Zeichenexkursion

Giuseppe Vasi, Rom-Panorama, 1765 (Detail)

Rom sehen, zeichnen und verstehen

Henner Herrmanns

Zeichnen ermöglicht Sehen und Verstehen. Erst die Verarbeitung der Sinneseindrücke im Gehirn macht aus Sehen Erkennen. Will man die reliefierten, barocken Kirchenfassaden in Rom verstehen, bietet sich die Skizze zur Erschließung und Analyse an. In Bildern lässt sich schneller denken als in Worten.

Eine Gruppe von Masterstudenten/innen unter der Leitung von Prof. Henner Herrmanns besuchte Ende Mai 2009 die Tiber-Metropole mit dem Ziel die Architektur des römischen Barocks hinsichtlich ihrer Elemente, ihres Reliefs und ihrer Proportionen mit Hilfe des Zeichenstiftes zu begreifen.

Profilierte, zweigeschossige Fronten bilden das Grundschema der römischen Barockkirchen. Die Erdgeschosszone der Kirchenfassade entspricht der Breite von Mittel- und Seitenschiffen, das obere Geschoss entspricht der Höhe des Mittelschiffs und wird von einem flachen Giebel bekrönt. Verbunden werden die unterschiedlich breiten Geschosse bilateral mittels Voluten. Horizontal sind die barocken Fassaden gegliedert durch stark profilierte, verkröpfte Gesimse und vertikal durch Pilaster sowie Halb- und Dreiviertelsäulen, die sich verdoppeln. Mitunter findet man kolossale Säulen bzw. Pilaster. Das Hauptportal in der Symmetrieachse, flankiert von Säulen oder Pilastern ist zusätzlich durch Treppen und Giebeln betont. Voluten, Kartuschen und Girlanden unterstützen den Eindruck der Bewegung und erzeugen die Plastizität solcher Fassaden.

Bei dieser Kirche von Francesco Borromini handelt es sich um das gleiche System der Fassade wie bei dem zuvor beschriebenen, von Giacomo della Porta begonnenen und von Carlo Maderno weitergeführten Kirchenbau, jedoch gesteigert durch die Kurvierung und die starke Reliefierung. Das Konkave und Konvexe der dreiachsigen Eingangswand mit den vielfältigen Architekturelementen fügt sich zu einem plastischen Gesamtkunstwerk, die den Geist des Barock verdeutlicht: Kraft und Fülle, ein Feuerwerk der Formen.

Die Wasserfontänen der Springbrunnen in der Barockarena der Piazza Navona tragen das Element der Bewegung hinüber zur Kirchenfassade von Borromini, der Carlo Rainaldi als Architekt abgelöst hat. Wie in der Oper die Handlung von der Musik emotional subventioniert wird, so verstärkt die Wasserfontäne virtuos die Architekturgestalt.

Die von einem Tympanon bekrönte Kirchenpforte ist von Gian Lorenzo Bernini in eine größere gleichgestaltete Straßenfront eingefügt, aus der eine halbkreisförmige, von zwei Säulen gestützte Eingangsüberdachung hervortritt.

Ein weiteres barockes Kleinod ist Borrominis Universitätskapelle im Palazzo della Sapienza mit der eigenartig exaltierten Kuppel.

Die von Pietro da Cortona gestaltete teils vor-, teils zurückschwingende Barock-Fassade einer Renaissancekirche mit dem halbkreisförmigen Vorbau überzeugt heute noch mit ihrer städtebaulichen, architektonischen und plastischen Gestaltung als Gesamtkunstwerk.

Durch Portikusfassaden werden raumhaltige Eingangssituationen erzeugt wie bei dieser Barockfassade von Ferdinando Fuga, die der frühchristlichen Basilika vorgeblendet wurde.

Den zeichnenden angehenden Architekten war es ein Vergnügen, den Theaterdonner und malerischen Pomp der barocken Kirchenfassaden mit Hilfe von Bleistift und Papier zu erfassen und manch einem wurde dabei noch einmal bewusst, wie großartig Architektur und der Beruf des Architekten sein kann.

© aller Skizzen von Prof. Henner Herrmanns

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/60/hh4.htm
© Henner Herrmanns, 2009