Intimität |
Intimität des KleinseinsRobert Walsers Tagebuchroman Jakob von GuntenSebastian Schulze Für Robert Walser war die Idee der „Dienerschaft“ ein lebenslanges Thema. Variationen der Dienerfigur finden sich von seinem ersten Roman Geschwister Tanner bis zu den letzten Miniaturen. Die facettenreiche Idee der Dienerschaft ist eine soziale Konzeption, die in der Zeit eines demokratischen bürgerlichen Selbstverständnisses kaum noch Zustimmung erhoffen kann, denn zu sehr haftet an ihr die Erinnerung an Versklavung und Leibeigenschaft. Aber ganz entgegen diesen modernen Bedenken enthält die Konzeption der Dienerschaft bei Walser einen überraschenden, paradoxen Kern: Das Dienen ist ein verborgenes Herrschen, eine „Überlegenheit des Unterlegenen“ (Peter Hamm).[1] Insofern gemahnt diese Konzeption an das Paradox christlicher Demut, das in dem Satz „Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden“ zum Ausdruck kommt. In bewusster Opposition gegen Nietzsches „Herrenmoral“ entwickelt Walser eine Moral des Kleinseins. Während für Nietzsche die Moral aus dem Ressentiment gegen die starken Individuen erwächst, wendet Walser diese von Nietzsche als décadence bezeichneten Werte ins Positive, und umgekehrt verurteilt er die positiven Werte Nietzsches als Unwerte. Das Paradox der Dieneridee liegt in der gegenseitigen Angewiesenheit von Herr und Diener. Die vollständige Versklavung des Dieners ist durch die Abhängigkeit des Herren von seinen Diensten ausgeschlossen. Herr und Diener gehören so eng zusammen, dass der eine ohne den anderen nicht existieren kann. Offenbaren die Dienerfiguren bei Walser durch ihre Affirmation der subordinierten Stellung ihre Unfähigkeit, das Leben allein bestehen zu können, so zeigt sich diese Unfähigkeit im Bedürfnis des Herren nach einem Diener nicht weniger. Herr und Diener bilden ein unzertrennliches Paar, dessen einzelne Bestandteile in der Separation verschwinden. Trotz dieser engen Beziehung besitzt der Diener die Fähigkeit der inneren Separation, die ihm die Möglichkeit gibt, sich zur überlegenen Reflexion aufzuschwingen. In den alten Herrschaftsfamilien ist der Diener der einzige, der nicht zur Familie gehört und trotzdem Zugang zu den intimsten Bereichen der Familie hat, der ihre am besten gehüteten Geheimnisse kennt. Er ist ein Außenstehender und zugleich jemand, der das Innenleben seiner Herren wie sein eigenes kennt. Diese Grenzposition erlaubt es dem Diener, hinter die Kulissen der Herrschaft zu blicken, ohne jedoch jemals die Treue zu seinem Herren zu verraten. Die wohl ausgeprägteste Form dieser Idee legte Robert Walser mit seinem Tagebuch-Roman Jakob von Gunten vor, der 1909 erstmalig bei Rowohlt erschien. Der etwa sechzehnjährige Jakob tritt in das Institut Benjamenta ein, um sich dort zum Diener ausbilden zu lassen. Sein Tagebuch protokolliert den Alltag, den er zusammen mit weiteren Zöglingen unter der Leitung des Vorstehers Benjamenta und seiner Schwester, der Lehrerin Lisa Benjamenta, verlebt. Schon der erste Satz des Buches belegt die Absurdität der dortigen ‚Ausbildung’: „Man lernt hier sehr wenig, es fehlt an Lehrkräften, und wir Knaben vom Institut Benjamenta werden es zu nichts bringen, das heißt, wir werden alle etwas sehr Kleines und Untergeordnetes im späteren Leben sein.“ (JvG, 7). Im zweiten Teil wird die besondere Art des Zusammenlebens in einem Institut thematisiert. Hier wird beschrieben, wie sich das räumliche Modell des Instituts in besonderem Maße auf die Intimsphäre der Zöglinge auswirkt. Im dritten Teil steht die Beziehung zwischen dem Vorsteher Benjamenta und Jakob im Mittelpunkt. Ist dieses Verhältnis zu Beginn der Aufzeichnungen noch wesentlich durch die Gewalt geprägt, mit der Benjamenta über die Zöglinge herrscht, so transformiert es sich im Verlauf des Geschehens zu einer Intimbeziehung. Der ‚Skandal’ dieses Verhältnisses besteht nicht eigentlich in der homoerotischen Besetzung eines sozialen Abhängigkeitsverhältnisses, sondern in der widerspruchsvollen Konzeption eines Herr-Diener-Verhältnisses, das auf gegenseitiger Anerkennung beruht. Nicht nur deshalb will auch die Herr-Knecht-Dialektik Hegels nicht passen, in welcher sich zwar auch der Knecht als eigentlicher Herr erweist, aber eine gegenseitige Anerkennung beiden versagt bleiben muss. Das Adjektiv „intim“ ist erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts im Französischen gebräuchlich. Der lateinische Ursprung des Wortes verweist auf das „Innere“, „Verborgene“, „Geheime“.