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„Alle Menschen werden Schwestern“Vom Umgang mit „männlichen Söhnen“Dorothea Erbele-Küster Mit dem Slogan „Alle Menschen werden Schwestern“ wurden all diejenigen begrüßt, die während der diesjährigen Documenta XII am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe ausstiegen. Die bunte Aufschrift ist als Collage aus Zeitungs- und Zeitschriftenschnipseln gestaltet. Sie stand auf einem riesigen Plakat am Taxi- und Busstand gegenüber des Haupteingangs. Das Plakat des amerikanischen Fotokünstlers Allen Sekula (1951) wurde ursprünglich für ein Projekt rund des G8 Gipfel in Heiligendamm angefertigt und dort auch verbreitet. Ein in der Hocke sitzender Arbeiter aus Lateinamerika in der Autoindustrie laut dem Ausstellungsband bei Hyundai schaut von unten den Betrachter und die Betrachterin an. Er hat seine Arbeit unterbrochen, seine Schweißbrille ist nach oben geschoben. Globalisierung und Verschwisterung buchstäblich von unten. Mit dem Satz wird an das noch nicht (vollständig) eingelöste Diktum der Aufklärung „Alle Menschen werden Brüder“ erinnert und in seiner irritierenden Variante erhält es neue Stoßkraft. Das exklusive „Schwestern“ wird inklusiv verwendet. Waren wir es lange Zeit gewohnt „Brüder“ inklusiv/generisch zu verstehen, wenn wir von Brüdern lesen, so wird auf der Fotocollage dies auf den Kopf gestellt. Nicht länger „Brüder“ sondern „Schwestern“ steht hier umfassend für alle Geschlechter, für alle Menschen. Zugleich vollzieht sich etwas Anderes in diesem inklusiven verallgemeinernden Gebrauch von „Schwestern“ auf diesem Foto. Neue Bilder werden frei, die Möglichkeit der „Verbrüderung“ von unten, von Schwestern und Brüdern, von Menschen aus Süd und Nord, aus West und Ost blitzt auf. „Alle Menschen werden Schwestern“ kann zum Schmunzeln und Nachdenken bewegen; ähnliche Reaktionen kann auch die Formulierung „alles Männliche unter den Söhnen Aarons“ im dritten Buch Mose/Leviticus in Kapitel 6 Vers 11 auslösen. Das Hebräische betont hier explizit, dass das Brot, das aus der pflanzlichen Gabe gebacken wird, den männlichen Nachkommen Aarons vorbehalten ist. Warum muss hinzugefügt werden, dass es allein die „männlichen“ Söhne sind? Ist das nicht ein weißer Schimmel? Warum genügt nicht einfach „Söhne“? Die Wendung „alles Männliche unter den Söhnen Aarons“ macht deutlich, dass das hebräische Wort inklusiv gebraucht wird im Sinne von Nachkommen. Um sicher zu gehen, dass die Lesenden dies nicht hören, muss „männlich“ hinzugefügt werden. Doch dieser Wendung lässt fragen, ob nicht dann an vielen anderen Stellen, wo es ohne den Zusatz “männlich“ steht, das hebräische Wort generisch d.h. allgemein für alle Angehörigen des Geschlechts Aarons gebraucht wird. Solche und andere Stellen geben Anlass dafür den Gebrauch des hebräischen Wortes “Söhne“ zu überdenken und zu prüfen, wo es generisch gebraucht wird im Sinne von Nachkommen, etwa in der regelmäßig wiederkehrenden Formulierung „Nachkommen/Kinder Israels“ in den Einleitungen zu den Bestimmungen. Denn unabhängig vom Sprachgebrauch ist sachlich bzw. sozialgeschichtlich richtig, dass diese Bezeichnung generisch gemeint ist und Frauen umschließt. Die Dinge rund um exklusiven und inklusiven Sprachgebrauch liegen also komplizierter. Wenn aus Brüdern Schwestern werden und Söhne auch Töchter umfassen, werden vorgefertigte Klischees über Sprachverwendung aufgebrochen. Der Fotokünstler und Essayist Sekula verwendet eine Sprache, die implizit Kritik übt und zugleich eschatologisch anmutet. Sprache, die an die Grenzen der Grammatik und des selbstverständlichen Sprachgebrauchs stößt, wie etwa auch vielfach in der „Bibel in gerechter Sprache“ kann und will solche Denkprozesse in Bewegung setzen. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/49/dek1.htm |