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Von Liebesleid und EwigkeitOder: “From Her to Eternity“Matthias Surall Ein silberner Jubiläumsblick auf den Erstling von Nick Cave and The Bad Seeds aus dem Jahr 1984Nachdem der größte lebende Songpoet, als der Bob Dylan ohne Zögern von Nick Cave benannt wird, inzwischen Klassikerstatus erlangt hat, was im deutschsprachigen Raum spätestens die Publikation einer klassisch gelben Reclam Monographie über den ‚Meister’ im Jahre 2007 manifestiert, ist es an der Zeit, einen anderen, bislang weniger beachteten Songpoeten ins Rampenlicht der Aufmerksamkeit des kulturell bis spirituell interessierten Publikums zu stellen. Die Rede ist von dem eben genannten Nicholas Edward, kurz: Nick Cave, dem australisch-transkontinentalen Songpoeten und Künstler mit weit verzweigten Aktivitäten und ungebrochenem Schaffensdrang, zu dessen Werk ebenso wie zu dem von Bob Dylan die implizit bis explizit spirituelle, religiöse, ja biblische Dimension sowie eine zum Teil sehr eigene Theologie genuin dazugehört. Im Jahre 2009 ist es 25 Jahre her, dass mit “From Her to Eternity“ das erste Album, die erste LP von Nick Cave and The Bad Seeds erschien. Höchste Zeit für eine erinnernde Vergegenwärtigung dieses Albums wie überhaupt des Werkes von Nick Cave, das mit der ‚Gründung’ der Bad Seeds eine neue Qualität und Dignität erreicht hat. Zumal ab März 2009 endlich eine erweiterte und klanglich verbesserte (“Digitally Remastered“) Re-Edition seiner Alben startet, welche zunächst die ersten vier Veröffentlichungen mit den Bad Seeds umfasst. In diesem Beitrag soll es nun um die Würdigung des ersten Albums von Nick Cave and The Bad Seeds gehen und zwar anhand der exemplarischen Interpretation von drei dort zu findenden Songs. Doch vorab noch ein paar Informationen zu diesem Album und seiner Einordnung: Nach der Auflösung seiner Band The Birthday Party, die mit ihrer Post-Punkmusik nicht nur, aber besonders als Live-Act große Erfolge gefeiert und in der entsprechenden Szene Kultstatus erlangt hatte, bedeutet das Album “From Her to Eternity“ für Nick Cave und sein Publikum einen echten Neubeginn in mancherlei Hinsicht. Eigentlich als Soloprojekt von Nick Cave geplant markiert es gleichwohl aus dem historischen Abstand heraus deutlich wahrzunehmen die Premiere der Kooperation mit der hierfür ‚gegründeten’ Band The Bad Seeds, die noch heute als Begleitband von Nick Cave im Studio und auf der Bühne fungiert und agiert (auch wenn aus der damaligen ‚Urbesetzung’ nur noch der Multiinstrumentalist und Nick Cave Freund Mick Harvey dabei ist). Die Musik wendet sich jetzt stark dem Blues zu und ist in Relation zur Stimme von Nick Cave verglichen mit den Aufnahmen der Birthday Party so weit zurückgenommen und verlangsamt, dass der Sänger erheblich besser durchdringt, dominanter und verstehbarer wird. Zudem ist Nick Cave nun nicht mehr nur ein Teil einer sich neu formierenden Band, sondern eindeutig der Mittelpunkt und Protagonist des Geschehens, was nicht nur das Albumcover, sondern auch die Benennung der Akteure darauf verdeutlicht: Auf dem Frontcover ist einzig ein Portraitfoto von Nick Cave und sein Name neben dem Albumtitel zu sehen. Erst auf dem Backcover (zumindest der erst später erschienenen CD) heißt es dann “Nick Cave Featuring The Bad Seeds“. Kurzum: Der Neuanfang wird deutlich markiert. Inhaltlich akzentuiert dieser Erstling des Neubeginns das Bestreben Nick Cave’s, sich in bestimmte Traditionslinien wie die des Blues einzureihen, einigen seiner