[2] Die moderne Verwendung des Wortes „intim“ bindet diese Bedeutung an ein interpersonelles Verhältnis: das Geheimste ist das Innerste einer Person, deren persönlichster Besitz, welcher nur jenem anderen zugänglich gemacht wird, der in einer innigen und vertraulichen Beziehung zu dieser Person steht. Das Wort konnotiert darüber hinaus eine räumliche Dimension des Inneren: Man spricht von der Intimsphäre als dem Bereich des persönlichen, von der Öffentlichkeit unbehelligten Lebens. Räume wie das Schlafzimmer gelten als intime Orte, die zu betreten besonderer Erlaubnis bedarf. Als intim werden auch Körperstellen bezeichnet, die in der Öffentlichkeit zumeist verdeckt, mit sexueller Bedeutung belegt sind. Allen diesen intimen Bereichen ist gemeinsam, dass es bestimmte Regeln gibt, die den Umgang mit ihnen strukturieren. Wer diese Regeln missachtet, wird als scham- und respektlos bezeichnet. Ich werde in der Beschreibung des Intimverhältnisses zwischen Jakob und Benjamenta Begriffe aus dem system- und kommunikationstheoretischen Ansatz Niklas Luhmanns verwenden oder eher anklingen lassen, denn eine komplette Lektüre des Romans mit Luhmann erschien mir zu eng. Dennoch werde ich in aller Kürze die für mich wichtigsten theoretischen Eckpunkte der Intimitätstheorie Luhmann benennen. Niklas Luhmann versteht unter Intimität ein generalisiertes Kommunikationssystem, das es Individuen ermöglicht, an sich unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlich zu machen. So wird Liebe nicht als ein Gefühl aufgefasst, sondern als „ein Kommunikationskode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, andern unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn man entsprechende Kommunikation realisiert“.[3] Die Besonderheit des Mediums Liebe liegt in der höchstpersönlichen Kommunikation, mit der der Sprecher sich gegenüber dem Angesprochenen von anderen Individuen unterscheiden will. Der Sprecher gibt sich als weltkonstituierende Individualität, womit „jeder, der angesprochen wird, in dieser Welt immer schon untergebracht und damit unausweichlich vor die Alternative gestellt [ist], den egozentrischen Weltentwurf des anderen zu bestätigen oder abzulehnen. Diese Komplementärrolle des Weltbestätigers wird einem zugemutet, obwohl mitimpliziert ist, daß dieser Weltentwurf einzigartig, also eigenartig, also nicht konsensfähig ist. Das heißt auch: es wird einem ein Bestätigungsverhalten zugemutet, daß nach außen nicht anschlussfähig ist, daß man also anderswo nicht vertreten kann.“[4] Nimmt man den Weltentwurf des Anderen an und integriert ihn gleichsam ins eigene Sein, verändert sich die eigene „Welt als Horizont des Erlebens und Handelns“ radikal. Das Medium Liebe „verleiht damit dem, was der andere erlebt oder erleben könnte, in den Dingen und Ereignissen selbst eine besondere Überzeugungskraft.“[5] Die Welt, in der man sich mit dem Geliebten einig weiß, tendiert dazu, sich von der Gesellschaft zu isolieren. Diese Isolation wird von der Gesellschaft wiederum so semantisiert, dass die Beziehung der Liebenden in das Gesellschaftssystem integrierbar ist. Was aber, wenn die Gesellschaft über keine Ressourcen verfügt, um eine solche Integration zu gewährleisten oder wenn die Liebenden keinerlei Interesse haben, sich in die Gesellschaft zu integrieren? 1. Der Ort des gemeinsamen Lebens: Das Modell InstitutMit dem Eintritt ins Institut Benjamenta gewinnt eine räumliche Differenz in Jakobs Leben an Gewicht: Die Differenz zwischen der Welt innerhalb und der Welt außerhalb des Instituts. Während er innerhalb des Instituts lebt, isst, schläft etc., das Institut also sein Zuhause ist, ist er außerhalb des Instituts nur ein Besucher. Er besucht das Kaufhaus, den Stadtpark, eine Bar mit Damenbedienung, in der er sein letztes Geld verjubelt und vor allem seinen Bruder, einen erfolgreichen Künstler, der ihn in die „Kreise der Gesellschaft“ einführt. Jakob probiert außerhalb des Instituts die Identitäten innerhalb eines ganz normalen bürgerlichen Spektrums aus, d.h. er wird wegen seines gepflegten Erscheinens und höflichen, geradezu edlen Verhaltens für einen hohen Herren gehalten. Er trägt die Uniform eines Zöglings des Instituts, die diesen Eindruck noch unterstreichen mag, denn: „Wir sehen wie unfreie Leute aus, und das ist möglicherweise eine Schmach, aber wir sehen auch hübsch darin aus, und das entfernt uns von der tiefen Schande derjenigen Menschen, die in zerrissenen und schmutzigen Kleidern dahergehen.“ (JVG 8). Die Ausflüge in die (nächtliche) Außenwelt sind verboten und Jakob muss daher seinen Weggang und seine Wiederkehr mit Hilfe der Komplizenschaft der anderen Zöglinge gut organisieren. Die Personen, die er in der Welt außerhalb des Instituts findet, können seiner eigenen Welt (das, was er im stillen Welt nennt) keinen Sinn zuführen. Entweder missverstehen sie ihn (halten ihn für einen Herren) oder erweisen ihm bloße Höflichkeiten, die vor dem Erfolgsstreben jedes Einzelnen keine tiefere Bedeutung haben. Man „zirppt und schwirrt so herum, dort in den Kreisen der Gesellschaft“ (JVG 97), aber man findet keinen tieferen oder gar existenziellen Halt. Es gibt einen Moment im Verlauf des Geschehens, da die Absonderung von der äußerlichen Welt perfekt wird: „Es war mir, als sei ich zu Hause. Nein, es war mir als ich noch nicht geboren, als schwämme ich in etwas Vor-Gebürtigem. Es wurde mir heiß und meerhaft-undeutlich vor den Augen.