Bild und Klang im sakralen Raum

Harry Lehmann

Es gibt künstlerische Projekte, die sind philosophisch interessant, weil sie eine ganze Kaskade von Fragen auslösen. So erging es mir, als mir die Künstlerin Astried Rieder erzählte, dass sie in der Salzburger Kollegienkirche ihr Bild SAR mit Helmut Lachenmanns drittem Streichquartett GRIDO zu einer Klanginstallation vereinen wolle. Wird dieses Bild allein schon deswegen zum Altarbild, indem es ein religiöses Motiv abbildet? Was passiert mit jenem Stück weltlicher Neuer Musik, wenn es in einer Kirche erklingt? Transzendiert sich zeitgenössische Kunst allein dadurch, dass sie in ein Gotteshaus hineingetragen wird; oder wird damit eher die Kirche umfunktioniert – in einen multifunktionalen Konzertsaal mit Galerie?

Nun sehen wir – ein Engel schwebt über unseren Köpfen. Matt zeichnet sich sein grauer Schattenriss vor dem weiß leuchtenden Hintergrund ab. Dem ersten Anschein nach lassen sich auf dem überhellen Bild keine Konturen unterscheiden. Es wirkt wie ein quadratisches Fenster im Kirchenschiff, durch das ein weißes Licht zu uns dringt. Doch sobald man seinen Blick in dieses weiße Quadrat versenkt, lüftet sich sein Schleier. Zunächst erkennt man die Diagonale, welche das Bild in zwei Hälften zerteilt: Von hier aus gesehen, ein rechtes unteres Bilddreieck mit dem schattenhaften Engel, und ein linkes oberes Bilddreieck mit jenem seltsamen, grünlich schimmernden drei Buchstaben S-A-R.

Der Engel hält mit seinem linken Arm einen Stab, hinter ihm spannt sich ein Flügel auf. Seine ganze graue Schattengestalt wird mit einem feinen weißen Muster überzogen, als sei er mit weißen Daunenfedern bedeckt. Doch sichtbar ist er nur im unteren Bildausschnitt. Seine Gestalt wird von der Bilddiagonalen angeschnitten: sein halber Kopf, eine Schulter, ein Arm verschwinden im titanweißen Buchstabenfeld. SAR ist eine Abkürzung für »scoop and run«, ein Ausruf unter medizinischen Rettungskräften, welche einen zu Tode verunglückten Menschen finden: man denke an ein Zugunglück, einen Verkehrsunfall, einen Terroranschlag. In einer solch lebensbedrohlichen Situation gibt es nur eine Hoffnung, den im Sterben Liegenden zu retten: Man muss ihn so schnell als möglich in den Schockraum eines Traumazentrums transportieren, in die weiß gekachelten Verliese, in denen die Toten zum Leben erweckt werden oder dahinsterben. Scoop and Run – einsammeln und fortbringen, lautet die Devise – wenn man schon keine Zeit mehr dafür hat, die Schwerverletzten vor Ort zu versorgen, wenn man statt auf die Erste Hilfe sofort auf die Letzte verbleibende Hilfe setzen muss.

In diesem Augenblick, wenn im Diesseits der Ruf SAR ertönt, erscheint der Erzengel Michael im Bilde. Der Schutzpatron aller Soldaten, Kranken, Händler und Seeleute überschreitet die quer durchs Bild verlaufende Grenze. Sobald er sein Reich verlässt und in unsere Welt der Unfälle und Katastrophen hinübergeht – wird er unsichtbar. Seit eh und je war das Sichtbarmachen des Unsichtbaren das große Thema aller vergangenen religiösen Kunst. Was an dem Bild hier dazukommt, was seine Modernität ausmacht, ist, dass auch der Zweifel an der Präsenz dieses Schutzengels mitgemalt wird. Im meditativen Licht der Kirche erkennt man schemenhaft seine Gestalt und sieht zugleich, dass er im selben Moment, wo er in unser Leben eintaucht und uns zur Hilfe eilt – verschwindet. Kann ein Bild, das derart den Unglauben nährt, ein religiöses Bild sein? Taugt diese weiße Ikone zum Altarbild, als das sie hier wie zur Probe ausgestellt wird?

