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Privates Totengedenken im InternetCarmen Berger-Zell Gedenkseiten für Verstorbene sind im Internet keine Seltenheit. Vor allem Eltern, die ihr Kind beerdigen mussten, legen für ihre Tochter oder ihren Sohn sehr individuell gestaltete Webseiten an. [1] Oft ist der Hintergrund dunkel gehalten, nicht selten einem Sternenhimmel nachempfunden, Musik erklingt, Engel und Kerzen sind zu sehen, Fotografien und Geschichten zeugen von dem Leben und Sterben des verstorbenen Kindes und den Gefühlen und Gedanken der verwaisten Eltern, Geschwister und Freunde. Engels-, Schmetterlings- oder Sternenkinder werden sie genannt.[2] Für Biker gibt es einen virtuellen Friedhof und Gedenkstätte mit Namen ‚Hells Heaven’.[3] Internetseiten für Verwitwete verlinken auf Gedenkseiten[4] oder bieten ihren Mitgliedern den Service einer eigenen Homepage an, die sie wahlweise nur für Mitglieder der Community oder für alle zur Ansicht freigeben können.[5] Auf einer anderen Webseite sind unzählige Fotografien von Straßenkreuzen zu sehen.[6] Kommerzielle und nichtkommerzielle Betreiber bieten den Service zur Erstellung von Gedenkseiten oder Verlinkung an.[7] Die zahlreichen Gedenkseiten und Serviceangebote zeigen, dass Totengedenken im Internet heute schon Teil unserer Trauerkultur ist. In erster Linie nutzen Hinterbliebene diese Form des Gedächtnisses, wenn die Trauer sehr groß ist, wie nach dem Tod eines Kindes, nach Unfall, Suizid oder dem Verlust des Lebenspartners. Dass Menschen unabhängig vom Ort der Bestattung, ihren Verstorbenen gedenken, ist keineswegs neu. Private Totenerinnerungszeichen im öffentlichen Raum haben in Deutschland, sowohl im Protestantismus als auch im Katholizismus, eine lange Tradition. Neu ist lediglich, dass das Totengedenken auch im Internet stattfindet. Totenerinnerungszeichen im öffentlichen RaumZwischen dem 16. und dem ausgehenden 18. Jahrhundert waren im protestantischen Bürgertum in Deutschland Epitaphien, Totenschilde und Leichenpredigten die klassischen Formen des Totengedenkens.[8] Im Katholizismus sind seit dem 19. Jahrhundert bis heute Totenzettel bzw. Sterbebilder eine weit verbreitete Form der Totenerinnerung. Totenschilde und Epitaphien wurden meist in Kirchen angebracht, blieben aber im Privatbesitz der Hinterbliebenen. Sie dienten der Erinnerung, waren aber nur indirekt mit dem öffentlichen gottesdienstlichen Gedenken verbunden. Die Lebenden feierten ihre Gottesdienste inmitten von Totenerinnerungszeichen, damit wollten sie zum Ausdruck bringen, dass die Verstorbenen weiterhin Teil der Gesellschaft sind und mit ihrem Tod nicht dem Vergessen anheim gefallen waren. [9] Denn der physische Tod galt nicht als das wirkliche Ende des Lebens. Eine gängige und weitverbreitete Vorstellung bestand darin, dass die Menschen annahmen, die Toten schliefen lediglich.[10] Das Leben nach dem Tod wurde als ein Warten im Frieden und in Ruhe verstanden auf das wirkliche Ende des Lebens, die Auferstehung. „Die Ruhe ist das zugleich älteste, volkstümlichste und dauerhafteste Bild des Jenseits.“[11] Die Erinnerungszeichen ermöglichten nicht nur den Familien ihren Verstorbenen zu gedenken, sondern auch der Öffentlichkeit Anteil zu nehmen und für die Hinterbliebenen und für die Toten zu beten. Darüber hinaus dienten sie stellvertretend zum Gedenken an andere bzw. alle Toten. Gestaltung der klassischen protestantischen ErinnerungszeichenDie Gestaltung der Erinnerungszeichen und die Ziele, die damit verbunden waren, haben sich im Laufe der Zeit verändert. Totenschilde entstanden, ebenso wie Epitaphien, im 14. Jahrhundert im Bürgertum der mittelalterlichen Stadt, die keine Grabmale für ihre Verstorbenen hatten. Diese waren dem Adel und dem Klerus vorbehalten. Totenschilde waren dem Schild eines Ritters nachempfunden, wodurch man die Ehrbarkeit des Verstorbenen zum Ausdruck bringen wollte. Auf den Totenschilden aus dem 15. Jahrhundert wurden lediglich die Namen und Todestage der Verstorbenen verewigt aber noch keine Altersangaben. Erst ab dem 16. Jahrhundert wurden das Alter, manchmal auch die Funktionen wie „Alter Bürgermeister“ oder Berufsangaben wie „Arzt“ und Porträtmedaillons der Verstorbenen eingearbeitet.