Heroen wie Leonard Cohen, Elvis Presley und John Lee Hooker nachzueifern oder ihnen seine Referenz zu erweisen und vor allem diverse Ebenen, Dimensionen und Inhalte, die ihm wichtig sind, vorzustellen sowie mit- und ineinander zu verweben. Dabei geht es in den hier vorgelegten Songs um poetisch dokumentierte Tragödien, ‚verdichtete’ Einsamkeit, Hilflosigkeit, Liebesleid, Ohnmacht, Gewalt und Wut. In, bei und über alledem ist das bestimmende Thema des gesamten Albums die Aufarbeitung der gescheiterten Beziehung zu seiner Partnerin und Muse Anita Lane, die hier als Coautorin des Titelsongs “From Her To Eternity“ in Erscheinung tritt und auf dem Backcover des CD-Booklets zu sehen ist. So erweist es sich einmal mehr, dass Leiden, Schmerz und Verzweiflung der Nährboden für künstlerisch wertvolle „Saat“ ist! Ich beginne mit dem 2. Song des Albums: “Cabin Fever“, ein klaustrophobisch anmutendes Drama, musikalisch im Post-Punk-Stil gehalten, textlich mit surrealen Elementen. Der Fokus des Songs liegt auf einem in mancherlei Hinsicht an Melville’s Ahab erinnernden Kapitän, der ob des Verlustes seiner Geliebten offensichtlich zunehmend dem Wahn des “Cabin Fever“ = „Kabinenfiebers“ anheimfällt. Schon die ersten Zeilen des Songs lassen zwei der für den Nick Cave Kosmos zentralen Themen anklingen: Liebe und Glaube. Der Unterarm des Kapitäns, der wie ein bedrohlich „zusammengerolltes Tau“ wirkt, wird von 2 Tätowierungen geziert. Zum einen welch Zufall! der Name “A-N-I-T-A“, der sich aus Schädel und Dolch herausschlängelt. Und zum anderen ein Portrait des an einen Anker genagelten Christus. Die erste Kombination des Namens der Geliebten mit einem „Totenschädel“ und einem „Dolch“ (vgl. hierzu den berühmten Auszug aus einem Dialog von MacBeth aus dem gleichnamigen Shakespeare Drama: “Is this a dagger, which I see before me…?“) kann so gedeutet werden: der “skull“ = „Totenschädel“ lässt sich einerseits auf das dritte große Nick Cave Thema beziehen, den Tod. Andererseits verweist er auf die ‚gestorbene’ = beendete, gescheiterte Beziehung zu der Geliebten. Der Dolch hingegen kann als Hinweis auf Gewalt und ggf. sogar Mord(gelüste) verstanden werden. Und der Name der Geliebten „schlängelt“ sich nicht umsonst aus „Schädel und Dolch“ heraus. Das kann als Hinweis auf den schlangenhaft-teuflischen Charakter der Dame gedeutet werden oder auch auf ihr diabolisches Treiben im Gegenüber zum „Kapitän“. Die Kombination der zweiten Tätowierung mit „Christus“ und einem „Anker“, auf den „genagelt“ er hier erscheint, ist nicht minder interessant: der „Anker“ als traditionelles christliches Bild für den Glauben und seine Beheimatungskraft ist gleichzeitig ein nautischer Begriff, der die Nähe zum Kapitän des Songs verdeutlicht. Wenn hier nun Christus an einen Anker genagelt erscheint, dann wird damit deutlich, dass er selber derjenige ist, an dem sich die Glaubenshoffnung festmachen, eben verankern lässt. Anders gesagt: der auf einen Anker genagelte Christus ist ein Symbol dafür, dass der Glaube an ihn Heimat, Hafen, Halt ist und gibt. Doch ungeachtet dieses Hoffnungszeichens bietet der Kapitän des Songs eher ein Bild zunehmenden „Kabinenfiebers“ oder Wahnsinns. Davon abgesehen enthält der Song eine deutliche Rahmung, begegnet doch sowohl an seinem Anfang wie auch an seinem Ende der Arm des Kapitäns - interessanterweise zu Beginn bedrohlich zusammengerollt wie ein Tau und damit die Macht und Gewalt noch in sich bergend, am Ende des Songs jedoch in eher entfesselt-demaskierter Pose, die mit dem Bild der aufgerollten „Schlangen“ markiert wird. Die von diesem Arm ausgehenden Aktionen jedenfalls sind eindeutig gewalttätig und durch zunehmende Frustration bedingt. Insgesamt gesehen bietet der Kapitän des Songs ein Bild zunehmenden Verfalls und gewalttätiger Frustration. Er ergeht sich und kann gar nicht anders (Z. 13: “now all that remains“) in der widersinnigen Tätigkeit, „ewig“ auf ein und demselben „Fleck herumzusegeln“ (Z.13f.) bzw. ein seit 5 Jahren gesunkenes Schiff zu segeln(vgl. das Ende des Songs mit Z. 35f.)