Diese Frage stellt sich umso mehr, wenn man bedenkt, in welche Klangwelt dieser Erzengel hineinschweben wird. Helmut Lachenmanns Musik bringt nicht das religiöse Selbstverständnis eines Johann Sebastian Bach mit, sondern sie entsprang vor etwa vierzig Jahren einem revolutionären ästhetischen Programm: eine radikale Gesellschaftskritik im Medium der Kunst. Viele der Intellektuellen und Künstler gingen damals davon aus, dass nach der Barbarei zweier Weltkriege, des Holocausts und der Gulags allein ein tiefer Eingriff in die Bewusstseinslage der Menschheit noch Hoffnung birgt, was auch die Art und Weise betrifft, die Welt wahrzunehmen. Die Kunst schien das soziale Unheil eher zu affirmieren als zu kritisieren, wenn sie die tradierten Schemata der ästhetischen Erfahrung nur bediente.

In diesem kulturellen Kontext entstand Lachenmanns neue Musik. Die große Wahrnehmungsschablone, mit der die Musik unsere Erfahrungen in soziale Formen gießt, hieß für ihn ›Tonalität‹. Gemeint ist damit das Grundgerüst aller traditionellen Musik mit ihrer Rhythmik, Harmonik und ihrem ganzen Klangapparat. Die Musik müsse, so sein Gedanke, zuerst einmal den ganzen »ästhetischen Apparat« zerschlagen, der uns die Welt falsch hören lässt. Eine solche Zertrümmerung der tonalen Gerüste lässt sich am eindrucksvollsten bewerkstelligen, wenn sie an so altehrwürdigen Instrumenten wie einer Violine, einer Bratsche und einem Cello, und in einer so konventionellen Gattung wie dem Streichquartett vollzogen wird. An den Instrumenten der Hochkultur wird am offensichtlichsten, dass man und wie man mit ihr bricht. Dem Komponisten geht es vor allem darum, die empirische Klangerfahrung mit seiner sogenannten Konkreten Instrumentalmusik zu retten. Zu hören sind deswegen vor allem Klänge, die an konkrete akustische Naturereignisse erinnern – an ein Pfeifen, Kratzen, Fiepen, Knarren und Klopfen – und keine harmonisch und rhythmisch geordneten Streicherklänge. Um solche nichttonalen Geräusch-Klänge erzeugen zu können, müssen auch die Instrumente zweckentfremdet verwendet werden: man klopft mit dem Bogen auf das Holz vom Klangkörper, kratzt auf den Saiten oder wischt über sie hinweg. Alles ist erlaubt, bis auf eines: der reine, unverfremdete, ungebrochene, musikalische Klang.

Was hört man nun, wenn eine solche ›negative‹ Musik erklingt? Der Einzelton erzeugt keine Erwartung mehr auf den folgenden Ton, kein harmonisches Gerüst hält die benachbarten musikalischen Ereignisse zusammen, kein durchgängiger Rhythmus gliedert mehr die Zeit und lässt den Hörer nach einem Schlag sogleich den nächsten erwarten. Stattdessen stehen die musikalischen Ereignisse formal unverbunden nebeneinander und erschaffen sich, sozusagen ex nihilo, in jedem Augenblick neu aus dem Nichts. So wie man auch die Gestalt des Engels nur erblickt, wenn man aufmerksam das Bild betrachtet, so nimmt man auch die musikalischen Gestalten erst wahr, wenn man mit angespanntem Hörsinn das weiße Rauschen dieser Musik zu differenzieren versucht.

Dieser Idee einer Klangerfahrung jenseits des tonalen Systems folgt auch jenes Streichquartett, das den Namen GRIDO trägt, was auf italienisch soviel wie »Der Schrei« heißt. Wie hört man diesen Schrei, wenn er in einer Kirche erklingt? Wie dringt er an unser Ohr, wenn das Auge an jenem Bild haftet, in dem ein Engel die Grenze zwischen Heil und Unheil durchkreuzt? Welche imaginäre Geschichte entspinnt sich zwischen dem Bild und der Musik, wenn die beiden ästhetischen Universen von SAR und GRIDO einander durchdringen?