[12] Großer Beliebtheit erfreuten sich Epitaphien, weil sie im Gegensatz zu Totenschilden einen größeren Spielraum für die individuelle Gestaltung des Erinnerungszeichens ermöglichten. An ihnen lässt sich deutlich erkennen, wie sich der Glaube und die Stellung des Einzelnen innerhalb der Gesellschaft verändert haben. Auf den vorreformatorischen Epitaphien ist der Verstorbene Teil des religiösen Bildes. Meist kniet er oder die ganze Familie in Gebetshaltung zu Füßen Christi oder vor Heiligen. Damit sollte die Notwenigkeit der Fürbitte für den Verstorbenen und das Bedürfnis nach Schutz durch die Heiligen zum Ausdruck gebracht werden. „Im Gefolge der Reformation entfielen zwar die theologischen Voraussetzungen für die Zuwendungen an die Verstorbenen durch Messopfer und Fürbitte, die für deren Seelenheil nun nicht mehr erforderlich waren und zum Wegfall der liturgischen Memoria durch Seelenmessen und Begehung der Jahrestage führten. Das gestalthafte Gedenken für herausragende Verstorbene und die Aufrechterhaltung der privaten und im Kirchenraum wiederum öffentlich gemachten Fürbitte blieben jedoch erhalten.“[13] Im Zentrum des Epitaphs stand weiterhin das religiöse Bild. Die Porträts der Verstorbenen waren nun allerdings nicht mehr Teil des religiösen Bildes, hier erfolgte eine Trennung. Das Leben der Verstorbenen wurde kunstvoll mit Wort und Bild in ein theologisches Programm eingewoben. Bei der religiösen Motivwahl entwickelte sich eine große Vielfalt, die oft mit den Wünschen, dem Schicksal, den Eigenschaften der Verstorbenen oder mit dem Kirchenjahr eine Verbindung hatte.[14] Ein beliebtes Bildmotiv der frühen lutherischen Bildtradition war die Auferweckung des Lazarus, die den sepulkralen Aspekt in den Mittelpunkt rückte. In seiner Vorrede zu den Begräbnisliedern von 1542 schreibt Martin Luther, dass wir uns nicht über den Tod betrüben sollen, da die Toten lediglich schliefen. Wir sollten stattdessen alles dafür tun, damit der Glaube an die Auferstehung der Toten in uns wächst und uns tröstet. Erinnerungszeichen an Verstorbene hatten für ihn eine didaktische und eine seelsorgliche Funktion. Sie waren für Luther eine Möglichkeit, den Glauben an die Auferstehung der Toten zu stärken und gleichzeitig die Bibelkenntnisse zu vertiefen. Grabsteine und Epitaphien sollten darum mit Bibelsprüchen verziert werden und nicht mit weltlichen Symbolen.[15] Luther selber hat für das Epitaph von Friedrich den Weisen (gest. 1525) und den Kurfürsten Johann den Beständigen (gest. 1532) Verse geschrieben, in denen er die Verdienste für die Reformation und den rechten Glauben der beiden Männer in Reimform kunstvoll hervorhebt.[16] Ziel der protestantischen Epitaphien war es, den Betrachter durch lehrhafte Veranschaulichung lutherischer Theologie zu trösten, zu ermahnen und im Glauben zu stärken. Das Epitaph „legt Bekenntnis zur Auferstehung Christi und die daran gebundene Gnade ab und ist zugleich ruhmvolles Totengedächtnis für die Nachwelt und soziale Repräsentation des Verstorbenen im Kirchraum.“[17] Im späten 17. und 18. Jahrhundert tritt dann fast ausschließlich die Person des Verstorbenen in den Mittelpunkt des Epitaphs. „Das biblische Bild tritt zugunsten der personenbezogenen Darstellung in den Hintergrund oder fällt gänzlich aus.