Kitsch - Kopie - Nostalgie


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Herr K. schreibt mir einen Brief

Nachdenkmaliges

Andreas Mertin

"Ist doch das affektierte Interesse für Thron und Altar
nur ein Possenspiel, das dem Volk vorgegaukelt wird!"

Etwa einmal im Jahr bekomme ich einen Brief von Herrn K. Darin äußert er jedes Mal eine Bitte. Um Geld. Herr K. ist Vorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Horst Köhler. Diese Stiftung sorgt dankenswerter Weise dafür, dass wichtige Bauwerke der Geschichte nicht nur erhalten werden, sondern auch gepflegt und restauriert werden. Ohne diese Stiftung wären zahlreiche Gebäude in Deutschland inzwischen baufällig und/oder abgerissen.

Ende 2008 bittet mich Herr K.: Helfen Sie der Gedächtniskirche! Mit dem Wort "Gedächtniskirche" werden bei mir sofort eine Fülle von Assoziationen freigesetzt. Als ich Anfang der 80er-Jahre in West-Berlin studierte, war die Gedächtniskirche nicht nur touristischer Bezugspunkt und Mahnmal für die Hybris der Deutschen, einen Weltkrieg zu beginnen, sie war auch einer der beiden Türme meiner Gemeindekirche, denn ich wohnte direkt in der Nähe in der Hardenbergstraße. Es gibt also durchaus persönliche Bezugspunkte zur Gedächtniskirche.

Nun frage ich mich natürlich dennoch, warum ich ausgerechnet der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche helfen sollte. Es gibt so viele Hilfsbedürftige in unserer Gesellschaft, so viel Finanzbedarf für kulturelle Zwecke, so viele andere erhaltenswerte Orte und Gebäude - warum also gerade die Berliner Gedächtniskirche?

Weil sich das vermutlich viele fragen, liegt dem Anschreiben ein kleiner Flyer bei, der die Hilfsbedürftigkeit näher begründen soll. "Tausende von Touristen aus Deutschland und aller Welt pilgern täglich zur Gedächtniskirche" steht dort zu lesen. Wie schön. Wenn jeder dieser Pilger einen Euro gäbe, dann würde man jedes Jahr schon eine dreiviertel Million Euro zur Denkmalpflege dieses Gebäudes zur Verfügung haben. Warum muss daher auch ich noch spenden, der ich nicht (mehr) zur Gedächtniskirche pilgere?

Etwa weil diese Kirche ein Mahnmal ist, weil sie als religiöse Gedenkstätte geschaffen wurde und dem Gedächtnis dient? "Mit der Gedächtniskirche wollte Wilhelm II in der Reichshauptstadt seinen Großvater Wilhelm I. ehren." Und warum sollte ich als bundesrepublikanischer Staatsbürger des 21. Jahrhunderts den Monarchen in diesem familiären Verklärungswunsch unterstützen? Doch nicht etwa, weil mir Wilhelm I. so sympathisch und er historisch so vorbildlich ist? Zur Erinnerung: Wilhelm I. trägt den Beinamen Kartätschenprinz, weil er entsprechend zur Niederschlagung der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848 beizutragen gedachte. Die Berliner dichteten damals

Schlächtermeister Prinz von Preußen
komm doch, komm doch nach Berlin!
Wir wollen Dich mit Steinen schmeißen
und die Barrikaden ziehn.

Vielleicht ist aber das Bauwerk selbst von so herausragender architektonischer Bedeutung, dass es trotz seines unseligen Stiftungszwecks bewahrenswert ist? "1895 wurde der imposante Bau eingeweiht. Der Kölner Architekt Franz Heinrich Schwechten hatte die Formensprache der rheinischen Romanik einfließen lassen." - Die Formensprache der rheinischen Romanik? Tatsächlich ist das Kunstwerk neuromanisch, es ist also im weitesten Sinne dem Historismus zuzuordnen. Und neuromanisch wurde gebaut, weil den Baumeistern damals die Neo-Gotik zu französisch war. "Umgekehrt zum historischen Auftreten folgte die Neuromanik der Neugotik, denn im nationalistisch geprägten Deutschland des Zweiten Kaiserreiches wurde bewusst, dass die favorisierte Gotik letztlich aus Frankreich stammt. Den gesuchten deutschen Stil glaubte man nun in der Romanik zu finden." [wikipedia] In der Fachliteratur wird daher zu Recht von der "politischen Vereinnahmung der Neuromanik" geschrieben: "Sie wurde zum Nationalstil erhoben. Das wird besonders deutlich in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin (1891-95). Ihr Erbauer Franz Schwechten (1841-1924) versucht mit dieser Kirche eine Verbindung zwischen salisch-staufischer und wilhelminischer Kaiserschaft zu erzielen." (Sabine Behrens, Norddeutsche Kirchenbauten des Historismus, 2006, S. 38). In der Architektursprache selbst ist das Bauwerk ganz und gar der Nachahmung verpflichtet.