“ (JVG 95). Die Einschließung und Isolierung im Institut (eine Ausschließung der äußeren Welt) kommt der Regression ins „Vor-Gebürtige“ gleich, der totalen Isolation im Mutterleib. Unter räumlichen Aspekten stellt dieses Geschehen den höchsten Grad der Intimität dar, also der innigsten und vertrautesten Beziehung zur Welt des Instituts. Dieser Moment ist auf der Handlungsebene mit dem intimen Geständnis verknüpft, das der Vorsteher Jakob macht. Das Institut selbst ist ein „gewöhnliche[s] großstädtische[s] Hinterhaus“ (JVG 11), das unschwer zu erkennen in Berlin, wahrscheinlich in der Friedrichstraße, angesiedelt ist. Die Einrichtung ist ärmlich (ebd.) und steht in jeder Hinsicht im krassen Kontrast zu dem, was der adlige Jakob von Gunten von zu Hause gewohnt war: es ist relativ dunkel, man verzichtete auf jede Art schmückenden Zierrat und es gibt keine Gemütlichkeit, mit den bescheidensten innenarchitektonischen Mitteln werden die Bedingungen für den alltäglichen Betrieb erfüllt. Jakob verlangt ein eigenes Zimmer, was ihm nach einer ins Groteske übersteigerten Geste der Unterwerfung (er wirft sich der Lehrerin zu Füßen und bettelt) auch gewährt wird. Dieser Raum ist seine Privatsphäre, er demonstriert das Freiheits- und Unabhängigkeitsbedürfnis Jakobs, hier findet er Schutz vor den Augen der anderen Schüler und kann mit seinem Kameraden Schacht verbotene Dinge tun, wie Kerzenanzünden. Der isolierte Raum im Institut ist ein Ort der Phantasiebildung, (er imaginiert sich als großen Herren (JVG 13), der bedient wird: eine Umkehrung seiner bewussten Pläne selbst Diener zu werden, so wie Träume häufig im Jakob von Gunten eine solche Umkehrung thematisieren) und ein Raum für homoerotische Annäherungen und intime Geheimnisse. „Einmal wagte ich seine Hand (die Hand Schachts) leise zu mir zu nehmen, doch er entzog sie mir wieder und sagte: ‚Was machst du für Dummheiten?’“ (JVG 14) Schacht erzählt in der Kammer von seiner Geschlechtskrankheit und Jakob bittet ihn, „den Gegenstand der Erkrankung zu zeigen“, worauf Schacht empört (und vielleicht nicht ohne Coquetterie, wie Karin Fellner bemerkt) sich wegdreht und sagt: „Du bist schamlos“. Jakobs Bestreben, andere Menschen zu intimen Geständnissen zu bewegen, zu einer Öffnung ihres Inneren, ist in dieser Szene bereits deutlich. Sein anfängliches Bestehen auf die Privatsphäre einer eigenen Kammer, auch wenn sie etwas „Ratten- und Hundelochartiges“ hat, ändert sich nach wenigen Tagen des Aufenthalts jedoch. Er ist bald so assimiliert von den Regeln und Gebräuchen des Instituts, dass er diese isolierte Privatsphäre bereit wäre aufzugeben wie bereits gesagt, verschmilzt Jakob mit dem gesamten Institut zu einer Einheit, so dass ein eigenes Zimmer überflüssig erscheint. Der Vorsteher Benjamenta ist beinah im gesamten Romanverlauf ausschließlich in seinem Büro. Er hat also wie die Lehrerin, die die Herrscherin der „inneren Gemächer“ ist, und wie Jakob, einen eigenen Raum. Es ist der Raum der Macht, dessen Betreten und Verlassen für den Zögling durch strenge Zeremonien geregelt wird.[6] Trotz des militärischen Drills scheint Benjamenta ein gewöhnlicher Bürokrat zu sein, der in der Privatsphäre seines Büros die Zeitung liest und raucht. Die Macht Benjamentas übt große Anziehung auf Jakob aus, der nach seinen Besuchen häufig an der Tür steht und lauscht, ob sich im Büro etwas bewege. Er hat erfahren, dass es in der Wohnung „innere Gemächer“ gibt, in denen das Geschwisterpaar Benjamenta lebt, wenn es nicht die Zeit mit den Knaben oder im Büro verbringt. In seiner Phantasie sind diese Gemächer ein Ort „wunderbarer Dinge“ (ebd.), in die zu gelangen sein sehnlichster Wunsch werden wird. Der Besuch der inneren Gemächer wird lange aufgeschoben, bis ihn eines Nachts die Lehrerin hinein führt. Er sieht dort tatsächlich die wunderbaren Dinge, die er ersehnt und die sich, wie in einer mittelalterlichen Allegorie, als die Geheimnisse seines Lebens offenbaren. Später stellt sich heraus, dass er all diese Schönheit nur geträumt hat, die inneren Gemächer sind tatsächlich eine ganz durchschnittliche preußische Beamtenwohnung. Das Geheimnis der inneren und intimen Gemächer der Geschwister Benjamenta stellen im Traum das Geheimnis des Lebens von Jakob dar. Die Worte die „inneren Gemächer“, die im Text immer in Anführungszeichen erscheinen, besitzen keine feste Referenz. Die Frage, welche Bedeutung ist „wahr“ ist, welche „falsch“, wird bedeutungs- und wirkungslos. 