! Die völlige Absurdität dieser Tätigkeit hängt offensichtlich mit der Paradoxie der poetisch verdichtet ausgedrückten Empfindung zusammen, sie, die Geliebte, sei „überall, jetzt, wo sie weg ist! Weg! Weg!“ (Vgl. Z. 27)! Einsamkeit ist die bestimmende Gemütslage des Kapitäns, sich steigernde Raserei und Verzweiflung sind weitere, signifikante Kennzeichen seines Zustandes. Die in der Negativformulierung von Z. 21 (“For the sea offers nuthin to hold or touch“) evidente Sehnsucht treibt ihn um. Die Tätowierung mit seiner Liebsten, das Sammelalbum voller Erinnerungen und die Flagge, unter der er segelt, die mit einem morbiden Klumpen Liebe gekennzeichnet ist all das verdeutlicht seine Situation. Wer aber ist dieser Kapitän, dieser, um einen Songtitel von Neil Diamond zu zitieren: “Captain of a Shipwreck“? Es ist der Künstler, Nick Cave selber, der vor dem Scherbenhaufen der gescheiterten, großen Liebe zu Anita Lane steht und dieses Scheitern und Leiden künstlerisch zu bewältigen trachtet. Der dritte Song des Albums trägt den Titel: “Well of Misery“ „Brunnen des Jammers“ und wird musikalisch besonders durch seinen stampfenden Rhythmus und den in call and response Technik aufgenommenen Gesang geprägt. In der Tradition eines work songs oder sea shantys eingespielt begegnet hier die Melodie exklusiv über den Gesang und die finaliter erklingende Mundharmonika. Die call and response Technik ist so angelegt, dass dem Vorsänger Nick Cave der kollektive Chor der Bad Seeds folgt und partiell schon sozusagen ins Wort fällt. Dabei wird die von Nick Cave gesungene Zeile durch den Chor wiederholt. Das gilt für jede Zeile des Songs bis auf die Zeilen 8, 16 und 24, in denen jeweils der Songtitel begegnet. Die Antwort, das Echo des Chores ist dabei fast immer, aber nicht durchgängig eine Wiederholung des vorher bereits durch die einzelne Stimme gesungenen Textes. Partiell lässt sich hier auch eine Verkürzung oder Veränderung des Textes in der Wiederholung durch den Chor beobachten. Insgesamt bildet dieser kollektive Chor der Bad Seeds den Widerhall und das Auffangbecken der düsteren individuellen Erfahrung des Sängers. Inhaltlich bleibt der Songtext in einiger Hinsicht kryptisch. Hauptsächlich ist der Song aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geschrieben und wird ebenso gesungen. Offensichtlich geht es wieder um eine verlorene, vergangene Liebe: Eine junge Frau, sein Mädchen hat den Erzähler und Sänger verlassen. Eventuell aber und das würde jedenfalls gut in den morbiden Kosmos des Künstlers passen hat er sie auch umgebracht. Entscheidend ist, dass diese Option zumindest nicht exkludiert werden kann, dass ergo bewusst in der Schwebe bleibt, ob die Besungene verschwunden oder gestorben ist oder ermordet wurde. Wie dem auch sei: Ihr wahrscheinlicher Tod wird als Zeichen dafür gewertet, dass Gott sie verlassen hat. Und gleichzeitig ist mit ihrem Tod dann auch klar, dass Gott ebenfalls ihn, den Sänger / Erzähler / Geliebten /Mörder verlassen hat (vgl. Z. 