Stimmen zu Jürgen Habermas

Konsequenzen des Marxismus und die Rolle der Religion in der modernen Zeit

Markus Chmielorz, Christoph Fleischer

Jürgen Habermas, ein deutscher Philosoph mit weltweiter Bedeutung wurde am 18.06.2009 80 Jahre alt. Dieser Geburtstag hat eine erhebliche Resonanz ausgelöst, die auch einen guten Einblick in Werk und Wirkung dieses öffentlich wirksamen Wissenschaftlers erlaubte. Diese Wirkung soll hier kurz skizziert werden.

Der kanadische Philosoph Charles Taylor würdigt Jürgen Habermas in der Süddeutschen Zeitung am 18.06.2009, dessen 80. Geburtstags, indem er sein Denken in drei Abschnitten kurz und prägnant darstellt.

  1. Habermas setzt sich mit dem Subjektivismus der Postmoderne auseinander, die mit dem Ende jeder „metaphysischen“ Perspektive die Objektivierbarkeit moralischen Denkens ablehnt. Von Immanuel Kant herkommend, stellt Habermas fest, dass die Feststellung moralischer Normen durch einen Beratungsprozess erfolgt, der genau deshalb formal objektivierbar ist: „Die einzigen letzthin annehmbaren moralischen Normen sind bei ihm jene, die von all denen akzeptiert werden, die von ihnen betroffen sind.“
  2. Auf philosophischer Ebene knüpft er an der „dialogischen Wende“ an, die sich auf der politischen Ebene ebenfalls feststellen ließ. Angesichts gesellschaftlicher Entwicklungen stellt sich nun die Frage, was sich mit dem Ausschluss bestimmter gesellschaftlicher Gruppen für eine Tendenz zu verbinden scheint. Dafür ist wohl allein der gesellschaftliche Dialog zuständig.
  3. Die dritte Facette des Denkens von Jürgen Habermas ist die Wandlung des Vernunftverständnisses. Habermas will dabei die formale Trennung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft überwinden. Infolge des „post-metaphysischen Denkens“ zeigt sich, dass der Begriff der Rationalität nicht eindimensional gebraucht wird, sondern variiert. Die Kritik an der Metaphysik wird dementsprechend jede Begründung einschließen, die versucht, einzelne Sphären des Denkens zu isolieren und auf nicht hinterfragbare Wahrheiten zurückzuführen.

Zuletzt würdigt Charles Taylor die öffentliche Wirksamkeit des Philosophen und erklärt, Habermas mache selbst die Konsequenz seines Denkens deutlich, indem er bewusst das Wort in der Öffentlichkeit erhebe. Hat er nicht das Postulat des „offenen und herrschaftsfreien Diskurses“ durch sein eigenes Vorbild in das 21. Jahrhundert übertragen?

Die weltweite Publizität von Jürgen Habermas scheint dieser besonderen Würdigung durch den kanadischen Philosophen recht zu geben.

Die Wochenzeitung Die ZEIT veröffentlichte einige Kurzbeiträge internationaler Wissenschaftler zu Jürgen Habermas, die nicht nur zeigen, wie bekannt er ist, sondern auch, in welchen Facetten sein Werk global bearbeitet wird. Dazu mögen einige Zitate angeführt werden:

Ronald Dworkin (Prof. für Rechtsphilosophie, New York, USA): „Wenn er ein Thema in die Öffentlichkeit bringt, dann gelingt es ihm, die Diskussion auf ein höheres, philosophisches Niveau zu heben.“

Kenichi Mishima (Prof. em. Für Sozialphilosophie in Osaka, Japan): „Aufmerksam verfolgt wurde in Japan Habermas´ philosophisch-politische Essays, erst recht seine leidenschaftliche Stellungnahme zu zeitgenössischen Ereignissen.“

Wang Hui (Hochschullehrer, Peking, China): „Wir, meine chinesischen Freunde und ich, sind Habermas für sein Werk und die öffentliche Diskussion sehr dankbar.“

Ahmet Cigden (Prof. für Soziologie Ankara, Türkei): „Habermas hat eine Sprache des Denkens entwickelt, die dessen innere Spannung bewahrt und offen ist für die Erkenntnisse anderer Disziplinen.“

Christina Lafout (Professorin, Spanierin, Philosophie in Evanston, USA) schreibt, dass es in Spanien drei voneinander unabhängige philosophische Schulen gab, die des Marxismus, des Existentialismus und der analytischen Philosophie. „Es gab immer dringenden Bedarf nach einer Theorie, die in der Lage war, alle drei Traditionen schlüssig zu verschmelzen. Genau das gelang Habermas.“

Richard Sennett (Soziologie und Geschichte, New York, USA). „Ich selbst habe immer wieder bewundert, wie unermüdlich und ohne eIne Spur von intellektueller Befangenheit er Probleme durchdenkt.“

Anknüpfend an diese kurze Zitatensammlung sei auf die Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ eingegangen, die anlässlich seines Geburtstages 2009 erschienen sind. Die Frage der globalen Wissenschaft spielt auch hier noch einmal eine Rolle. Doch zunächst kommen Menschen zu Wort, die alle eines verbindet, dass sie als Assistenten oder Hochschullehrer mit Habermas zusammengearbeitet haben und von seinem Einfluss profitiert haben.

