum von oben zu erkunden begann. Der Blick von oben in das Kirchenschiff erfolgte durch die bereits erwähnte Folie, auf der Fragmente von Fotos aus der Alltagswelt zu sehen waren. Titel der Installation von Thom Barth war 'RED LOOM'. Der Eingriff von Thom Barth in einen Kirchenraum geht über die bisher genannten Beispiele weit hinaus. "Zugleich kann man mit dem Keil theologisch die Seitenwunde Jesu assoziieren, da ja der Grundriss einer Kirche als Visualisierung des Körpers Christi begriffen wurde." (Andreas Mertin)[12]
Die Brüderkirche besuchte nur, wer eine Kunstausstellung besuchen wollte. Bei der Martinskirche gab es 'echte' Ausstellungsbesucher, aber auch normale Gottesdienstbesucher, die bei ihrem Besuch mit Gegenwartskunst konfrontiert wurden.
3. Folgerungen
Lassen sich angesichts dieser Beispiele gewisse Folgerungen ziehen? Lassen sich gar Kriterien finden für Kunstausstellungen in Kirchenräumen?
Da es sich um documenta-Begleitausstellungen handelte, war es seitens der Veranstalter selbstverständlich, dass man die Messlatte hinsichtlich der künstlerischen Qualität hoch halten musste.
- Die künstlerische Qualität ist bei Ausstellungen in kirchlichen Räumen das erste Kriterium, obgleich es keine allseits verbindlichen Maßstäbe hierzu gibt.
- Kirchliche Träger sollten sich davor hüten, die Kunstwerke zu missionarischen Zwecken oder im Sinne von Kunst als ancilla theologiae (Magd der Theologie) zu instrumentalisieren.
- Offenheit gegenüber der Gegenwartskunst in ihrem So-Sein ohne instrumentelle Hintergedanken ist ein weiteres Kriterium.
- Offenheit für die Gegenwartskunst aber bedeutet nicht, dass ein jedes Kunstwerk in einem Kirchenraum ausgestellt werden sollte. Abgesehen von Raumangemessenheit, die später behandelt wird, sollte bei einem Kunstwerk die Ernsthaftigkeit seines Ausdrucks und seiner Welt- und Lebensdeutung gewährleistet sein.
- Bei der Vorgabe eines Themas an einen Künstler ist zu prüfen, ob die Aufgabenstellung angemessen ist. Gerade der kirchliche Träger ist versucht, aus der Bibel oder der kirchlichen Tradition dem Künstler eine Themenvorgabe zu machen. Dies kann Fehl gehen, wenn sich der Künstler gestalterisch an einem völlig anderen Punkt aufhält. Vor einer möglichen Themenbildung sollte die Frage gestellt werden, worin die Kraft und die Besonderheit seines jeweiligen künstlerischen Ausdrucks besteht?
- Die Vorgabe, die für die Künstler bei Ausstellungen im kirchlichen Raum unverzichtbar ist, ist der Raum in seiner architektonisch-künstlerischen Gestalt und seiner atmosphärisch-spirituellen Ausstrahlung. Das bedeutet nicht, dass sich das Kunstwerk oder die Kunstausstellung sklavisch dem unterzuordnen hätten, was räumlich vorgegeben ist. Wohl aber sollte deutlich werden, dass man seitens der Künstler und Ausstellungsmacher um die räumliche Vorgabe weiß und man gewillt ist, darauf - zustimmend, ergänzend, kontrastierend oder gar ablehnend Bezug zu nehmen.
Es ist zu vermuten, dass selbst bei einer qualitätsvollen Kunstausstellung in einer Kirche der Kirchenraum letztlich die Dominanz behält.
Anmerkungen
- Horst Schwebel, Die Kunst und das Christentum, München 2002, S. 179-184.
- "Galerien des Herrn" war der Name eines Themenheftes der ökumenischen Zeitschrift „Kunst und Kirche“ (2/98).
- Abendmahl. Zeitgenössische Abendmahlsdarstellungen, Ausstellung des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, hrsg. von Horst Schwebel und Heinz-Ulrich Schmidt-Ropertz, Alte Brüderkiche Kassel, Marburg 1982.
- ECCE HOMO. Vom Christusbild zum Menschenbild, Ausstellung des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, hrsg. von Horst Schwebel und Heinz-Ulrich Schmidt-Ropertz, alte Brüderkiche Kassel, Menden 1987.
- Es wurde eigens ein Architekt, Prof. Dipl.Ing. Friedhlem Grundmann, mit dem Raumkonzept betraut.
- Trotz des präzisen Namens ist archäologisch ungeklärt, welcher Ort in Jerusalem gemeint sein könnte.
- Ein solches, die Maßwerkdecke verhüllendes 16 Meter langes Oval gleichmäßig und stabil unterhalb der Decke anzubringen, bedurfte des Know Hows von Dipl. Ing. Martin Görbing vom kirchlichen Bauamt.
- Liebe und Eros. Metamorphosen biblischer Tradition, Ausstellung des Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart, hrsg. von Horst Schwebel und Heinz-Ulrich Schmidt-Ropertz, Marburg 1992.
- Liebe und Eros, a. a. o., S. 105.
- Karin Wendt, Experimentum loci. Ästhetische Konstellationen im Kirchenraum, in: Jörg Herrmann, Andreas Mertin, Eveline Valtink, Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, München 1998, S. 180-198, Zit. S. 184.
- Andreas Mertin, Der freie Blick. Künstlerische Interventionen in den religiösen Raum. Kunst und Kirche, 2/2002, Darmstadt, S. 120 ff.
- So Andreas Mertin, Der freie Blick. Interventionen in den religiösen Raum Kunst in der Kirche, in: Blick in die Kirche, Juni 2002, Kassel, S. 12.
[zuerst veröffentlicht in: Szenographie in Ausstellungen und Museen. Klartext-Verlag Essen, 2004, S. 116-123.]
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