5f. und 21f.). Was von der Geliebten übriggeblieben ist, das ist ihre „kriechende Seele“, die dem Sänger (und ggf. Mörder), der durch eine nächtliche Gebirgslandschaft wandert, Furcht einflößt. Der in der folgenden, zweiten Strophe eingeführte „Brunnen des Jammers“ oder der Trauer kann als Symbol der ‚perversen’ Welt gedeutet werden, die durch den Verlust der Liebe und Geliebten verkehrt geworden ist. Der Sänger gräbt ja hier keinen Brunnen, um eine Wasserquelle zu erschließen, sondern um einen Ort, ein Gefäß für seine Trauer zu haben, wohinein er den „Eimer voller Kummer“ herablassen und die Tränen sammeln kann. Während in einer ‚normalen’ Welt ein Brunnen ein Lebensquell speziell in der Wüste ist, geht es hier mit dem Brunnen nicht um Leben, sondern um Trauer und Elend. In dieser Welt der Trauer, Düsternis und Gottverlassenheit findet sich der Erzähler / Sänger am Ende des Songs „Tief in der Wüste der Verzweiflung“ wieder und „wartet am Brunnen der Trauer“, wobei offen bleibt, auf wen oder was. Die formale wie inhaltliche Mitte des Songs bilden die beiden Strophen 3 und 4. Hier steht der Brunnen mitsamt seinem Innenleben im Mittelpunkt. Während der Eimer in einem normalen Brunnen dem Wasser-Einholen und Schöpfen dient, trägt er hier kein Lebenselixier, sondern „Kummer“ (Z. 9f.), vielleicht vorstellbar in Form von Tränen. Und dieser Eimer wird nicht etwa herabgelassen und dann wieder hochgezogen, vielmehr schwingt er hin und her wie der Klöppel einer Totenglocke! So wird evident, in welch krassem Gegensatz zu einem klassischen Brunnen des Lebens der „Brunnen der Trauer“ steht. Er symbolisiert mit seiner Totenglocke die umgekehrte Erfahrung eines ‚Lebensbrunnens’ in einer verkehrten, perversen Welt. Interessanterweise gibt es zwei weitere Belegstellen für den „Brunnen“ im Werk von Nick Cave: Zum einen in dem Gospelsong “Jesus Met the Woman at the Well“, den er für sein Album “Kicking Against the Pricks“ von 1986 covert. Hier ist der Brunnen in seiner Leben spendenden, weil Wasser hervorbringenden Funktion im Blick und wird in diesem Sinne einer ‚Wasserstelle’ zur Brücke für das johanneische Verständnis der „Quelle des Wassers… , das in das ewige Leben quillt“ (Joh 4, 14). Die zweite Belegstelle begegnet in Nick Cave’s 1989 erschienenem Roman “And the Ass Saw the Angel“ (Die deutsche Ausgabe ist als Taschenbuch in der Serie Piper erschienen: Nick Cave, Und die Eselin sah den Engel, München 12. Aufl. 2007) und steht dort in einem Zusammenhang, der dem von “Well of Misery“ mehr als nur ähnelt: Die Frau des Predigers Sardus Swift begeht Selbstmord, nachdem sie von ihrer Unfruchtbarkeit erfahren hat. Sie erhängt sich im Dorfbrunnen, der damit ebenfalls zu einem „Brunnen der Trauer“ mutiert und das, obwohl an ihm „geschrieben stand: - WIGGAMS WUNSCHBRUNNEN - Wünsche werden Wirklichkeit “ (A.a.O., S. 66). In theologischer Hinsicht ist an diesem Song interessant, dass Gott hier exklusiv sozusagen als deus absconditus begegnet, nämlich als ein Gott, der Menschen verlässt, sie sich selbst überlässt und damit dann eben seine dunkle Seite offenbart. Doch im Kosmos des Werkes von Nick Cave ist das weder überraschend, weil singulär, noch automatisch negativ konnotiert. Es ist theologisch gesehen vielmehr bemerkenswert, dass Gott mit menschlichen Negativerlebnissen zusammengedacht wird, anstatt ihn von diesen dunklen, wehmütigen, kummervollen Momenten und Erfahrungen zu trennen bzw. ihn darob zu verabschieden. Die Theologie von Nick Cave scheint also ganzheitlich umfassend