Oscar Negt zufolge („Der politische Intellektuelle“) liebte Habermas die Kontroverse und setzte sich gern mit Gegenargumenten in Gestalt seiner Schüler auseinander. „Für Habermas ist kommunikative Vernunft mehr und anderes als der lustvolle Umgang mit der Sprache; auf verständigungsorientierter Vernunft beruhen die gesellschaftlichen Grundvereinbarungen, ohne deren ständig aktualisierte Anerkennung der innergesellschaftliche Friedenszustand bedroht ist.“ (S. 41). Der Gegensatz dazu sei Krieg. Negt spitzt dies so zu: „Unbefragte Glaubensgewissheiten, Orthodoxien, Dogmen enthalten potentielle Gewaltakte, es sind zerbrochene Kommunikation, Andenken verweigerter Argumente.“ (S. 41). Mit zwei Beispielen weist Negt auf die Bedeutung der ökonomischen Analysen des gesellschaftlichen Handelns hin. Wichtig ist für Habermas die Grundvoraussetzung der ständigen Dialogfähigkeit: „Mache öffentlich Gebrauch von deiner Vernunft.“ (S. 42).

Claus Offe („Von der Verflüchtigung einer bangen Hypothese“) hebt an Habermas hervor, dass es ihm gelang, sich in die Wissenschaftssprachen anderer Denker und Lehrer einzulesen und verdeutlicht dies am Beispiel Luhmanns, gegen den Habermas Stellung bezog. Es wird von Habermas her nicht von oben erzeugte Sinnwelten geben; allein der Diskurs und die konkrete Verständigung über Inhalte kann diese erzeugen. Diese Hypothese trifft auch die Vorstellung der systemtheoretischen Hegemonie, die man oft dort antrifft, wo die Eigengesetzlichkeit gesellschaftlicher Bereiche begründet werden soll. In der Argumentation scheint hier ein gutes Beispiel habermasscher Diskursethik zu liegen und zugleich ein Ansatz, der Metaphysik-kritisch denkt, was jede moderne Metaphysik betrifft, wenn diese mit unhinterfragbaren Ansprüchen auftritt (wie z.B. in Systemtheorie, Kapitalismustheorie, Existenzialismus).

Nach Ulrich Oevermann („Der akademische Lehrer – eine Erinnerung“) entwickelte Habermas gerade keine Neuauflage der kritischen Theorie, wie es von ihm erwartet wurde, sondern ermutigte dazu, empirische Forschung des Auslands zu rezipieren. Der neue Schwerpunkt war die „Konstitution des autonomen Subjekts“. Das Arbeitsprogramm des wissenschaftlichen Seminars verdeutlicht den Ansatz exemplarisch: „Die Versenkung in das Gegenstandsproblem blieb immer verortet in einem ständig in Erinnerung gerufenen Bezugsrahmen von theoretischen Grundproblemen, so wie die jeweils neuesten Theorievorschläge und Forschungsergebnisse…“ (S. 47).

Albrecht Wellmer („Erinnerung an die Anfänge und eine späte Antwort auf einen fast vergessenen Brief“), einer der ersten Schüler von Jürgen Habermas, erhielt in den siebziger Jahren einen sechsundzwanzigseitigen Brief seines alten akademischen Lehrers, den er damals nicht beantwortet hat. Der Brief stellt so etwas wie ein Grundkonzept der Schrift vom kommunikativen Handeln dar. Zusammenfassen ließe sich das in etwa so: „Nicht mehr das Tauschprinzip der kapitalistischen Ökonomie oder der Siegeszug der instrumentellen Vernunft in der Moderne sind es, die als solche für Phänomene wie ‚Entfremdung‘ oder ‚Verdinglichung‘ in der modernen Gesellschaft verantwortlich gemacht werden können, vielmehr ist es das gestörte Verhältnis von Lebenswelt und System, das zum Gegenstand einer kritischen Theorie wird“, die nach Habermas die „Kolonialisierung der Lebenswelt durch Systemimperative“ (S. 51) beschreibt. Der Autor stellt daran anknüpfend doch die Frage, ob „Kapitalismus und Demokratie“ letztlich vereinbar sind, und meint damit, dass es ein Fehler von Habermas war, die Grundthese der alten kritischen Theorie so weit zu distanzieren, wie er es getan hat. Vernehmlich oder gerade typisch sei doch demnach, wie Habermas trotz seiner kritischen Position von der Systemtheorie profitiert hat.

Axel Honneth („Sublimierungen des Marxschen Erbes – Eine Richtigstellung aus gegebenem Anlass“) erläutert, da Habermas sich -seiner Beobachtung nach- von Anfang an der „Bindung an den jungen Marx“ verdankt, wie im Habermasschen Denken die Wurzeln des Marxismus im „Glutkern“ lebendig geblieben seien. Honneth entdeckt bei ihm nicht einen völligen Bruch mit dieser Tradition, die sich aber von seinem Grund her im Heideggerschen Denken erschließt. Dazu findet der Autor im Habermasschen Denken zwei Grundannahmen. Zur ersten: „Die schlechten, korrumpierten Zustände, als die die sozialen Verhältnisse der Gegenwart im Sinn eines säkular interpretierten Sündenfalls verstanden werden können, sollen durch eine Emanzipation überwunden werden, in der die Menschheit sich als einer Vereinigung assoziierter Produzenten von der Gewalt der Materie befreit.“ (S. 55). Zur zweiten: „So sehr Habermas in der weiteren Ausarbeitung seiner Theorie die für ihn ursprünglich konstitutiven Denktraditionen der philosophischen Anthropologie, der Geschichtsphilosophie und des Marxismus später auch empirisch umformulieren wird: Von der marxistischen These einer Verselbständigung ökonomischer Handlungsorientierungen wird er nicht mehr lassen…“ (S. 56). Axel Honneth sieht also in der analytischen Anknüpfung an Marxsche Theorien die Kontinuität des Frankfurter Lehrstuhls gegeben, den Habermas zweimal innehatte.