2. Die Negation des alten und Affirmation des neuen IchIn den Tagebucheinträgen, die sich auf die ersten Tage beziehen, werden das Gebäude und die darin sich befindenden Menschen nur mit negativen Attributen geschildert: der Diener, der ihm die Tür öffnet, gleicht eher einem Affen als einem Menschen (ebd.), das Zimmer, das ihm zugewiesen wird, hat etwas „Ratten- und Hundelochartiges“ (JvG 17) und der Vorsteher Benjamenta scheint ein betrügerischer Tyrann zu sein. Aber trotz all dem bleibt Jakob da und entwickelt sich gar zu einem der besten Schüler. Seine anfängliche Meinung über das Institut schlägt ins genaue Gegenteil um: der affenartige Diener ist ein „lieber, lieber Mensch“ (JvG 12), sein Zimmer, ohnehin schon ein Privileg, wäre er bereit einzutauschen gegen eine noch engere Gemeinschaftskammer, und Herr Benjamenta wird zum ritterlichen und märchenhaften Riesen stilisiert, dessen absurdes, von bis zur Grausamkeit reichender Strenge geprägtes Verhalten ihn zur mitleidigen Sorge anregt. Die ersten Einträge erscheinen wie das Protokoll einer vollständigen Umprogrammierung, einer Metamorphose von einem verwöhnten, aufsässigen, aus aristokratischem Hause stammenden Jungen in einen braven, gehorsamen und der Welt außerhalb des Instituts völlig entfremdeten Diener. Sie sind gleichsam eine Beichte, die das alte aristokratische Subjekt negiert und ein neues Ich konstituiert. Jakob spaltet sein altes Ich von sich ab, das fortan nur noch Grund zur Scham und zum Lachen ist. 3. Ist Herr Benjamenta eine Vaterfigur?Jakobs Motiv, freiwillig in das Institut Benjamenta zu gehen und sich der absurden Erziehung zu einem Diener auszusetzen, ist das der Selbsterziehung, um unter den Bedingungen der Welt bestehen zu können, „denn hier macht man sich auf irgendetwas Schweres und Düster-Daherkommendes gefaßt.“ (JVG 69). Die erste Begegnung mit Herrn Benjamenta stellt auch sogleich eine Probe seiner Fähigkeit zur Entbehrung dar. Denn der große Mann hinter dem Schreibtisch fordert ihn dazu auf, ohne Quittung sein gesamtes Geld auszuhändigen („Schlingel wie du erhalten keine Quittung.“ (JVG 12). Die Beziehung der beiden zueinander ist durch die Macht Benjamentas geprägt. Relevant für Benjamenta sind die Handlungen, die seinen imperativen Sprechakten folgen. Unter anderem weil die Autorität des Vorstehers augenblicklich wirkt, wurde die Figur Benjamenta häufig als Vater-Imago interpretiert, zu welcher Jakob als Sohn in einem ambivalenten Verhältnis steht.[7] Jakob selbst gibt an, seinem Vater, der ein Großrat ist, ausgerissen zu sein, um „von seiner Vortrefflichkeit [nicht] erstickt zu werden“ (ebd.). Die Ansprüche des Vaters wurden von Jakob als lebensbedrohlich empfunden, das Gesetz, das er repräsentiert, nimmt ihm die Luft zum Atmen. Bei der Begegnung mit Benjamenta denkt Jakob sogar an „geheime Ermordung, stückweises Erdrosseln“ (JVG 12), ob der autoritären Forderung. Die Verwendung des Erstickungs-/Erdrosselungsmotivs in passiver und aktiver Form scheint tatsächlich ein Indiz für die These des Vaterersatzes durch Herrn Benjamenta zu sein. Da der Vater den Sohn auf die Unterwerfung unter die Machtstrukturen der Gesellschaft vorbereitet, interpretiert Hiebel das Institut als die „Gesellschaft selbst“[8] (H, 322), die zur depressiven Beugung individueller Wünsche zwingt. Diese Interpretation scheint mir aber im Widerspruch zu stehen zu Jakobs wiederholt affirmativen Äußerungen hinsichtlich der Idee der Unterwerfung und des Kleinseins. Es ist ihm durchaus ernst damit, und, wie sich später herausstellen wird, ist das persönliche Verhältnis zum Herrscher Benjamenta der Beginn einer Beziehungsform, die im stärksten Kontrast zu den anonymen Techniken der Macht in der modernen bürgerlichen Gesellschaft steht.[9] Jakobs anfänglicher Protest gegen die absurden und „verdummenden“ Lehrmethoden kritisiert eben diese Ferne zur gegenwärtigen Realität, denn hier wird kein empirisches Wissen vermittelt, mit dem man in der Gesellschaft Erfolge ernten kann. Meiner Meinung nach wird der stumpfsinnige Unterricht nicht nur „ertragen“[10], sondern erweist sich als Teil einer dem kapitalistischen Konkurrenzdruck entzogenen Form des Zusammenlebens, die es ermöglicht, den anderen wirklich kennen zu lernen, persönliche Bindungen aufzubauen, die Zeit mit Tagträumen zu verschwenden und vor allem die moralische Haltung der Selbstbeherrschung zu trainieren. So antwortet Benjamenta auf Jakobs Kritik: „Was deine törichte Meinung betrifft, du könntest hier nichts lernen, so irrst du dich, du kannst lernen. Lerne vor allen Dingen erst deine Umgebung kennen. Deine Kameraden sind es wert, daß man wenigstens den Versuch macht, sich mit ihnen bekannt zu machen. Sprich mit ihnen. Ich rate dir, sei ruhig. Hübsch ruhig.“ (JVG 19). Das Geschwisterpaar Benjamenta stellt in Hiebels Augen die Allegorie des Elternpaares dar: Herr Benjamenta als die Vaterfigur, die das autoritäre Gesetzt repräsentiert, dem sich die Söhne zu beugen hätten und Lisa Benjamenta als personifiziertes Inzesttabu.