April 2009

Liebe Leserinnen und Leser,

in Abänderung unserer angekündigten Heftthematik "Communio", die wir auf das kommende Heft Anfang Juni 2009 verschoben haben, beschäftigt sich diese Ausgabe des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik mit den evangelischen Kirchbauprogrammen der letzten 150 Jahre und ist zugleich die erste umfassende Dokumentation dieser Programme im Internet.

Eines der ersten dieser Programme war das so genannte "Eisenacher Regulativ". In Meyers Großem Konversationslexikon von 1905 findet sich unter dem Stichwort "Regulativ" folgende Beschreibung: Regulativ (lat.), regelnde Anordnung, Verfügung, Reglement (z. B. die vielbesprochenen Raumer-Stiehlschen »Regulative« vom 1.–3. Okt. 1854 zur Verbesserung des Volksschulunterrichts in Preußen); insbes. Name derjenigen Prinzipien, die Anweisung zur richtigen (regelrechten) Behandlung eines Gegenstandes geben, daher bei Kant auch Bezeichnung für die Ideen der reinen Vernunft, sofern diese zwar für die Verknüpfung der Erfahrungstatsachen zu einem Ganzen eine Anweisung geben, aber nicht (wie die konstitutiven Kategorien des reinen Verstandes) erforderlich sind, um überhaupt Erfahrung zu machen.

Mitte des 19. Jahrhunderts scheinen sich Regulative zumindest in Preußen einer besonderen Beliebtheit erfreut haben. Daher kennen wir auch im Kirchenbau "Regulative", die somit "Anweisung zur richtigen (regelrechten) Behandlung eines Gegenstandes geben" - in diesem Falle des evangelischen Kirchenbaus. Bei diesem Eisenacher Regulativ ist es nicht geblieben, in kurzen Abständen wurden immer wieder neue Papiere verabschiedet.

Die Regulative, Leitlinien, Thesen, Programme, Ratschläge, Leitsätze, Richtlinien, Manifeste, Grundsätze und Erklärungen des Protestantismus zum Kirchenbau waren immer eines: relativ und damit auch relativ rasch überholt. Zu einem gutem Teil waren sie im Moment ihrer Formulierung schon nicht mehr state of the art, und das heißt, sowohl theologisch wie architektonisch veraltet. Das liegt vielleicht im Blick auf die Architektur in der Natur der Sache, die theologischen Grundsätze sollten sich aber eigentlich weniger schnell ändern. Das taten sie auch gar nicht, denn überraschender Weise spielte die Theologie mit Ausnahme des Wiesbadener Programms bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in den Kirchbauprogrammen kaum Rolle. Statt dessen ging es wohl eher um Kirchenpolitik. Wovon die Programme Auskunft geben ist der Versuch, der Evangelischen Kirche eine Art Corporate Identity zu geben. Wohin das führt, kann man am Beispiel des Historismus im 19. Jahrhundert gut studieren.

Eine Erkenntnis aus der Vorbereitung dieses Heftes war, dass die Beschäftigung mit Kirchbauprogrammen gar keine so strohtrockene Angelegenheit ist, als man zunächst denkt. Stellenweise ist es sogar recht amüsant, vor allem wenn es ins Realsatirische übergeht - was in den letzten Jahren häufiger vorgekommen ist.

Aber auch die Populärkultur beschäftigt sich mit dem Thema Kirchenbau. Mein persönlicher Lieblingssatz dazu findet sich in einer zeitgenössischen Comic-Serie. In der Folge "Der beste Missionar aller Zeiten" (Missionary Impossible) sagt Homer Simpson zum Thema Kirchenbau:

Ich gebe zu, ich weiß nicht viel von Gott. Aber hier haben wir ihm einen schönen Käfig gebaut.
Well, I may not know much about God, but I have to say we built a pretty nice cage for Him.

Ja, darum geht es wohl implizit: die Souveränität Gottes zu begrenzen, ihr eine (notwendig beschränkte) Form zu geben.

Unter VIEW finden Sie einen Text von Horst Schwebel, der 1991 auf dem Kongress "Kirche im Mittelpunkt" in Schwäbisch-Gmünd vorgetragen wurde und der die seinerzeitige Diskussion skizziert und bewertet. Andreas Mertin hat die verschiedenen Verlautbarungen zum Kirchenbau von 1851 bis 2008 aus den einschlägigen Quellen zusammengestellt und einleitend aus heutiger Sicht kommentiert. Danach folgen die Dokumentationen der Kirchbauprogramme von 1856 - Dresden, 1860 - Barmen, 1861 - Eisenach, 1876 - Leipzig/Berlin, 1891 - Berlin, 1898 - Eisenach, 1908 - Eisenach, 1928 - Magdeburg, 1931 - Dresden, 1951 - Rummelsberg, 1991 - Wolfenbüttel, 1996 - Magdeburg, 2002 - Leipzig, 2003 - Leipzig, 2008 - Dortmund. Zu beachten ist, dass nicht alle Programme den gleichen Status haben, einige auch nur Proklamationen sind. Alle aber erhaben Anspruch darauf, Bedeutsames zum Kirchenbau zu sagen.

Unter RE-VIEW gibt es eine Erinnerung an einen bisher nicht ausreichend bedachten Text von Hans-Eckehard Bahr zur Debatte, zwei Buchvorstellungen, eine Ausstellungsrezension sowie den Blick auf neue Kunstwerke von Madeleine Dietz von Andreas Mertin.

Unter POST finden Sie eine fortgesetzte Polemik von Andreas Mertin.


Mit herzlichen Grüßen

Andreas Mertin, Horst Schwebel und Karin Wendt