Ingeborg Maus („Praxis und Theorie“), Mitherausgeberin der „Blätter“ berichtet von der durch Habermas gegründeten AG Rechtstheorie an der Uni Frankfurt, ebenso wie Klaus Günther („Im Umkreis von Faktizität und Geltung“). Habermas hatte das Preisgeld des Leipnizpreises in Millionenhöhe in die Arbeit dieser AG investiert.

Rainer Forst („Unterwegs zu einer Diskurstheorie der Gerechtigkeit: Habermas und Rawls“), ebenfalls Mitglied dieser AG Rechtstheorie, schildert, dass in seiner Person der Dialog zwischen Habermas und Rawls in Sache des Gerechtigkeitsbegriffs realisiert wurde, da er bei beiden Hochschullehrern gleichzeitig gearbeitet hat. In diesem Artikel wird ebenfalls angezeigt, wie nach 1995 der Begriff der Religion zurückkehrte in den wissenschaftlichen Diskurs (als Analyse des Verhältnisses von religiösem Pluralismus und demokratischem Staat).

Seyla Benhabib („Kosmopolitismus und Demokratie: Von Kant zu Habermas“) beschreibt in ihrer zum Artikel umgestalteten Rede, die sie auf einem Kongress der Partei „Die Grünen“ gehalten hat einen Kosmopolitismus, also eine Art Weltbürgerschaft, für die Habermas ein gutes Beispiel ist. Daraus folgt kurz gesagt: „In Zeiten der Globalisierung wird die Einbeziehung der Anderen“ zur weltbürgerlichen Pflicht, die nicht an nationalen Grenzen halt macht.

Kenichi Mishimas („Die japanische Nachkriegsaufklärung und die Rolle von Jürgen Habermas“) Artikel(s. o. ZEIT – Stimmen) ist sozusagen der Beweis für den o.g. Kosmopolitismus und darüber hinaus eine interessante Ausarbeitung zu aktuellen Lage und deren Bewertung. Daher sei er etwas ausführlicher dargestellt. Mishima knüpft an die „Transnationalisierung der Öffentlichkeit“ an, die Habermas im Jahr 2008 propagierte. Der Aufsatz stellt sich der Herausforderung der Frage nach der Moderne im nationalen Kontext Japans. Für Japan waren drei Faktoren wichtig: 1. Die durch Max Weber beschriebene protestantische Ethik „mit ihrer Betonung auf die in individueller Innerlichkeit zu vollziehende Prinzipienorientierung“ (S. 77). 2. Die Anpassung des asiatischen Denkens an den Ost-West-Gegensatz. 3. Die sowohl „europäisch/klassische“ als auch „marxistische“ Prägung der sog. „Modernisten“ in Japan. 1983 brach sich die Postmoderne Bahn mit dem Buch „Struktur und Macht“. von Asada Akira Daraus zitiert Mishima: „Durch den Tod Gottes, durch die Enthauptung des Königs, durch die Entwertung der Absolutheit des Vaterwortes begann ja die Moderne, wie jeder weiß.“ (S. 79). Spaß am „Switchen“, am Umschalten in der Vielfalt der Lebensstile, zurück zu Heidegger und Nietzsche, so hieß es dort. Dort hinein brach Habermas mit seinem Vortrag über das „Projekt der Moderne“. Und so wird die japanische Postmoderne dargestellt: „Einerseits wollen sie dem konformistischen Schub des Konsums elegant aus dem Weg gehen, andererseits schwelgen sie in dieser glitzernden Welt der Simulation, in der virtual reality, als könnte man von hier aus die festgefahrene Moderne aus den Angeln heben und dekonstruieren. Ein normatives Kriterium zu setzen, bleibt ihnen fremd.“ (S. 83). Interessant scheinen nun die Versuche, die moderne Strömung in Japan mit der vormodernen religiösen Tradition in Verbindung zu bringen. Danach stellt der Autor fest: „Was theoretisch versäumt wurde, war die Diskussion über die kulturelle Verankerung der Moderne“ (S. 87). Dazu sagte Habermas 2004 bei der Verleihung des Kyoto-Preises: „Japan was the first among the Eastern empires to assume an avant-garde role in confronting the challenge of modernization, while at the same time adhering to, and intensely drawing from, its own cultural resources. These creative achievements provided the first example for what we now call multiple modernities.” (Unter den östlichen Imperien übernahm Japan als erstes die Rolle der Avantgarde in der Auseinandersetzung mit der Herausforderung der Modernisierung, wobei es gleichzeitig an seinen eigenen kulturellen Ressourcen festhielt und intensiv aus diesen schöpfte. Diese kreativen Leistungen boten ein erstes Beispiel für das, was wir heute als mehrdimensionale Modernität bezeichnen.) (S.87f, Übersetzung der Redaktion).