ausgerichtet zu sein und nicht auf die Schönwetteraspekte beschränkt! Eben darin ist sie genuin biblisch und in besonderer Weise alttestamentlich. Der vierte Song des Albums, der Titeltrack “From Her to Eternity“ ist hinsichtlich seines Textes eine Koproduktion von Nick Cave mit Anita Lane. Es handelt sich um den fatalistisch bis faustisch anmutenden Monolog eines Mannes, der sich vor Sehnsucht verzehrt. Die Sehnsucht repräsentiert mithin das Sujet des Songs, dessen partiell martialisch klingender, kakophonischer Sound die Pein des unerfüllten Verlangens musikalisch kongenial illustriert und interpretiert. Dabei geht es um die Dialektik des Sehnens und Verlangens, des sich Verzehrens um des Begehrens eines anderen Menschen willen: Einerseits begegnet hier die drastisch plastische Schilderung, ja fast schon Überhöhung der Sehnsucht und ihrer Folgen und andererseits die Erkenntnis, dass, wenn die Sehnsucht erfüllt wäre, es sie nicht mehr gäbe! Denn mit dem Besitzen endet das Begehren! Der monologisierende Ich-Erzähler des Songs geht in seinem Apartment auf und ab und verzehrt sich nach seiner Nachbarin über ihm, die er sowohl hört als auch schmeckt (vgl. Z. 5 -12). Er weiß von ihr, aber sie offensichtlich nicht von ihm. Über das Weinen besteht eine unsichtbar-einseitige Verbindung zwischen den beiden: sie weint und er hört ihr Weinen, ja spürt und schmeckt es sogar (Z. 8 -12) und er muss selber weinen, so er nur an sie denkt, sie erwähnt, von ihr singt. So einseitig, weil von ihrer Seite her unbewusst diese Verbindung durch das Weinen auch ist, so existentiell-sinnlich ist sie doch gleichwohl, was sein Schmecken und Trinken ihrer Tränen durch die Ritzen des Fußbodens hindurch verdeutlicht! Die Verbindung über das Weinen zeigt sich zudem künstlerisch geschickt umgesetzt darin, dass das “Walk ’n’ Cry“ in Z. 12 sowohl sie als auch ihn meinen und beschreiben kann. Im Leiden, weil Weinen sind sie also immerhin vereint, wenn auch realiter mitnichten! Doch während sein Weinen angesichts der unerfüllten und unerfüllbaren Sehnsucht nach ihr deutlich motiviert ist, gibt es für ihres nur einen Anhaltspunkt: der ‚Alptraum’ (Z. 21), den er in ihrem (Tagebuch und) Apartment findet. Seine Sehnsucht jedenfalls geht so weit, dass er sich in ihren Raum, eben ihr Apartment, schleicht, dort ihr Tagebuch liest und eine Seite herausreißt und entwendet, bevor er flieht. Er imaginiert, was sie trägt, nämlich blaue Strümpfe (Z. 27), wodurch die Sehnsucht auch eine erotisch-fetischistische Dimension erhält. Und er hört mit dem Ohr an der Decke den melancholischsten Sound seines Lebens (Z. 30 ff.), was ihn wie zum Gebet niederknien und wiederum weinen lässt. Über diesem Leiden und Weinen phantasiert er eine surreale Veränderung seiner natürlichen Umgebung (vgl. Z. 36 f.: die sich bewegende Decke und die zu Schlangen mutierenden Möbel), der im realen Leben jenseits des Songs auch die Erfahrung des Drogenge- und missbrauchs durch Nick Cave zugrunde liegen dürfte. Die so begegnenden Schlangen können dabei in Analogie zur Sündenfallgeschichte in 1. Mose 3 als Symbol der Versuchung interpretiert werden. Spannenderweise bleibt jedoch offen, wer oder was nun wirklich diese Versuchung ist oder repräsentiert: das Objekt der sehnsuchtsvollen Begierde, die Sehnsucht oder Begierde selbst oder das Nachgeben ihr gegenüber? Fest steht hingegen das Resümee des Erzählers/Sängers und des Songs: Noch schlimmer als die nagende Sehnsucht, die begehrte Person zu besitzen, wäre es, sie wirklich zu besitzen! Denn