Richtlinien für evangelische Gestaltung

Kunst-Dienst Dresden 1931

1. Die Voraussetzung

Einfachheit, Wahrhaftigkeit und Bescheidenheit sind die Voraussetzung aller religiösen Gestaltung. Nicht allein zeitgemässe Kunstanschauungen, nicht nur zeitbedingte Wirtschaftsnot sondern vor allem die stets gültige evangelische Grundhaltung muss die Ablehnung aller Verschwendung in den Mitteln, allen Selbstbetruges im Hinblick auf die ernste, religiöse Situation und aller Selbstherrlichkeit der Gestalter und der Gemeinden zur selbstverständlichen Folge haben.

2. Der evangelische Kultbau

Auf Grund solcher Einstellung müssen die in letzter Zeit wieder häufig werdenden Monumentalbauten als abwegig betrachtet werden. Eine kommende Zeit wird diese sogenannten „Millionenobjekte", nicht höher einschätzen als die Kirchenbauten der Gründerzeit, von der wir doch alle glauben, dass sie innerlich überwunden sei. Dieser Aufwand an Mitteln, dieser Kirchenkomfort an gepolsterten Sitzen, temperiertem Taufwasser, Lichteffekten und dynamischen Baumassen lässt sich vor dem unbestechlichen religiösen Gewissen nicht mit künstlerischen, hygienischen oder ähnlichen Gesichtspunkten rechtfertigen.

Das Gotteshaus muss heute sowohl in seiner äusseren Erscheinung als auch in seiner räumlichen Wirkung von grösster Schlichtheit überzeugen. Es bedeutet eine Verkennung der religiösen Aufgabe, den Kirchbau in einen Wettstreit mit den profanen Monumentalbauten der Großstädte treten zu lassen.

Die Kultbaufrage ist mehr als jede andere Bauaufgabe in unserer Zeit eine Frage des Raumes. Alle Erneuerungsversuche werden vom Innern, vom Raum ausgehen. Es erscheint notwendig, zahlreichen Architekten, die heute oft ohne inneren Zwang vor die Aufgabe des Kultbaues gestellt werden, diese Tatsache mit aller Deutlichkeit zum Bewusstsein zu bringen. Nur die Verkennung dieser Tatsache bringt es mit sich, dass heute wieder so zahlreiche „Hochburgen" entstehen. Aus solchen Beweggründen wird heute den Kirchtürmen noch immer eine ungebührlich grosse Bedeutung beigemessen. Der Kirchturm hat in kleineren Ortschaften und auf dem Lande seine volle Berechtigung. In den Städten hat das Glockengeläut eine geringere Bedeutung; der Kirchturm wird infolgedessen leicht zu einem dekorativen Motiv. Jedenfalls kann doch daran erinnert werden, daß der Turm das Gotteshaus nicht ausmacht und daß ein Kultbau auch ohne den Turm seine Zweckbestimmung voll und ganz zum Ausdruck bringen kann. Selbst die Geschichte des Kirchenbaues kennt in dieser Richtung eindrucksvolle Beispiele. Im übrigen sollte jede Gemeinde ernstlich prüfen, ob sie in der Lage ist, in der heutigen Zeit die Kosten eines hohen Turmes, der meist einen nicht geringen Anteil der ganzen Bausumme beansprucht, zu verantworten. Es gibt in unserer Zeit nicht allzuviele Kirchenbauten, die mit den zeitgemässen Mitteln der Bautechnik errichtet worden sind und die als Beispiel eines neuen Bauwillens angesehen werden können. In den meisten Fällen kommt ein unheilvoller Kompromiss von oberflächlichem Modernismus, und historischen Erinnerungen zustande. Auf diese Weise werden Material und Konstruktion leicht zu lediglich dekorativer Wirkung mißbraucht. So kann man noch immer Wölbekonstruktionen begegnen, die zwar in Beton ausgeführt worden sind, die aber immer noch die statisch nicht zu begründende Form des Spitzbogens aufweisen. Noch immer täuschen Klinkerverblendungen und Rabitzgewölbe materialgerechte Baukonstruktionen vor.