Mit diesem letzten Zitat ist nun erstaunlicherweise auf dem Umweg über Japan die Frage u.a. auch nach der Religion wieder auf dem Tisch, denn diese vormodernen Traditionen Japans sind teilweise religiösen Ursprungs. Hierzu veröffentlicht die Fachzeitschrift „Information Philosophie“ in der Ausgabe Mai 2009 einen Aufsatz von Klaus Thomalla: „Habermas und die Religion“. Thomalla, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter in Bochum und nun Referendar für Philosophie und katholische Religion skizziert in seinem kurzen Aufsatz die Aussagen von Habermas zur Religion in fünf Phasen, wobei sich die Abfolge bis zur Gegenwart rasch verkürzt. Bis zur Wende (1989) spielt der Bezug zur Theologie im Werk von Habermas kaum eine Rolle. Manchmal scheint sich die Argumentation gar, wie in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ gegen die Religion zu richten, zumindest soweit es sich um Inhalte in „von sakral geschützten normativen Kontexten“ (S. 30) handelt. Allerdings betonte Habermas schon damals die bleibende Bedeutung der Religion für die allgemeine Sinnstiftung. Von einer Rezeption marxistischer Religionskritik, die vom Ansatz her nahe liegen könnte, ist nicht die Rede. (Eine Anmerkung dazu: Vermeidet Habermas dies, oder ist das eine Wissenslücke des Autors?) Diese erste Phase nennt Thomalla klar: „Die Funktion der Religion“. Die zweite Phase, die etwa die neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts umfasst, bezeichnet er als die Phase der „(vorläufigen) Unverzichtbarkeit der Religion“ (S. 31). In der Überlegung des nachmetaphysischen Zeitalters geht es nach Habermas um semantische Gehalte der Religion, die bislang ins moderne Denken hinein unübersetzt blieben. Er bezeichnet es als „Arbeit am religiösen Erbe“. Die dritte Phase wird durch den Begriff der „postsäkularen Gesellschaft“ geprägt, der erstmals in der Friedenspreisrede 2001 genannt wird. Angesichts der fortschreitenden Säkularisierung bleibt die Gesellschaft auf die Religion angewiesen. Es handelt sich um „das Bedeutungspotential externer Quellen“ (S. 31) und die Überforderung der Moderne, die durch die Sprache des Marktes überflutet wird, wogegen die Religion als Schutz erfahren wird. Wichtig sind Habermas z.B. die Metaphern der „Geschöpflichkeit“ und der „Gottebenbildlichkeit“. Nun knüpft Thomalla an das Gespräch mit Josef Ratzinger 2004 eine vierte Phase an, die das Verhältnis zwischen Religion und säkularer Welt als „komplementären Lernprozess“ beschreibt. Nach weiteren drei Jahren ist mit Thomalla noch eine fünfte Phase zu erkennen: „Die Wechselwirkung zwischen säkularer und religiöser Vernunft und die Überwindung des Defätismus der Moderne“. Dahingestellt, ob es berechtigt ist, nun erneut von einer anderen Phase zu sprechen, beinhaltet die neue Schwerpunktsetzung eine Zuspitzung: „Erst ein gewandelter Blick auf die Genealogie der Vernunft wird zeigen, dass beide Modi –Glauben und Wissen– mit ihren in Jerusalem und Athen fundierten Überlieferungen zur Entstehungsgeschichte der säkularen Welt gehören.“ (S. 33). Das Ziel ist nun wiederum die Erweckung von Betroffenheit, wenn Habermas schreibt, dass es darum ginge, “in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, eine Bewusstsein, von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wach zu halten…“ (Zit. n. Thomalla, S.33). Da man trotz aller Phaseneinteilung eine weitgehend konsistente Linie im Denken von Jürgen Habermas beobachten kann, wird man kaum annehmen können, dass nunmehr die vorherigen Aussagen über die Bedeutung unhinterfragbaren Wahrheiten im Kommunikationsprozess außer Geltung gesetzt sind, sowie die Bedeutung der Frage, wie der Umgang mit Minderheiten legitimiert wird und wie dieser Umgang zeigt, ob die Gesellschaft kommunikationsfähig ist. Habermas legte zeitlebens sehr viel Wert auf die Rolle der Kommunikationsmedien in der Gesellschaft, die für einen kommunikativen Diskurs nötig sind. Daher soll ein kurzer Blick auf Meldungen der Tagespresse den Rückblick auf Stimmen zu Habermas anlässlich seines 80. Geburtstages abschließen.

„Habermas ist nicht plötzlich fromm geworden“, lautet der Untertitel eines Artikels, den Alexander Kissler anlässlich Habermas‘ Geburtstag am 18. Juli in der „Süddeutschen Zeitung“ veröffentlicht hat. Fromm, wie uns das Wörterbuch lehrt, von einer religiösen Überzeugung durchdrungen, gottergeben und sanftmütig, so können wir uns Habermas gewiss nicht vorstellen. Dennoch: „Fromm“ leitet sich ab vom althochdeutschen Substantiv „fruma“, das Nutzen und Wohl bedeutet. Und hier kommen wir Habermas schon näher, ist er es doch, der ausgehend von der Kritischen Theorie seine Diskursethik zwischen Nutzen und Wohl in der modernen Gesellschaft formuliert hat.