[11] Hiebel argumentiert an dieser Stelle mit der Masochismuskonzeption von Deleuze und Guattari. Es scheint mir jedoch einschlägiger, ebenfalls mit Deleuze, das Geschwisterpaar Benjamenta tatsächlich als Geschwister Jakobs zu interpretieren. Denn beide bekennen wortwörtlich, eine geschwisterliche Verwandtschaft zu Jakob zu spüren: Herr Benjamenta sagt „manchmal ist mir, als seiest du mein junger Bruder“ (JVG 107) und Fräulein Benjamenta fragt ihn: „Sage, hast du mich lieb, wie junge Brüder Schwestern lieb haben?“ (JVG 146). Die Beziehung zu den Benjamentas scheint im Sinne von Deleuze eine geschwisterliche zu sein, die sich nicht durch den Besitz von Wissen, sondern von Tugenden auszeichnet, die überhaupt besitzlos ist, aber dafür das Abenteuer liebt.[12] Die von Hiebel behauptete Identität zwischen Institut und Gesellschaft, ist auch vom Ende des Romans her gesehen, nicht zu halten, denn statt der Integration in die Gesellschaft verabschiedet sich Jakob von jeglicher Kultur und geht mit Herrn Benjamenta in die Wüste. 4. Selbstbeherrschung und die Idee des Kleinseins.Jakob wiederholt beständig, dass er selbst etwas sehr Kleines und Untergeordnetes darstellt, dass er im späteren Leben eine „reizende Null“ sein wird. Diese Idee ist verbunden mit der sozialen Abhängigkeit von einem Herren, dem er als Diener unterworfen sein wird. Vorerst nimmt der Vorsteher Benjamenta die Rolle des Herren ein: „Herr Benjamenta ist ein Riese, und wir Zöglinge sind Zwerge gegen diesen Riesen.“ (JVG 17) Die Position des übergeordneten Subjekts, dem sich Jakob zu beugen hat, wird durch Bezeichnungen wie „Löwe“, „Simson“, „Herrscher“, „König“ immer wieder beschworen. Die konstitutive Differenz zwischen klein und groß, Beherrscher und Beherrschtem beinhaltet einen moralischen Zwang, der den Diener zur Treue zum Herren verpflichtet. Aus diesem Zwang zur Treue zieht Jakob Empfindungen des Glücks, denn trotz der untergeordneten Stellung handelt es sich um eine emotional intensive Paarbeziehung: „Tränen der Treue und Anhänglichkeit, wie schön ist das.“ (JVG 70) Die enge emotionale Verbundenheit macht das anachronistische Herr-Diener-Verhältnis auch für den Diener zu einem erfülltem Dasein. Mit der Affirmation dieser Abhängigkeit setzt sich Jakob bewusst dem herrschenden bürgerlichen Zeitgeist, der die Autonomie des Subjekts betont, entgegen. Die Konzeption Herrscher-Beherrschter ist für Jakob nicht nur eine interpersonale Konstruktion, sondern auch ein Selbstverhältnis, ein intrapersonales Geschehen. „Ja, ja, ich gestehe, ich bin gern unterdrückt.“ (JVG 104). Unterdrückung meint hier Selbstbeherrschung.
Ein intensives Gefühl, einen kitzelnden Affekt im Innern zu bewahren, bedeutet den Kitzel noch zu intensivieren. Die Betonung liegt nicht auf der Handlung, sondern auf der inneren Erfahrung. Sich selbst als etwas Kleines und Untergeordnetes zu begreifen, das also „natürlicherweise“ von Außen Grenzen auferlegt bekommt, führt zur intensiven und „vollkommenen Vorstellung“ (JVG 104) des Inhalts der jeweiligen Erfahrung:
Jakob zieht so aus der Unterdrückung nicht nur Lust, er lernt sich und seine Gefühle auch wirklich kennen. Und bedenkt man jetzt, dass zur Freiheit unbedingt die Kenntnis der eigenen Person gehört, erweist sich das Konzept der Selbstbeherrschung als ein Paradox: Durch die äußere Unterdrückung findet man innere Freiheit. „Liebe entbehren, ja, das heißt lieben. Wenn ich nicht lieben soll, liebe ich zehnfach.“ (JVG 105) Die Bejahung der Verneinung mündet in eine große Bejahung des Daseins. Der Diener, der sich strengen Regeln unterwirft, erfährt das Leben als intensive Kraft im Innern. Um dieser intimen, im Verborgenen der inneren Erfahrung erlebten Lebensbejahung Willen verkleinert sich Jakob, bejaht er das Verbot. Die Beherrschung der Affekte besitzt neben der Funktion der Gefühlsintensivierung auch die Funktion des Schutzes vor äußeren Verletzungen. Es ist schwierig, sich in Jakobs „Vertrauen zu stehlen“ (JVG 105), seine äußere Kälte schützt seine innere Wärme: „Meine Wärme ist mir kostbar, sehr kostbar, und derjenige, der sie besitzen will, muß äußerst vorsichtig vorgehen“ (JVG 105f.). Während Jakob die eigene Person vor intimen Grenzüberschreitungen mit einem Panzer aus Kälte zu schützen trachtet, will er bei anderen durch provozierendes Verhalten eine Öffnung erzwingen.