“[18] Das Leben des Verstorbenen wird nicht mehr in Wort und Bild mit biblischen Motiven verbunden, der christlich-religiöse Aspekt ist nicht mehr von Bedeutung, stattdessen werden Emotionalität, Beziehungen, Trauer und Lobpreis auf die Gelehrsamkeit und Bildung des Verstorbenen dargestellt. Das Individuum ist den Mittelpunkt des Gedenkens gerückt und dies gilt bis auf den heutigen Tag. „Nicht mehr die Aufforderung zur Fürbitte, nicht mehr die Ermahnung und Trost durch den Verweis auf die Rechtfertigung durch Christus, sondern die Verbreitung des Rufes von den Taten des Verstorbenen erfolgt in antiker Manier durch das Epitaph.“[19] Totenzettel - Zeugnisse katholischen TotengedenkensAnders als im Protestantismus, in dem das ehrenvolle Gedächtnis der Verstorbenen bedeutsam ist, wird bis heute im Katholizismus der Armen-Seelen-Kult[20] gepflegt. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ist es in katholischen Gegenden üblich, für Verstorbene ein Sterbebild zu gestalten. Dieses wird während der Beerdigung den Anwesenden mitgegeben und mit den Danksagungskarten für die erwiesene Anteilnahme verschickt. Totenzettel bzw. Sterbebilder sind zwei- oder vierseitige Einlegeblätter für Gebetsbücher. Neben der Aufforderung für den Verstorbenen oder die Verstorbene zu beten, enthalten sie Bibelworte, Sprüche, religiöse Bildmotive, häufig auch kurze und sehr positive Biografien, Porträts und einige Angaben zur Person. Zweck der Sterbebilder ist die Erinnerung und der Aufruf für die Seele des Verstorbenen zu beten. Die Totenzettel wurden in der Zeit, als jeder noch sein eigenes Gebetsbuch hatte darin aufbewahrt und zur Messe mitgenommen, um dort für sie zu beten und sich an sie zu erinnern. Seitdem es in vielen Gemeinden kircheneigene Gebetsbücher gibt, werden sie zu Hause aufbewahrt. Ähnlich wie bei den protestantischen Leichenpredigten entsprechen die biografischen Inhalte nicht immer ganz der Realität. Oft werden die Verstorbenen positiver dargestellt als sie es tatsächlich waren, negative Eigenschaften werden nicht erwähnt, ganz nach dem Motto: über Tote redet man nicht schlecht. Die plattdeutsche Redewendung „Hei lüch as ein Doenzettel“, „Er lügt wie ein Totenzettel“, macht deutlich, wie der Inhalt der Totenzettel von vielen beurteilt wird.[21] Auch die gedruckten protestantischen Leichenpredigten waren ab dem 17. Jahrhundert oft überschwängliche Lobesreden auf die Verstorbenen. Dadurch erhielten sie im Volksmund den Beinamen „Lügenpredigt“. Ab dem 18. Jahrhundert traten die privaten Erinnerungszeichen an Verstorbene aus öffentlichen Räumen zurück. Trauer und Totengedenken wurden, ebenso wie das Sterben und der Tod überwiegend zur Privatsache. Totengedenken im InternetVergleicht man nun die klassischen Erinnerungszeichen mit den Gedenkseiten im Internet, gibt es einige Gemeinsamkeiten. Im Wesentlichen sind es drei Aspekte, die Hinterbliebene veranlassen, Erinnerungszeichen für ihre Verstorbenen anzulegen. Zum einen kämpfen sie gegen das Vergessen. Der Tod ihres Kindes, Familienangehörigen oder Freundes soll nicht umsonst gewesen sein. Eine Mutter, deren Tochter durch Unfalltod starb, schreibt auf ihrer Gedenkseite: „In Annikas Gedenken dort an der Unfallstelle und bei ihren Gedenkseiten lebt inzwischen für uns auch ein Gedanke weiter, den sich hoffentlich viele Jugendliche zu Herzen nehmen werden. Und wenn es nur ein Leben rettet, weil wegen dieses schrecklichen Ereignisses, jemand ein einziges Mal besonnener gefahren ist und damit Schlimmeres verhindert hat, dann hat es sich ja schon gelohnt. Es freut uns, wenn wildfremde Menschen, auch junge Burschen uns per Mail schreiben, dass sie uns hoch und heilig versprechen, dass sie ihren Fahrstil überdacht haben und langsamer fahren werden, damit ihre Eltern nicht genauso leiden müssen, wie wir, oder uns andere junge Menschen schreiben, dass sie besser drauf achten mit wem sie mitfahren und sich dadurch jetzt auch trauen zu sagen, dass derjenige langsamer fahren soll, dass gibt uns dann die Kraft Annikas Gedenkseiten und Unfallort so weiterzuführen und zu pflegen.