Doch zurück zu Alexander Kissler, der noch einmal Bezug nimmt auf Habermas‘ Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001. Dort hatte Habermas dargelegt, wie in der Moderne existenzielle Fragen beantwortet werden können und wie religiöse Motive fortbestehen im sozialen Bezugssystem sprechender und handelnder Personen. So zielen sowohl die Religion (in der christlich-jüdischen Tradition) in unserer postsäkularen Gesellschaft, als auch Habermas, der sich kognitiv und Theorien entwickelnd an den dunklen Seiten des Projektes Moderne abarbeitet, auf die Formulierung moralischer Empfindungen, die bald hier in religiöser Sprache, bald dort in der Sprache der Vernunft formuliert werden – unter der Voraussetzung jedoch, dass „die postsäkulare Gesellschaft (…) die Arbeit, die die Religion am Mythos vollbracht hat, an der Religion selbst fort(setzt).“ (Habermas, 2001, S. 15).

So erkennt denn auch Alexander Kissler Gleichheit, Autonomie, Gerechtigkeit und Solidarität als die Schlüsselbegriffe der Habermas’schen Diskursethik und weist mit Habermas auf die Praxis im „Gemeindeleben der Religionsgemeinschaften“ hin – die hier sicherlich abzugrenzen ist gegen das System Kirche, wie gegen die Vorherrschaft gesellschaftlicher Subsysteme überhaupt: „Praxis und Semantik der Religion könnten, übersetzt in öffentliche Sprache, ein Schutz sein vor dem totalen Markt und der vollendeten Egozentrik“, so Kissler weiter.

Habermas, der sich selbst „religiös unmusikalisch“ nennt, hat auch 2001 das aufgenommen, „was alle angeht“, so der Artikel von Jürgen Kaube, der am Geburtstag Habermas‘ in der FAZ erschienen ist. Kaube beginnt mit der jungen Bundesrepublik und konstatiert nicht nur ein Wirtschaftswunder, sondern ebenso ein „Wunder in den Geisteswissenschaften“, dessen prominenter Vertreter Habermas ist. Kaube nennt ihn einen Sozialphilosophen und zeigt damit an, wohin die Reise mit Habermas geht: „Kognitiver Stil“, „Argumentationen und Theorien“ kennzeichnen das Werk desjenigen, der sich nach dem Ende der NS-Diktatur abarbeitet an Heidegger und Adorno und eine avancierte „moral-, rechts- oder gesellschaftstheoretische Position“ entwickelt. Im Mittelpunkt steht dabei der „‘normative Gehalt‘ aller argumentativen Sprechakte“. Es geht um „alle vom Gesagten Betroffenen. Denn Betroffenheit korreliert mit Kompetenz“, so Kaube weiter. Es geht also um uns und einen Entwurf von Gesellschaft, in der Handeln durch Vernunft geprägt ist, die vorwegnimmt, was noch nicht ist. „Erziehung des Menschengeschlechts im Seminarraum“ nennt Kaube das und gibt uns, wie es auch noch andere Autor/innen tun werden, einen Blick auf den, da emanzipatorischen, pädagogischen Habermas. Nun verstehen wir auch, weshalb die Moderne ein unvollendetes Projekt bleibt, hat sie doch nicht einlösen können, was Kaube eine „Anthropologie des nichtentfremdeten Lebens“ nennt. Dass zu „viel Theorie“ noch etwas anderes kommt, nämlich „eine ganze Biographie, eine ganze Generationenerfahrung“ beschreibt diese bewundernde Gratulation.

Den biographischen Faden nimmt auch Arno Widmann auf, der in seinem Artikel „Wahrheit und Gesellschaft“ in der Frankfurter Rundschau über den „Kultautor der Moderne“ schreibt. Er beginnt gleichsam mit einer Meditation über den jungen Habermas, der seine Jugend im Terrorstaat der Nationalsozialisten erlebt. Ist der Bruch, der 1945 das Land durchzieht, der biographische Schlüssel für den, der später eine Theorie vom herrschaftsfreien Diskurs entwickeln sollte? „Das Ende des Dritten Reiches, das Ende des Deutschland und der Welt, in der er aufgewachsen war.“ Widmann nennt das die „Umstände der zweiten Geburt“ – eben ganz und gar nicht: die „Gnade der späten Geburt“- und beschreibt einen „Kampf gegen sich selbst“ jener großen Denker der Bundesrepublik, die nun 80 Jahre alt wurden und werden und die von 1933 bis 1945 junge genug waren, um doch so etwas wie kindliche Begeisterung für die Gesellschaft zu erleben, in der sie erwachsen wurden. Widmann erinnert an den Historikerstreit Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, in dem Habermas vehement Stellung nahm zur Verantwortung der Deutschen an ihrer Diktatur, ihrem Terrorstaat und den durch sie verursachten verheerenden Krieg und Massenvernichtung, die eben nicht vergleichbar, nicht Reaktion gewesen seien – zugleich beklagt der Gratulant aber auch, dass Habermas kein Buch über den Nationalsozialismus geschrieben habe. Aber: Habermas stellt sich mit seinem Werk gegen die Aufrechterhaltung totalitärer Herrschaft. Die Welt ein Text – möchte man meinen, wenn Widmann den Blick wirft auf Habermas‘ schöpferische Aneignung dessen, was ihn in fremden Denkern begegnete. „Anschlussfähigkeit“ nennt Widmann die Anstrengung, „den Gedanken des Anderen im eigenen zu denken“. Diese Anschlussfähigkeit kann den Zusammenhang von „Erkenntnis und Gesellschaft“ be- und erleuchten, denn es geht Habermas um die Möglichkeiten von Teilhabe: „Er ist dafür, dass die Einzelnen sich verständigen.“ Aus der Kritik erwachsen bei Habermas die Begriffe und „jeder Begriff ist eine Anweisung auf das, was zu tun ist, und auf das, was war“. Und so macht Widmann am Ende, wenn es um das moralische Urteil des Handelns geht, eine Reise in den fernen Osten, setzt in China Habermas und Konfuzius in ein Verhältnis, nennt ihn einen „in Deutsche übersetzten Konfuzianer“, einen „radikalen, konsequenten Konfuzius, (…) der sein philosophisches Leben fast ganz der Richtigstellung der Begriffe widmete“. Dann aber, so erinnert Widmann, kommt es nicht nur auf Habermas an, es kommt auf uns an.