[13] So bringt er seinen Kameraden Schacht dazu, von seiner „unanständigen Krankheit“ zu erzählen und das Geschwisterpaar Benjamenta gewährt ihm Einblicke in die tiefsten Geheimnisse ihrer Persönlichkeit. Die neckenden Provokationen wirken wie Nadelstiche, die den Getroffenen seine Selbstbeherrschung vergessen lassen. So reizt er Herrn Benjamenta mit der permanenten Frage nach einer Anstellung zu Wutausbrüchen. Aber gerade dadurch wird er für den Vorsteher bedeutsam („An dir ist etwas Bedeutendes“). Indem Jakob nämlich die Grenzen des anderen überschreitet, um sich dann wieder zurück zu ziehen, machen die Betroffenen die Erfahrung, dass ihre persönlichen Grenzen nicht die Welt bedeuten. Sie werden provoziert, aus sich herauszutreten und ihre Eingebundenheit in die Welt des Andern (also in die Welt Jakobs) zu erfahren. Die von Jakobs Neckereien Getroffenen machen so selbst die Erfahrung, klein zu sein, was nun so viel heißt wie begrenzt zu sein. Alles, auch das Große, ist in Wahrheit klein: „Alles, alles ist schwach, alles muß wie Würmer zittern“ (JVG 140). Die Erfahrung der Schwäche, des Klein-Seins ist aber in die Dynamik des Paradoxes eingebettet, das heißt, dass sie zugleich eine Erfahrung der Größe ist. Hinter der Idee des Klein-Seins steht eine Grenzerfahrung, welche die Möglichkeitsbedingung ist, sich auf sich selbst und den Anderen hin zu öffnen. Die Dynamik von Öffnung und Schließung, Wärme und Kälte, Klein-Sein und Groß-Sein, Herrscher und Beherrschtem als innere Erfahrung führt in eine Paarbeziehung zwischen Jakob und Benjamenta, die die Einheit der Differenz zum optimistischen Lebensprinzip erhebt. 5. Das Liebesgeständnis des Herrn Benjamenta
Herr Benjamenta lässt sich zum ersten Mal auf das Erleben Jakobs ein, das wesentlich durch Benjamentas Handeln bestimmt ist. Als bloßer Machthaber ginge ihn das Erleben seiner Zöglinge nichts an, sondern nur die Resultate ihres Handelns hätten Bedeutung für ihn. Die Verschiebung der Aufmerksamkeit vom Handeln auf das Erleben, deutet schon das folgende Geständnis an:
Der Vorsteher ist vom Kode der Unterwerfung so befangen, dass er erwartet, durch sein Geständnis die subordinierte Stellung Jakobs aufzuheben. Jakob wird frech werden, er wird der Autorität trotzen. Aber genau dies tut er nicht. Er verhält sich weiterhin wie ein unterwürfiger Zögling. In dieser Situation sind die Zeichen der Unterwerfung und die der Bestätigung eines Intimverhältnisses identisch. Die kalte und strenge Haltung steigert als Akt der Selbstbeherrschung die gegensätzliche Empfindung: In Wahrheit will er in Benjamentas „Gesicht lachen, vor Freude“ (JVG 95). Der stoische und tyrannische Vorsteher entblößt seine Gefühle vor seinem aufmüpfigsten Schüler, und diese Entäußerung des Inneren macht den „riesenhaft gebaute[n]“ Vorsteher „leise, leise zittern“ (JVG 94). Das Zittern der Macht unter dem Andrang der Gefühle dient Jakob jedoch nicht dazu, den Vorsteher zu verhöhnen oder dazu, seinen eingesperrten Wünschen freien Lauf zu lassen. „Von diesem Augenblick an war etwas Bindendes zwischen uns getreten, das fühlte ich, ja, ich fühlte es nicht nur, ich wußte es sogar. ‚Herr Benjamenta achtet mich’, sagte ich mir, und infolge dieser wie ein Blitz auf mich niederstrahlenden Erkenntnis fand ich es für schicklich, ja sogar für geboten, zu schweigen.“ (ebd.) Die ihm entgegengebrachte Achtung hebt Jakob von der erniedrigten Position des kleinen Eleven auf „eine ganz unzöglinghafte, menschliche Höhe“ (ebd.). Was in einem Machtverhältnis die normale zwischenmenschliche Konstellation ausmacht, nämliche die asymmetrische Abhängigkeit, führte in einem Intimverhältnis zu einem Paradox, das die Beziehung letztlich aufreiben müsste.[14] Der Vorsteher kann nicht gleichzeitig den Anspruch haben, für Jakob die ganze Welt zu bedeuten (totale Unterwerfung zu fordern) und ein intimes Verhältnis zu ihm errichten zu wollen. Im Wechsel von einer Kommunikation bloßer Befehle, Anordnungen und Ratschlägen zur Kommunikation von Gefühlen liegt ein Wechsel des Status des Kommunikationspartners. Wenn der Vorsteher seine Gefühle anerkannt wissen will, muss er Jakob Autonomie zuschreiben, denn die Anerkennung durch einen absolut Hörigen ist nichts wert. Das ist die „menschliche Höhe“, die Jakob empfindet. Jakob verbeugt sich nun nicht mehr vor seinem Herren, „denn es würde ihm wehtun“ (JVG 107). Auch Jakob hat sein Verhalten dem Erleben des Vorstehers angepasst, d.h. er ist bemüht, so zu Handeln, dass er mit den Konsequenzen, die seine Handlungen für das Erleben des Vorstehers haben, leben kann und die Möglichkeit weiterbesteht, das Intimverhältnis fortzusetzen.