Da stellt sich noch einmal verschärft die Frage, warum ich gerade dafür "gegen den Zahn der Zeit" tätig werden sollte? "Damit Vergangenheit Zukunft hat" wie es im Flyer so schön mehrdeutig heißt? Da halte ich es doch lieber mit Arno Holz, der 1886 schrieb:

Ihr aber thut, als wäre die Welt
Noch die Welt, die sie ehmals war;
Ihr bucht eure Titel und zählt euer Geld
Und faselt von Thron und Altar!
Ihr faselt im Wachen, ihr faselt im Traum,
Und im Frühling genirt euch der Wind,
Und keiner merkt, wie im Freiheitsbaum
Schon die Knospen gesprungen sind!

Oder geht es doch eher darum, daran zu erinnern, dass genau das überwunden ist, dass die Vergangenheit vergangen ist und hoffentlich auch bleibt?

Vielleicht ist es aber auch die Ausstattung, die mein Engagement erfordert? "Doch erst das figürliche Programm im Inneren machte die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche zu dem Monument, mit dem sich Preußen und das Kaiserreich durch Glauben, Heldentum und Kunst definieren konnten." Die Selbstdefinition des Nationalstaates durch Glauben, Heldentum und Kunst? Tatsächlich: „Im Vorraum befanden sich kunsthandwerklich bedeutende Mosaiken, darunter eine Darstellung, in der Mitglieder der Hohenzollernfamilie das Kreuz verehren – eine Reminiszenz an die Vorstellung vom Gottesgnadentum weltlicher Herrscher, die auch damals schon längst als überholt galt. Dem Kaiser aber waren dieser Gedanke und seine Präsentation in der Gedächtniskirche wichtig.“ (wikipedia, Art. Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche) Und das soll ich unterstützen?

Da beteilige ich mich doch lieber an einer Studie, die den Einfluss des erzkonservativen und antisemitischen Hof- und Dompredigers Adolf Stoecker auf den Kirchenbau untersucht: „In seinem Umfeld entstand eine evangelische Kirchenbauinitiative, die 1890 zur Gründung des Evangelischen Kirchenbau-Vereins unter dem Protektorat der Kaiserin führte.“ (ebenda).

Selbstverständlich ist die Erhaltung der Gedächtniskirche als Mahnmal unterstützenswert. Sie ragt nicht zuletzt als Kunde ferner Zeiten einer allzu engen Bindung von Thron und Altar mitten in die geschäftige Gegenwart des Kurfürstendamms. Andererseits haben wir mit dem Berliner Dom ja bereits die Ausgestaltung des reibungslosen Thron-und-Altar-Verhältnisses vor Augen, die nach der Wiedererrichtung des Berliner Stadtschlosses eine noch viel sinnfälligere Symbolik vergangener preußischer Zeiten sein wird.

Letztlich arbeitet das Ansinnen, noch das figürliche Programm der Gedächtniskirche vor Ort zu retten (statt es ins Museum zu bringen, wo es hingehört), dem Kitsch zu. „Denn indem der Kitsch vergangene Formwesen den Menschen als gegenwärtig aufredet, hat er soziale Funktion: sie über ihre wahre Lage zu täuschen, ihre Existenz zu verklären, Ziele, die irgendwelchen Mächten genehm sind, ihnen im Märchenglanz erscheinen zu lassen. Aller Kitsch ist wesentlich Ideologie.“ (Theodor. W. Adorno) Weil viele Menschen dem Kitsch zugänglicher sind als der kulturellen Qualität, wird eben mit dem Kitsch geworben. Damit wird aber auch die Zeit verklärt, in der Potentaten Kirchen als religiöse Gedenkstätten ihrer Vorfahren einrichten konnten und so gleichzeitig den Anspruch auf das Gottesgnadentum ihrer Herrschaft dauerhaft visualisierten.

Als Mahnmal gegen den Krieg, als das die Ruine einmal gedacht war, bedarf es nur des kontrollierten ruinösen Charakters. Darum geht es aber im Anschreiben mit der Bitte um eine Spende gerade nicht. Es geht vielmehr um die Dialektik von Restaurierung und Restauration. Und da möchte ich nicht mitmachen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/57/am270.htm
© Andreas Mertin, 2009