Auch Thomas Assheuer, der Habermas einen „Vorwärtsverteidiger“ (ZEIT Nr. 25 vom 10. Juni 2009) nennt, sieht das Grundmotiv des Denkens Habermas‘ in der „Litanei des Schreckens“, in der empörenden „Geschichte der Gewalt“ und nimmt zu Beginn seines Artikels die Quintessenz schon vorweg: „Kommunikation unterbricht den Kriegszustand der Welt“. Sprachverhältnisse setzt Habermas gegen Machtverhältnisse und bestimmt das gesellschaftliche Ideal, ganz in Tradition der „Negativen Dialektik“ und doch über sie hinausweisend noch ex negativo: „Noch in den pathologisch verzerrten Kommunikationen steckt der Stachel von Wahrheitsansprüchen“. Habermas spricht von „Emanzipation“ und „Herrschaftsfreiheit“, Begriffe, die nun halb so alt sind, wie ihr Protagonist. Die „Theorie des kommunikativen Handelns“ von 1981 nennt Assheuer einen „monumentalen Knoten“. Die Kraft der Kritik an der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ hat auch heute nichts an Bedeutung verloren – oder müssen wir sagen: gerade heute nicht, denn die Möglichkeiten des Menschen in komplexer werdenden Systemen, sich noch weiter als „Kolonialherren“ aufzuführen, sind nicht geringer geworden. „Ein hell leuchtendes Freiheitsversprechen“, das Assheuer bei Habermas findet, ist noch nicht eingelöst. Kommen wir also zurück zu Habermas‘ Interesse an Religion, mit dem Thomas Assheuer schließt. Was in der Friedenspreisrede die „existenziellen Fragen“ waren, werden nun „Überlebensfragen“. Und trotz des Freiheitsversprechens bleiben „in der Diskursethik ‚existenziell‘ blinde Stellen“. Einen Ausgang weist Assheuer, wenn er von „Versöhnung und Verständigung“ spricht. Das eine ist die Chance einer Religion in post-säkularer Gesellschaft, das andere das Erbe des unvollendeten Projektes Moderne.

„Habermas 8.0“ nennt die TAZ ihr Dossier zum Geburtstag eines „Giganten“, so Isolde Charim in ihrem Artikel mit dem Titel „Die Trümmerfrau der Philosophie“. Auch sie wählt, trotz des Übergewichts von kognitivem Stil und Theorie im Werk Habermas‘ einen biographischen Zugang – wie übrigens auch ein Großteil der im Dossier versammelten Autor/innen. Das Erbe der Moderne, das nach der „moralischen Katastrophe“ Deutschlands und nach Auschwitz nun endgültig nur als „destruktive Dialektik“ erschien, nahm Habermas auf, um das „Aufklärungsprojekt“ fortzuführen. Habermas wäre nicht Habermas, kennte er nicht seinen Marx und seinen Adorno. Er konnte dieses Projekt, so Charim, nur weiterführen, „wenn die Kategorien der Aufklärung –Vernunft, Subjekt, Gesellschaft- nunmehr als postkonventionelle, posttraditionale, postnationale reformuliert werden.“ Habermas‘ entwickelt die Rationalität der Moderne neu, und so nennt die Autorin seine „Theorie des kommunikativen Handelns“ einen „Befreiungsschlag“: Kommunikative Rationalität entsteht durch Verständigung von Subjekten. Habermas hält daran fest, auch wenn Denker um ihn herum, wie Foucault, schon längst den „Tod des Subjektes“ verkündet hatten. Wenn Habermas von der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ spricht, wenn er einen „herrschaftsfreien Diskurs“ antizipiert, dann beschreibt auch Charim den pädagogischen Eros, der Habermas‘ Werk innewohnt: Performativ entsteht die Mündigkeit des Bürgers / der Bürgerin. Diese Vorwegnahme von Mündigkeit ist ein Essential der Diskussion um Erziehungsziele und Emanzipation aus den 1970er Jahren, die auch heute noch Geltungsanspruch hat in pädagogischen Verhältnissen. Zehn weitere Autor/innen versammelt das Dossier der TAZ, die jeweils ihren Blick auf Habermas freigeben. So wie Schriftstellerin Hilal Sezgin („Die Vision bleibt bestehen“) eine Kritik der „positiven, normativen Theorie der Demokratie“ (Habermas) einfordert, wenn sie beklagt, dass eben nicht alle in der „Kommunikationsgemeinschaft der Diskurstheorie“ Platz finden.

Der Schriftsteller Michael Rutschky nennt Habermas einen „Praeceptor Germaniae“, schildert Begegnungen mit Habermas und ist der einzige, der Bezug nimmt auf dessen Sprachfehler, den er als „erfurchtgebietend“ erlebte. Wir erinnern uns: „Betroffenheit korreliert mit Kompetenz“, schrieb Kaube.