[15] Nur Jakob kann für Herrn Benjamenta eine solche Bedeutung erlangen, weil er durch ihn, durch sein störrisches und zankendes Verhalten, die eigene Begrenztheit zu spüren lernt. Jakob hat vom ersten Tag an die Regeln des Instituts provoziert und mit dem Erhalte des eigenen Zimmers seine Sonderstellung auch räumlich manifestiert. Er ist so als Einzelner wahrnehmbar geworden, der sich von den anderen Zögling unterscheidet. Er bringt eine Differenz in die Umwelt Benjamentas ein, zu dem sich Benjamenta als Zentrum des Systems Institut ins Verhältnis setzen musste. Die Widerständigkeit Jakobs (er affirmiert die Unterdrückung zwar, behält aber seinen eigenen Stil; schon der phantasievolle Lebenslauf, der die Abenteuerlust betont, erregt Benjamentas Aufmerksamkeit) dezentriert Benjamentas Machtposition. Im Anschluss an das Geständnis seines Herren hat Jakob den Eindruck „als sei ich noch nicht geboren, als schwämme ich in etwas Vor-Gebürtigem“ (ebd.). Die Imagination der Verschmelzung mit dem Institut, der Regression und Einschließung in den mütterlichen Körper, transzendiert die Grenze zwischen Innen und Außen, die Grenze zwischen Herr und Diener. Auch wenn Benjamenta offener als Jakob ist, seine Rolle stärker verändert hat, ist die Abhängigkeit der beiden doch eine gegenseitige. Jakob fühlt sich innerlich gezwungen, Herrn Benjamenta immer wider in seinem Kontor zu besuchen (JVG 147): „Und merkwürdig: manchmal ist mir, als wenn ich mich von diesem Mann, diesem Riesen, nie trennen sollte, nie mehr, als ob wir beide in Eines verschmolzen wären.“ (JVG 141). Der Zwerg und der Riese, der Herrscher und der Beherrschte verschmelzen zu einer kompakten Figur. Jakob fühlt, dass er das perfekte Komplement zu Benjamenta darstellt. Die auf Dezentrierung Benjamentas und Erhöhung Jakobs aufbauende Beziehung ist eine „verbotene Frucht“ (JVG 105). Ihre Freundschaft ist im Kontext des Herr-Diener-Verhältnisses ein Skandal, den beide auch als solchen empfinden und keine deutlichen Wort für ihn finden: „Wir schrecken vor der offenen Sprache zurück“ (ebd.). Doch der Vorsteher versucht beim nächsten Treffen, durchaus eine offene Sprache zu sprechen:
Jakob kann tatsächlich noch nicht fassen, was das eigentlich bedeutet. Er beschließt, vorerst abzuwarten und behält eine innere Distanz aufrecht, um sich auch selbst zu schützen. Denn der Vorsteher neigt zu Gewaltausbrüchen. Und wenn auch die psychologische Dimension der Unterwerfung aufgehoben scheint, ist ihm Benjamenta körperlich noch weit überlegen: er ist tatsächlich ein Riese, ein Löwe, vor dem er sich wie eine Maus zu fürchten hat. 6. Die Wüste als UtopieBenjamenta erwähnt, ein abgesetzter König zu sein (JVG 107). Diese Verklärung der bürgerlichen Identität ins Mythische erregt Jakobs Aufmerksamkeit. Er ahnt zwar, dass diese Behauptung nicht wörtlich gemeint sein kann, ist aber nicht in der Lage, sich ihren Sinn allein zu erklären. So wird die Erwähnung der Königswürde Benjamentas Ausgangspunkt des Versprechens, seine Lebensgeschichte zu erzählen, was er aber bis kurz vor den endgültigen Zerfall des Instituts aufschiebt. Durch einen jähzornigen und scheinbar unmotivierten, also durch keinen sichtbaren äußeren Anlass hervorgerufenen Anfall muss Jakob eine Demonstration des potentiellen Wahnsinns des Vorstehers erfahren. Er kann sich nur mit letzter Mühe, und bangend um sein Leben, durch eine „grobe Verletzung des zöglinghaften Anstands“ (JVG 142) retten, indem er dem Vorsteher in den Finger beißt. Diese gewaltsame Überschreitung der Grenze der gegenseitigen Achtung war eine so intensive Erfahrung, dass Jakob daran zweifelt, ob sie überhaupt wahr ist: „Aber ich merke an der Zerrüttung, die mich beherrscht, dass es wahr ist.“ (ebd.). Die Unsicherheit über den Status des Ereignisses war es Traum, war es Wirklichkeit? entspringt womöglich dem Wunsch, dass es nicht wahr sein möge, dass sich der Vorsteher „wie ein dunkles Stück verrückt gewordenen Jähzornes“ (JVG 143) auf ihn geworfen hat. „Nein, nein, es ist, es ist Tatsache“ (ebd.): er muss sich geradezu zwingen, den Wahnsinn Benjamentas anzuerkennen. Jakob fordert später eine Entschuldigung und die Versicherung, dass sich so etwas nicht wiederholt. Die Beziehung bedeutet also nicht die völlige Selbstaufgabe, sondern ist eine, die im Kern die gegenseitige Achtung fordert. Jakob wiederholt, dass er seine Würde nicht freiwillig kränken lässt. Der Vorsteher bedeutet eben nicht die Welt für Jakob; die Beziehung zwischen beiden folgt nicht mehr dem Kode absoluter Unterwerfung.[16] Benjamenta nannte sich selbst einen abgesetzten König und klärt erst kurz vor Ende diese Metapher auf: „In diesem Sinne, Jakob, bin ich hoch gewesen, das heißt einfach jung und vielversprechend, und in diesem Sinne geschah die Entfürstung und Entthronung.“ (JVG 159). Als Benjamenta so war, wie Jakob es jetzt ist, war er ein König. An anderer Stelle heißt es, durch Jakob sei überhaupt erst wieder Leben in ihn gekommen, und die wahnsinnigen Wutanfälle gingen auf Erinnerungen an sein deprimierendes Leben zurück, als er ein Mensch war, der seine Zukunft verloren hat. Jakob und nur Jakob kann Benjamenta ein erfülltes Leben bescheren, und Jakob, der sich nach einer untergeordneten Stelle sehnt, findet in dieser Aufgabe seinen Lebenssinn. Diese Einsicht kommt ihm (wie vieles im JVG) im Traum. Er träumt von Benjamenta als Ritter und sich selbst als dessen Knappe: sie gehen gemeinsam in die Wüste , entfliehen dem, „was man europäische Kultur nennt“, gehen nach Indien und machen dort Revolution. (JVG 162-163) Der Traum nimmt die tatsächliche Entscheidung am nächsten Tag vorweg. Der Auszug in die Wüste bedeutet auch das Ende des Tagebuchs. Mit seiner Entfernung aus der europäischen Kultur gibt Jakob auch die Kulturtechnik des Schreibens und die damit verbundenen Suchen nach den Bedeutungen, die hinter den Dingen liegen, auf. Auch den Status des Zöglings legt Jakob ab. „Jakob, du bist nicht mehr mein Zögling.