Glucky Bach

Caravaggio (Detail)

Eine Arbeit von Artur Žmijewski

Andreas Mertin

Info Andreas MertinWenn ich Roger M. Buergel und Ruth Noack um eine Arbeit auf der documenta 12 beneide, weil sie auch gut in meine eigene Ausstellung gepasst hätte, dann ist es Artur Žmijewskis ebenso irritierende wie faszinierende Arbeit „Glucky Bach“. Und wenn ich mich über Roger M. Buergel und Ruth Noack als Kuratoren ärgere, dann gerade angesichts dieses Kunstwerks, weil sie das Werk im Kontext der documenta völlig verkürzt nur per iPod zugänglich machen. Konnten sie nicht bei einer Kirche anfragen, das Werk während der d12 dauerhaft in einer der Kasseler Kirchen zu etablieren? Johann Sebastian Bach hat in der Kasseler Martinskirche die Orgel eingespielt. Wo besser als hier wäre also Artur Žmijewskis Arbeit zu präsentieren? Aber die Barrieren zwischen dem Betriebssystem Kunst und dem Betriebssystem Kirche scheinen immer noch so hoch zu sein, dass diese doch so nahe liegende und selbstverständliche Bezugnahme auf eine Kirche für die Macher der d12 offenkundig nicht in das Sichtfeld geriet.

Für „Glucky Bach“ hat Artur Žmijewski den Chor der Samuel-Heinicke-Schule für Gehörlose und Schwerhörige Leipzig, das Barockensemble der Fachrichtung Alte Musik der Hochschule für Musik und Theater Leipzig und die Mezzosopranistin Ewa Lapinska zusammengebracht, um die Kantate „Jesu, der du meine Seele“ von Johann Sebastian Bach aufzuführen. Das ist schon auf den ersten Blick eine extreme Zusammenstellung. In der nicht nur kirchlichen Rezeption steht Johann Sebastian Bach für die kontemplative bzw. vergnügte Ruhe, die sich von den Geräuschen den Alltags absetzt. Wann immer man ungewöhnliche Dinge in einer Kirche vorhat, sofort begegnet einem der Einwand, von der Kirche wie der klassischen Musik erwarte man, dass sie ein Rückzugsraum von den Lasten des Alltags sei. Vermisst würden 'Ruhe, Formung, Inhalt wie beim Besuch einer Bachkantate'. Kritisches soll vermieden werde. Das muss man voraussetzen, um das geradezu Ungeheuerliche des Einsatzes von Žmijewski zu verstehen. Bach von einem Gehörlosen-Chor aufführen zu lassen, ist eine Zumutung (im besten Sinne) schlechthin..

Im Katalog der documenta schreibt Ruth Noack dazu: „In Glucky Bach setzt der Künstler zwei Prinzipien der humanistischen Gesellschaft zueinander in Beziehung: die Achtung vor dem einzelnen Menschen und die Wertschätzung der Hochkultur. Sie sind in diesem speziellen Falle inkompatibel. Will ich die Schönheit und Wahrheit der Musik des Gehörlosenchors erkennen, muss ich Bach preisgeben, oder umgekehrt. Die Pein, die mit dieser Erkenntnis einhergeht, kann eine Ahnung davon vermitteln, was es heißt, dem Zustand des bloßen Lebens ausgesetzt zu sein“. Noch komplexer wird die Situation, wenn wir den intonierten Text mit einbeziehen:

Wir eilen mit schwachen,
doch emsigen Schritten,
O Jesu, o Meister, zu helfen zu dir.
Du suchest die Kranken und Irrenden treulich.
Ach höre, wie wir
Die Stimmen erheben, um Hülfe zu bitten!
Es sei uns dein gnädiges Antlitz erfreulich!

Aber Fleisch und Blut zu zwingen
Und das Gute zu vollbringen,
Ist über alle meine Kraft.
Will ich den Schaden nicht verhehlen,
So kann ich nicht, wie oft ich fehle, zählen.
Drum nehm ich nun der Sünden Schmerz und Pein
Und meiner Sorgen Bürde,
So mir sonst unerträglich würde,
Ich liefre sie dir, Jesu, seufzend ein.
Rechne nicht die Missetat,
Die dich, Herr, erzürnet hat!

Das ist der Antagonismus schlechthin. Aber Fleisch und Blut zu zwingen und das Gute zu vollbringen, ist über alle meine Kraft. Will ich den Schaden nicht verhehlen, so kann ich nicht, wie oft ich fehle, zählen. Man kann das zynisch nennen, aber dann ist der Zynismus einer der Sache selbst.

Bach kommt, so schreibt das Fachlexikon Musik in Geschichte und Gegenwart, „her von der weltlichen, spielmännischen Überlieferung des Stadtpfeifertums ebenso wie von der geistlichen des Organisten- und Kantorentums, die beide noch bis in seine Altersschicht hinein ganz lebendig gewesen sind. Die Kräfte, die in diesen Überlieferungen fortwirkten, waren ihrerseits beheimatet in der stetigen Ordnung der bürgerlichen Gemeinschaft und in der Selbstverständlichkeit lutherisch-christlicher Lebensform. Der ungebrochene Zusammenhang der christlichen Lehre von Augustin über Luther bis in die zeitgenössische Orthodoxie hinein und der ständischen Lebensordnung vom MA. an über die Reformation bis in den Ausgang des 17. Jh. vermittelte Bach in gerader Linie eine gefestigte bürgerlich-kirchliche Lebensanschauung und theozentrisch-symbolistische Musikanschauung und machte ihn zum geistigen Erben von Überlieferungen, die mehr als ein halbes Jahrtausend europäischer Geschichte umspannen.“ (MGG)

„Wenn Bachs Schulbildung auf dem Compendium Hutters und dem Vestibulum des Comenius, d. h. auf den Eckpfeilern der lutherischen Lehre in ihrer orthodoxen Form und dem klass. Altertum in seiner röm.-humanistischen Überlieferung beruhte, so ist dies nur der angemessene Ausdruck eines Bildungsideals, das zu Bachs Jugendzeiten im prot. Deutschland noch allgemeingültig war und sich etwa an der Thomasschule noch bis zu M. Gesners Rektorat aufrechterhalten hat, das sich aber im 18. Jh. allmählich im Sinne des Neuhumanismus, des Philanthropinismus und der Säkularisierung wandelte.“ (MGG)

Und so wird auch deutlich, warum diese Arbeit im Konzept der d12 eine besondere Rolle spielt, denn es geht auch um die Grenzen dieses Bildungsideals und den Preis, den es für seine Orientierung am Ideal zahlen muss. Man muss sich daher die normativen musikästhetischen Vorstellungen des 17. Jahrhunderts vergegenwärtigen, um den ungeheuren Akt von Žmijewski zu begreifen. So schreibt Andreas Werckmeister (1645-1706): „Es ist gleichsam, als wenn dem Menschen sein göttliches Ebenbild ... durch die Musik vorgehalten würde“ – Musik „besteht in solcher Form und Proportion wie der Mensch“. Aber was heißt das im konkreten Fall? Es geht eben nicht nur um die Zumutbarkeit der gehörten Töne für bürgerliche Musikohren, sondern es geht um die normativen Implikationen des Intonierten. In welcher Beziehung stehen sie zum intonierten Text und in welcher zu denen, die diesen konkreten Text intonieren?

So stellt Artur Žmijewskis Arbeit ganz schlicht die Frage: Was ist Humanität?
– Eine Frage, auf die angesichts dieser Arbeit niemand eine Antwort weiß.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/48/am217.htm
© Andreas Mertin