Der Publizist Robert Misik nennt Habermas in seinem kleinen Aufsatz „Der ideale Werbetexter“ einen „Bezeichnungskünstler“ und rekurriert auf „Diskursethik“ und „Kolonialisierung der Lebenswelt“, aus dem mit Habermas er ein Programm für heute herausliest, wenn er von den „Imperativen des Marktes“ spricht.

Das „zeitgeschichtliche Gedächtnis“ der TAZ, Christian Semler, singt Habermas „ein Ständchen“. Er setzt sich selbst mit dem Großen ins Verhältnis und erzeugt, erstaunlich für den Begründer des herrschaftsfreien Diskurses, eine Hierarchie: „(…) So umkreisen wir kleinsten Himmelspartikel auf unserer elliptischen Bahn den Fixstern Jürgen Habermas“. Habermas erscheint ihm in der guten Tradition der Aufklärung und macht deutlich, wie Politik auch als öffentliches Handeln verstanden werden kann. Die letzten Fragen der Gesellschaftsethik bleiben jedoch auch zum 80. Geburtstag unbeantwortet: „Können Kollektive ein vernünftiges Selbstbewusstsein entwickeln?“ Die „befriedete Ordnung“ bleibt der uneingelöste Anspruch.

Der Schriftsteller Stephan Wackwitz schenkt Habermas „Von Herzen ein Bukett Rosen“. Er beginnt mit einer Selbstreflexion und beschreibt, wie Habermas ihn „innerlich beschäftigt“ habe. Das freut den Rezensenten, weil hier eine Ahnung davon aufsteigt, wie Theorie und Lebenspraxis auch verbunden sein können. Wie Brüche der Biographie den Anspruch, den Habermas verteidigt, ins Recht setzen können. Eines der Stichworte Wackwitz‘ ist Macht, wenn er die Frage beantwortet: „Was bedeutet Jürgen Habermas als Figur meines inneren Lebens?“

Noch einmal nach China, dieses Mal mit der chinesischen Hegel-Übersetzerin Wang Ge, deren Artikel „Von hegelscher Breite“ überschrieben ist. Sie nennt Habermas den „prominentesten lebenden Vertreter der Frankfurter Schule“, dessen Werk heute „Forschungsgegenstand der Fachrichtung Marxismus“ ist. Sie lobt den Jubilar ob seiner „konstruktiven Kritik am chinesischen System“ und hebt sein Plädoyer für „universalistische Werte wie Menschenrechte und Demokratie“ hervor. In China, schreibt sie, wird Habermas von allen bewundert. „Das Andere im eigenen denken“, dieser Anspruch, so denkt sich der Rezensent, wird hier eine so besondere Bedeutung bekommen. Es erfordert tatsächlich, Habermas in dessen Analyse, in seiner Theoriebildung und im Hinblick auf seine Gesellschaftsethik treu zu bleiben.

Antonia Grunenberg, Professorin für Politikwissenschaft in Oldenburg nimmt in ihrem Artikel „Erzieher der Deutschen“ noch einmal Bezug auf den Pädagogen Habermas. Auch ein großer Denker ist irgendwann einmal erwachsen (geworden); ihm wurde „der Nationalsozialismus zum Trauma“. Sein Verdienst sei es, dass er dem das „Modell eines nicht aufkündbaren, rechts- und normgestützten Diskurses entgegen“ gesetzt habe.

„Zu Tisch in der Provence“ saß Saskia Sassen, Professorin für Soziologie in Chicago und London mit Jürgen Habermas. Ihr wurde die Aufklärung durch Konversation, durch das Zusammen- und Umgehen mit dem Denker „ein Sehen, was man nicht mit dem Auge sehen kann“. Gleichsam Praxis aus Anlass von Theorie für Theorie – ein Stück von der Utopie des herrschaftsfreien Diskurses.

Der Biologe Cord Riechelmann beschreibt in der TAZ „Die vormodernen Blindstellen“. Ihm bleibt die herrschaftsfreie Rede eine „ferne Möglichkeit“ angesichts der Tatsache verdeckter und offener Gewalt. Dem gesellschaftlichen Ideal Habermas‘ setzt er den Einwand Luhmanns entgegen, dass die „Steigerung von Komplexität“ in Systemen nicht bedeuten muss, „dass das Endprodukt eines Sozialsystems dem Sinn der Menschlichkeit näher sei“. An dieser Stelle beschreibt der Biologe, ohne selbst Stellung zu beziehen.

Schließlich schreibt der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Norbert Bolz über „das Paradies des Diskurses“. Auch er schreibt darüber, wie Habermas einen Ausweg findet aus dem „Jammertal der negativen Dialektik“. Er bringt unter dem Stichwort Religion eine neue Wendung an und spricht von der „Religion der kommunikativen Vernunft“. Bei Bolz bekommt das Projekt der Moderne, an dem sich Habermas abarbeitet, „einen theologischen Glutkern“. Er bezieht sich dabei auf die jüdische Bundesidee zwischen Jahwe und seinem Volk als „Urzelle der Kommunikationsgemeinschaft“. Das mag überraschen und zugleich bleibt, angesichts der o.g. existenziellen Fragen der Menschheit, offen, ob das Programm, das in eine postsäkulare Gesellschaft führt, auch eingelöst werden kann: „(…) Versöhnung und Transzendenz sollen in Argumentation übersetzt werden“.