“ (JVG 160) Am Ende stehen sich beide als freie Individuen gegenüber, die sich dazu entscheiden, der Gesellschaft den Rücken zu kehren. Der Auszug in die Wüste, die durch Jakobs letzten Traum als Land des Abenteuers semantisiert ist, wird so zum Auszug zweier Individuen, die in der Erkenntnis des eigenen Kleinseins und in der Achtung der Größe des Andern, zu einer Lebenslust finden, die über die Grenzen der Kultur hinausstrebt. „Du sagst ja, oder du sagst nein. Wisse, du bist jetzt vollkommen frei.“ (JVG 160). Die individuelle Freiheit scheint die Metaphorik der Verschmelzung zu dementieren, es sind zwei klar zu unterscheidende Einzelne, die sich entschließen, das Leben zusammen zu verbringen. Anmerkungen[1] Dieter Borchmeyer, auf den ich mich hier beziehe, nennt dieses Konzept „eine Art umgestülpte[n] Aristokratismus“. Vgl. Borchmeyer, Dieter: Dienst und Herrschaft, Tübingen 1980, S. 1. [2] Unter „intim“ findet sich im etymologischen Lexikon folgender Eintrag: „vertraut, innig; persönlich, nicht für andere bestimmt; aus lat. intimus ‚der geheimste, vertrauteste’, Superlativ zum ungebräuchlichen Adjektiv interus ‚innen befindlich, geheim’“, in: Etymologisches Lexikon, Lexikographisches Institut, München, 1982. [3] Niklas Luhmann, Liebe als Passion, Zur Codierung von Intimität, Suhrkamp 1994, S. 23. [4] Ebd., S. 25. [5] Ebd., S. 30. [6] „Ich trat zu ihm ins Kontor, aber ich kam nicht dazu, meinen Mund zu öffnen. ‚Geh wieder hinaus. Versuche, ob es dir möglich ist, wie ein anständiger Mensch ins Zimmer einzutreten’, sagte er streng. Ich ging hinaus, und dann klopfte ich an, was ich ganz vergessen hatte. ‚Herein’, rief es, und da trat ich ein und blieb stehen. ‚ Wo ist die Verbeugung? Und wie sagt man, wenn man zu mir eintritt?’ Ich verbeugte mich und sagte im kümmerlicher Tonart: ‚Guten Tag, Herr Vorsteher.’ Heute bin ich schon so gut dressiert, daß ich dieses ‚Guten Tag, Herr Vorsteher’ nur so hinausschmettere. Damals haßte ich diese Art sich untertänig und höflich zu benehmen, ich wusste es eben nicht besser. Was mir damals lächerlich und stumpfsinnig vorkam, erscheint mir heute schicklich und schön. ‚Lauter reden, Bösewicht’, rief Herr Benjamenta. Ich mußte den Gruß ‚Guten Tag, Herr Vorsteher’ fünfmal wiederholen. Erst dann fragte er mich, was ich wolle.“ (JVG 18); „ … sagte, wie die Vorschriften es geboten, ‚Adieu, Herr Vorsteher’, klappte die Schuhabsätze zusammen, stund stramm da, machte kehrt, das heißt nein, suchte mit den Händen den Türriegel, schaute immer aufs Gesicht des Herrn Vorstehers und schob mich, ohne mich umzudrehen, wieder zur Tür hinaus.“ (JVG 20) [7] Vgl. Hans H. Hiebel, Robert Walsers Jakob von Gunten. Die Zerstörung der Signifikanz im modernen Roman. In: Katharina Kerr (Hrsg.), Über Robert Walser. Band 2. Suhrkamp, 1978, S. 308-346. Karin Fellner, Begehren und Aufbegehren. Das Geschlechterverhältnis bei Robert Walser, Tectum Verlag, Marburg 2003, S.91-97. [8] Hiebel, a.a.O., S. 322: „Die Schule ‚Benjamenta’ ist nichts als die Vorbereitung aufs reale gesellschaftliche Dasein“. Dagegen spricht Jakob von einem krassen Kontrast zwischen der gesellschaftlichen Welt und den Grundsätzen Benjamentas: „Und das sind nun wieder Benjamentasche Grundsätze, und wie unähnlich sind Benjamentas dem, was Welt bedeutet.“ (JVG 116) [9] Ähnlich argumentiert Jochen Greven im Nachwort des Romans. In: JVG, 175. [10] Hiebel, a.a.O., S. 312. [11] Hiebel, a.a.O., S. 320; Vgl. auch Fellner, a.a.O. S. 92. [12] Vgl. Deleuze, Gilles: Bartleby, oder die Formel, in: Klinik und Kritik, Ffm. 2000, S. 94-132. [13] „Mein Wunsch, Erfahrungen zu machen, wächst zu einer herrischen Leidenschaft heran, und der schmerz, den mir der Unwille dieses seltsamen Mannes verursacht, ist nur klein gegen die bebende Begierde, ihn zu verleiten, sich ein wenig mir gegenüber auszusprechen. O ich träume davon herrlich, herrlich , dieses Menschen hervorbrechendes Vertrauen zu besitzen. […] Geheimnisse lassen einen unerträglichen Zauber vorausahnen, sie durften nach etwas ganz, ganz unsäglich Schönem.“ (JVG 45) [14] Vgl. Luhmann, a.a.O., S. 218; S. 57-97. [15] Luhmann spricht gar von einer Identität von Handlung des einen und Erleben des anderen. Luhmann, a.a.O., S. 219. [16] Vgl. Luhmann, a.a.O., S. 218. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/53/sesch1.htm
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