GRIDO ist ein Quartett von etwa 25 Minuten Länge. Es setzt in extrem hoher Lage mit Flautato-Klängen ein, bei denen die Saiten der Streichinstrumente so nah am Griffbrett gespielt werden, dass sie metallisch wie Flöten klingen. Anstelle von Melodien nimmt man jetzt durchgängige Tonlinien wahr, die sich entweder schnurgrade von den tiefsten bis in die höchsten Tonlagen spannen oder in einer Zickzacklinie von den obersten Hörgrenzen bis zu den untersten Hörschwellen herabzittern. Versprengte Einzelklänge fallen wie Sternschnuppen in den aufgespannten akustischen Raum. Hin und wieder verdichten sich die geräuschhaften Ereigniswolken zu einem dichten Klangteppich, den nur noch selten einzelne Geräusche durchdringen. Schließlich verschmilzt alles in einem einzigen harmonischen Spektralklang. In einem solchen Wechsel von musikalischen Linien und Flächen zerrinnen die ersten Minuten des Quartetts.

Insgesamt nähert sich Lachenmanns Musik damit stark der bildenden Kunst an. In ihr finden sich alle Grundformen einer imaginären musikalischen Geometrie: Ton-Punkte, Klang-Linien und Geräusch-Flächen. Einzelne musikalische Gestalten erscheinen in der Stille wie Bleistift-Krakel auf einem weißen Blatt Papier. Erst vor dem Hintergrund dieser neuen Klangerfahrungen lassen sich dann Erinnerungsspuren aus der musikalischen Tradition wiederfinden: ein Melodiebogen aus drei, vier Noten erklingt, ein rhythmisches Bruchstück oder ein harmonischer Klang steht plötzlich, wie von allem Ballast der Geschichte gereinigt, im Raum. Für den Hörer gewinnt diese Geräuschmusik einen graphischen Charakter. Der Verzicht auf Harmonik entfärbt die Musik, so dass sie – wie eine Radierung in Grautönen – zwischen Schwarz und Weiß changiert. Man hört, je länger man hinhört, die Schraffur heraus, mit der die Geräusche vom Komponisten geformt wurden. Die spürbare Verwandtschaft zwischen Lachenmanns Musik und Rieders Malerei kommt nicht zuletzt daher, dass auch jenes Bild mit dem angeschnittenen Engel in einer Hell-Dunkel-Technik ausgeführt wurde, nämlich als Grisaille-Malerei.

Nach etwa zehn Minuten entledigt sich die Musik jedes Klanges und steigert sich zu einem einzigen, furchterregenden Geräusch. Die Geigenbögen kratzen gepresst über die Saiten – so muss es klingen, wenn sich die Höllentore öffnen. Ein Blick auf die weiße Ikone zeigt, was die Stunde geschlagen hat: SAR – Scoop and Run; ein Augenblick, in dem ein Mensch mit dem Tode ringt. Alles Leben verlischt, wenn drei, vier Minuten später die Streichinstrumente nur noch einzelne Laute von sich geben, bis in einer Generalpause jedes Geräusch in einer Totenstille erstirbt.

Doch dieses komponierte Ende ist nicht schon das Ende dieser Musik. So wie es im Bild eine zweite Bildhälfte gibt, so gibt es hier einen zweiten Teil des Quartetts, der nach dieser Pause erklingt. Im Vergleich zum ersten Teil gewinnen die harmonischen Klangflächen jetzt eine größere Präsenz. Aus den diffusen Geräuschen bilden sich stehende Interferenzen und vibrieren im Kirchenschiff. Der assoziative Blick zum Bild zeigt, wie im Gewande solcher Spektralklänge der Erzengel den Schwerverletzten erscheint. Am Ende hört man ihn dann, den GRIDO, den Schrei: ein kurzer aufsteigender, krächzender, unmenschlicher Laut aus dem Bauch aller Geigen, der jäh wieder abfällt. Ein Aufschrei, ein ›Ääähhhh!!!‹ nach letzter Hilfe.

Wo verschiedene Künste in einem Ort zusammentreffen, dort wollen sie auch zusammen wahrgenommen werden. Das Ohr sagt dem Auge, was es nicht sieht; das Auge zeigt dem Ohr, was es nicht zu hören vermag. Gerade an solchen überschwänglichen Erfahrungen gewinnen profane Kunstwerke eine Transzendenz, die sie außerhalb eines sakralen Raumes nicht haben. Religiöse Kunst ist, wie alle zeitgenössische Kunst heute, experimentell, doch im sakralen Raum suchen darüber hinaus das Bild und die Musik einen Weg in den Glauben. Sie leuchten unsere Existenzräume aus und versprechen etwas, was man ansonsten nicht glaubt, dass auch in den verzweifeltsten Lebenslagen ›alles möglich ist bei Gott‹}.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/60/hl1.htm
© Harry Lehmann, 2009