Blicken Leserin und Leser auf diese Fülle der Artikel anlässlich des 80. Geburtstags eines der großen Denker des 20. und 21. Jahrhunderts, dann wird vielleicht deutlich, wie nötig die Moderne selbst einer Antwort auf die ihr innewohnende negative Dialektik bedurfte. Mit Habermas wissen wir davon, dass der Anspruch jeder Gesellschaftsethik uneingelöst bleibt, vielleicht bleiben muss. Mit dem Agnostiker Habermas können wir vielleicht langsam eine Ahnung davon entwickeln, was Religion heute bedeuten könnte – eben auch deshalb, weil jede und jeder von uns in der jüdisch-christlich-hellenistischen Tradition lebt, ob mit ihr oder gegen sie. Religio ist die Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit gegenüber dem Heiligen - mit Habermas möchte man sagen: dem Unverfügbaren. Und das Subjekt der Moderne, eingedenk des Wissens, dass das, was zu Grunde liegt, auch buchstäblich zu Grunde liegen kann, bedarf eines Bezugs zu diesem Unverfügbaren – das lehrt uns Habermas. Man dürfte nicht allzu überrascht sein, stellte sich am Ende heraus, dass die religiöse Rede nun, ebenso wie ästhetische Erfahrungen, als Enklavenerlebnis (vgl. Berger / Luckmann), das in Alltagssprache noch zu übersetzen ist, das Unverfügbare ins Recht setzen mag. So mag der Rezensent nicht zustimmen, wenn Alexander Kissler am Ende seiner Gratulation Habermas zitiert in einer Auseinandersetzung mit Vattimo: „Diese Art von lauwarmer Religion, die jeden kognitiven Stachel verliert, wird in der Welt nichts mehr bewegen“. Vattimos Ansatz, so die These, die noch zu überprüfen wäre, ist ein biographischer Ansatz in der Auseinandersetzung mit (katholischer) Tradition, der Habermas’sche ein der kritischen Theorie verpflichteter. Der Überhang an Praxis des Einen mag den Überhang an Theorie des Anderen auszugleichen geeignet sein – und umgekehrt. Beide stimmen überein, wenn es um kenosis geht, jenen Prozess der Ent-Mächtigung, den sowohl die Religion nach Christus, als auch die Moderne angetreten haben.

Bezeichnend, dass der Philosoph Jürgen Habermas, von Heidegger herkommend, der kritischen Theorie und dem Marxismus seinerzeit verpflichtet, den Weg von der Kommunikationstheorie zur Religionsphilosophie gefunden hat, wenn auch erst spät. Dennoch spürt man den Argumentationen ab, dass Religion nicht unbedingt sein Heimspiel ist. Umso erstaunlicher und bewegender ist, dass er sich dem Dialog stellt, ja ihn sogar ins 2. Jahrtausend hinein weltweit angeregt hat. Dieses weite Echo, das hier dokumentiert wurde, zeigt Jürgen Habermas als Denker des globalen Lebens, als Kosmopoliten.

Verweise
  • Assheuer, Tomas: Der Vorwärtsverteidiger. www.zeit.de/2009/25/Habermas, Stand: 23.07.2009
  • Benhabib, Seyla: Kosmopolitismus und Demokratie. Von Kant zu Habermas. Blätter für deutsche und internationale Politik 6´09, S. 75-88
  • Bolz, Norbert: Das Paradies des Diskurses. in: Die Tageszeitung, 18.6.2009
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  • Grunenberg, Antonia: Erzieher der Deutschen. in: Die Tageszeitung, 18.6.2009
  • Günther, Klaus: Im Umkreis von Faktizität und Geltung. Blätter 6´09 s.o. , S. 58-61
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  • Kissler, Alexander: Das verfehlte Leben und eine Zumutung, die retten kann. in: Süddeutsche Zeitung, 18.06.2009
  • Lafout, Christina: Die ZEIT, 10.06.2009 Nr.25 s. o.
  • Maus Ingeborg: Praxis und Theorie. Blätter 6´09 s.o., S. 57-58
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  • Misik, Robert: Der ideale Werbetexter. in: Die Tageszeitung, 18.6.2009
  • Negt, Oscar: Der politische Intellektuelle. Blätter 6`09 s.o., S. 40-42
  • Oevermann, Ulrich: Der akademische Lehrer. Blätter 6´09 s.o., S. 45-47 
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  • Riechelmann, Cord: Die vormodernen Blindstellen. in: Die Tageszeitung, 18.6.2009
  • Rutschky, Michael: Wunderschöner Geist. in: Die Tageszeitung, 18.6.2009
  • Sassen, Saskia: Zu Tisch in der Provence. in: Die Tageszeitung, 18.6.2009
  • Semler, Christian: Ein Ständchen. in: Die Tageszeitung, 18.6.2009
  • Sennett, Richard: Die ZEIT, 10.06.2009 Nr.25 s.o.
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  • Thomalla, Klaus: Habermas und die Religion. Information Philosophie, 37. Jahrgang, Heft 2, 2009, S. 30-35.
  • Wackwitz, Stephan: Von Herzen ein Bukett Rosen. in: Die Tageszeitung,  18.6.2009
  • Wellmer, Albrecht: Erinnerungen an die Anfänge und eine späte Antwort auf einen fast vergessenen Brief. Blätter 6´09 S. 48-52
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/60/mccf1.htm
© Markus Chmielorz/Christoph Fleischer, 2009