3. Kanzel und Altar

Um die Stellung von Kanzel und Altar im Kultbau wird seit den Tagen der Reformation lebhaft gestritten. Man darf wohl sagen, daß zur Zeit das Übergewicht der Kanzel keineswegs zu rechtfertigen ist. Deshalb sollte auf die wenig glückliche Form des Schmalkaldischen Kanzelaltars, d.h. auf die Anordnung der Kanzel über dem Altar, von vornherein verzichtet werden. Ebenso wird die hochkirchliche Auffassung, den Altar auf einen Stufenberg zu entrücken, dem gläubigen Realismus unserer Zeit nicht gerecht. Während die Anordnung des Kanzelaltares die Predigt überschätzt, betont die hochkirchliche Anordnung einseitig die Liturgie. So wie der Gottesdienst Predigt und Feier als gleichwertig ansehen muß, so wird auch der architektonische Ausdruck dieses Prinzips ein Gleichgewicht von Kanzel und Altar sein müssen. Es ist durchaus denkbar, daß dieses Gleichgewicht den Verzicht einer streng auf Achse gestellten Anordnung des protestantischen Kultraumes und Kulthauses zur Folge hat. Doch eine solche Asymmetrie würde nicht nur der Form des Gottesdienstes, sondern auch der protestantischen Situation durchaus entsprechen. Man sollte nicht vergessen, daß — wie auch manche andere Überlieferung im Kirchenbau — die Bemühungen um die Symmetrieachse im Kultraum einer vielleicht nicht mehr zu rechtfertigenden Raum-Vorstellung des Katholizismus entsprechen. Weder der Kanzel noch dem Altar, noch irgend einem anderen Ort im protestantischen Gotteshaus kommt ein Heiligkeitscharakter zu. Der Altar ist „der Tisch des Herrn", die Kanzel der Ort der Verkündigung. Ebenso wie der Geistliche und die Gemeinde, stehen Kanzel und Altar im gleichen Dienst. Solche Deutung läßt es nicht zu, Kanzel und Altar der Gemeinde mit Hilfe von Form- und Lichtzauber gleichsam als Götzenbild gegenüberzustellen.

4. Taufstein und Tauftisch

Man muß heute zwischen dem Taufstein und dem Tauftisch deutlich unterscheiden. Der Taufstein steht unverrückbar im Raum und bildet so einen wichtigen religiösen und baulichen Teil des Ganzen. Form und Material müssen diesem Umstand Rechnung tragen. Hingegen erfordert die Beweglichkeit des Tauftisches keinen festbezeichneten Standort. Nach Bedarf kann er an die erforderliche Stelle gebracht werden. Material und Gestaltung müssen dieser leichten Beweglichkeit angepasst sein. Nur allzuoft werden diese beiden Funktionen des Taufsteines und des Tauftisches vom Gestalter verkannt.

5. Licht

Der protestantische Kirchenraum sei hell und klar. In dieser Beziehung spielen die natürliche und die künstliche Beleuchtung des Kultraumes eine bedeutende Rolle. Oft werden in ihrer Klarheit überzeugende Kirchenräume neuzeitlicher Architekten durch die gotisierenden Glasmalereien gegenwartsfremder Maler um ihre ganze Wirkung gebracht. Während die mittelalterliche Glastechnik zur Bewältigung grösserer Fensterflächen sich der Bleiverglasung bedienen musste und aus diesen technischen Gegebenheiten eine hochstehende Kunst entwickelte, bedeutet heutigentags die Beibehaltung dieser Methoden eine nicht ungefährliche Romantik. Die Glasindustrie hat gerade in der letzten Zeit eine grundlegende Veränderung ermöglicht, so daß wir heute in der Lage sind, große Fensterflächen fast sprossenlos zu verglasen. Selbst farbige Glasscheiben werden neuerdings in sehr großen Ausmassen hergestellt. Da wo es notwendig ist, kann die künstlerische Bearbeitung des Glases in der zeitgemässen Form des Aetzens und Schleifens vorgenommen werden. Diese neuen Verglasungs- und Bearbeitungsmethoden schließen schon von vornherein das mystische Halbdunkel aus, in das noch heute viele Architekten ihre Kirchenräume hüllen. Bei der Anlage der künstlichen Beleuchtung sollte kein anderer Gesichtspunkt massgebend sein als der, den Raum ausreichend zu erhellen. Da es doch notwendig ist, im Gesangbuch zu lesen, so ist dies eine Forderung, der mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln Rechnung getragen werden muss. Man vermeide alle Beleuchtungskörper nach Art der Kronleuchter; aber auch die jetzt häufigen Versuche, mit Hilfe raffinierter Effekte magische Wirkungen zu erzielen, überlasse man getrost den Kinotheatern und Tanzlokalen.