“[22] Wie die klassischen Erinnerungszeichen werden auch Gedenkseiten angelegt, weil etwas bleiben soll, was die Verstorbenen unvergesslich macht. Sie sind Erinnerungszeichen an Menschen, die zwar körperlich nicht mehr da sind aber doch weiterhin für die Hinterbliebenen Teil ihres Lebens und Teil unserer Gesellschaft sind. Gedenkseiten bewahren die Lebens- und Sterbegeschichten der Toten. Zum anderen suchen und bekommen Hinterbliebene im Internet die Anteilnahme der Öffentlichkeit, die sie früher in den Kirchengebäuden bekamen.[23] Auf einigen Gedenkseiten werden die Besucher eingeladen, virtuelle Kerzen für die Verstorbene oder den Verstorbenen anzuzünden. Auf der Gedenkseite für Tony Jordan, der am 4. Oktober 2005 im Alter von neun Jahren starb, waren innerhalb von zwei Jahren rund 48000 Besucher. Im Gästebuch stehen 1169 Einträge, die in der Zeit vom 10.12.2007 bis 9.05 2009 geschrieben wurden. Die Webseite www.streetcrosses.de, die sich zum Ziel gesetzt hat, Einblicke in die Schicksale derer zu geben, die sich hinter den Straßenkreuzen verbergen, wurde von 2005 bis 2009 über 216.000-mal besucht. Der dritte Aspekt, der für Hinterbliebene eine Rolle spielt, ist die Kontaktaufnahme zu den Verstorbenen. Die Gedenkseite ermöglicht ihnen, ihre Gedanken und Gefühle an sie zu richten. So schreibt eine Mutter an ihre tote Tochter: „All diese Zeit, die ich geweint Erinnerungen sind Ammen der Hoffnung[25]Private Gedenkseiten für Verstorbene im Internet sind ein Medium gegen die Hoffnungslosigkeit, die entstehen kann, wenn ein Mensch stirbt. Sie tragen mit dazu bei, die Erinnerungen an den Menschen wach zu halten, der zu dem Leben der Hinterbliebenen, auch über den Tod hinaus, dazu gehört. In den Erinnerungen lebt er oder sie weiter. „Erinnerung ist ein Grundwort der jüdisch-christlichen Tradition“, schreibt Fulbert Steffensky: „Ich kann mir nicht nur keine Religion vorstellen, die nicht in ihrem Zentrum Erinnerung daran ist, was Menschen angetan und vorenthalten wurde […] ich kann mir auch keine Humanität vorstellen, die nicht Gedächtnis ist.“[26] Gedenkseiten für Verstorbene sind Ammen, die Hinterbliebene mit Hoffnung nähren. Hoffnung darauf, dass mit dem Tod nicht alles aus und vorbei ist, sondern dass etwas bleibt. Dass es ein Leben nach dem Tod gibt, sei es in den Erinnerungen, sei es im Herzen der Hinterbliebenen oder im Glauben daran, dass wir nach unserem Tod zu Gott heimkehren und am Jüngsten Tag von den Toten auferweckt werden. Gedenkseiten ermöglichen die persönliche Erinnerung und das öffentliche Gedenken.[27] Dadurch, dass Hinterbliebene ihre persönlichen Erinnerungen mit der Öffentlichkeit teilen, nimmt diese emotional Anteil, wodurch bei einigen das Bedürfnis geweckt wird, den Hinterbliebenen ihr Mitgefühl mitzuteilen und ihrerseits dem Verstorbenen zu gedenken. Wenn Menschen Nachrichten auf einer Gedenkseite hinterlassen oder virtuell eine Kerze entzünden, ist das durchaus vergleichbar mit dem jüdischen Brauch, des Kieselsteinablegens auf Grabsteinen.[28] Oft dienen diese Kieselsteine dazu, kleine Zettel zu beschweren, auf denen Mitteilungen an die Verstorbenen geschrieben wurden, was damit zusammen hängt, dass der Israelit sich kein Leben ohne Gemeinschaft vorstellen kann. „Aber auch der Tote ist offenbar darauf angewiesen, dass es Lebende gibt, die sich um ihn kümmern, ihm also eine gewisse Gemeinschaft bewahren. Kommt diese Gemeinschaft zu einem Ende, so bedeutet das sein völliges Zunichtewerden: er wird, als sei er nie gewesen (Sir 44,9) Die Erinnerung sichert dem Toten eine gewisse Anwesenheit unter den Lebenden.“[29] Anmerkungen
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/59/cbz1.htm |