das bedeutete das Ende der Sehnsucht. Von besonderer Relevanz und einer eingehenden Untersuchung wert ist zudem in diesem speziellen Falle auch der Songtitel selbst: “From Her to Eternity“ ist zunächst einmal ein Wortspiel mit dem Roman- und Filmtitel “From Here to Eternity“. Der gleichnamige Roman von James Jones wurde von Fred Zinnemann 1953 verfilmt. Dieser berühmte und mit Schauspielerstars wie unter anderem Burt Lancaster, Deborah Kerr, Frank Sinatra und Montgomery Clift ‚gespickte’ Film wurde 1954 mit 8 Oscars ausgezeichnet. Er behandelt einen ‚Kriegsstoff’ aus der Zeit des 2. Weltkrieges und fokussiert auf die amerikanische Armee auf Hawai bis zum Angriff auf Pearl Harbour. Dabei geht es schwerpunktmäßig um Irrungen und Wirrungen zwischen den Soldaten mit Streit und Missgunst und speziell um die heimliche, weil nach traditionellen Moralvorstellungen verbotene Liebe zwischen einem Sergeant und der Frau seines Vorgesetzten. Genau dieser letzte Punkt stellt in Verbindung mit dem Roman- und Filmtitel eine neben der Titelvariation interessante doppelte Analogie zu dem hier behandelten Nick Cave Song dar: Zum einen ist auch die Liebe oder Sehnsucht des Erzählers im Song zu seiner Angebeteten heimlich, weil sie selber gar nichts davon weiß oder sogar wissen darf, bis verboten, weil eine ‚Veröffentlichung’ in Form eines Eingeständnisses dieser Sehnsucht eben diese gleichzeitig beenden könnte. Zum anderen begegnet dieser Song ja auch selber in einem Film, nämlich in „Der Himmel über Berlin“ von Wim Wenders, der einen Auftritt von Nick Cave and The Bad Seeds mit diesem Song in den Film eingebaut hat. In diesem Film verliebt sich der für die Menschen unsichtbare Engel Damiel in eine Trapezkünstlerin. Um diese Liebe leben zu können, muss der Engel seine Unsichtbarkeit und Unsterblichkeit aufgeben, beides eine den Engeln recht eigentlich verbotene Option, die nur insgeheim gezogen werden kann. Gleichzeitig passt dieser hier besprochene Nick Cave Song besonders von seinem Titel her wunderbar zu den diversen Facetten des von Wim Wenders in seinem Film behandelten Sujets: es geht um eine „Sie“ als Grund der Sehnsucht und Auslöser von Liebe und um die Ewigkeit im Sinne von Unsterblichkeit, die für die Möglichkeit, diese Liebe zu leben, aufzugeben ist, aber vielleicht ja auch um eine durch die Liebe neu eröffnete Ewigkeit. Bei Nick Cave legt der Songtitel “From Her to Eternity“ folgendes nahe: er zeigt die Unendlichkeit im Sinne der Unstillbarkeit der Sehnsucht, des Verlangens. Zudem werden hier zwei der entscheidenden Pole, Topoi, Themata für den Kosmos des Songpoeten und Künstlers Nick Cave benannt und verknüpft: das „Sie“, das Objekt des Begehrens, und damit die Liebe zum einen sowie die „Ewigkeit“ als Synonym für das Religiöse, Spirituelle und damit letztlich Gott zum anderen. Die Verbindung von Liebe und Spiritualität mittels dieser Formulierung dieses Songtitels lässt damit abschließend folgende Konklusion zu, die sich so meine These am gesamten Werk von Nick Cave verifizieren lässt: Liebe unabhängig davon, ob sie heimlich, ‚verboten’, ungestillt oder erfüllt, glücklich und andauernd ist hat und eröffnet stets eine spirituelle Dimension. Denn wenn Spiritualität eine existentielle Dimension der conditio humana darstellt, dann potenziert sich dieser Umstand, diese Erfahrung noch dadurch, dass sich das Leben in der Lebensform der Liebe ‚verdichtet’! |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/57/ms1.htm
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