6. Orgel

Bekanntlich bestehen die sogenannten Orgelprospekte nur zum geringsten Teil aus tönenden Pfeifen und stellen somit stumme Attrappen dar, auf die man aus dekorativen Gründen nicht verzichten zu können glaubt. Diese aus der Barockzeit bis auf unsere Tage übernommenen Prospekte verbergen den eigentlichen, lebendigen Organismus der Orgel. Man hat nun vereinzelt den glücklichen Versuch gemacht, solche Orgeln ohne Prospekt sichtbar in freier Anordnung des ganzen Pfeifenwaldes aufzubauen, wobei sich sehr interessante Lösungen ergeben haben. Diese neue Art der Orgelaufstellung verdient schon deshalb grösste Beachtung, da der Verzicht auf einen Orgelprospekt ein nicht geringes Ersparnis bedeutet.

7. Bildende Kunst

Der neue Bauwille hat im Stadium der Selbstbesinnung und der Selbstbestimmung auf die Mitarbeit der Malerei und Plastik fast vollständig verzichtet. Auch die kirchliche Baukunst der letzten Jahre hat sich vorwiegend damit befassen müssen, den Kultbau und den Kultraum klar und sachlich von Grund auf neu zu entwickeln, ohne diese ersten tastenden Versuche durch Dekoration und Ornament gefährden zu wollen. Nun sind bereits übereilte Bestrebungen im Gange, auf organisatorischem Wege bildende Kunst und Baukunst zu verknüpfen und auf diese Weise einer langsamen Entwicklung vorzugreifen.

Hierzu muss gesagt werden, dass der vorläufige Verzicht auf Malerei und Plastik im Kultraum unserer Zeit nicht nur die genannten künstlerischen, sondern vor allem religiösen Beweggründe für sich hat. Weder die früher so viel beschäftigten Maler religiöser Motive, noch die expressionistischen Christusdarsteller werden berufen sein, in der sich langsam wieder ergebenden Zusammenarbeit von bildender Kunst und Baukunst eine verspätete Rolle zu spielen. Nur einer neuen Generation von Gestaltern, die sich zu einer einfachen, wahrhaftigen und selbstlosen Handwerklichkeit und Gesinnung durchzuringen strebt, wird es möglich werden, den inneren Kontakt zum Bauwillen der Gegenwart und zum religiösen Zukunftswillen zu finden. Nur unter diesen Voraussetzungen wird sich eine fruchtbare Zusammenarbeit ergeben können. Diese neue Begegnung des Architekten mit dem Maler setzt die grösste Verantwortung voraus. Umsomehr muss vor sogenannten „religiösen Malern", vor der noch immer andauernden Inflation der Christusdarstellungen, vor der romantischen Farbenglut der Glasmalerei und vor dem oft verantwortungslosen Umfang dekorativer Wandgestaltung gewarnt werden. Man sollte es durchaus als ein positives religiöses Bekenntnis werten, wenn ein Maler heute davor zurückscheut, Christus darzustellen!

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/58/prog09.htm
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