Hörstadt - Hörwege

Ein empfehlenswertes Experiment

Andreas Mertin

Wie steht es um die Nachhaltigkeit von Kulturhauptstadtprojekten? Was wird – nicht nur einfach als Institution – über den Tag hinaus erhalten und zeitigt darüber hinaus auch noch langfristig Wirkungen? Die Mehrzahl der Kulturhauptstadtprojekte zielt eher auf ein momentanes Event und versucht schon gar nicht, eine ganze Gesellschaft zu ändern.

Bei der Kulturhauptstadt 2009 in Linz gab es allerdings bedeutsame Projekte, die über das Ereignis selbst hinausgingen. Wer auf der Seite der Online Enzyklopädie Wikipedia das Ereignis nachliest wird unter dem Stichwort Kulturprogramm zwei zentrale nachhaltige Punkte finden: die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Hitlers „Lieblingsstadt“ sowie das Projekt „Hörstadt“. Letzteres will die akustische Umwelt einer Stadt bewusster machen, unter anderem mit einer Kampagne gegen Zwangsbeschallung im öffentlichen Raum und in Einkaufszentren unter dem Titel Beschallungsfrei. Auch meditative Hörerlebnisse sind eingebaut. Im Zuge des Projektes wurde vom Gemeinderat die Linzer Charta (s.u.) beschlossen.

Nun haftet dem Wort „Reizüberflutung“ etwas unvermeidbar Konservatives und Bewahrpädagogisches an. Gibt man im linguistischen Wortschatzlexikon der Universität Leipzig das Wort ein, ergeben sich als signifikante Nachbarn Worte wie „ausgesetzt“, „droht“, „bedrohliche“, „ständige“ oder Internet, Computerspiele, Werbung, Nachrichten, Gewaltszenen sowie Alltag, Zeitalter, Wahrnehmung.

Und jede Initiative, die sich gegen akustische Reizüberflutung einsetzt, muss zeigen, dass es ihr nicht nur um das bloße „ich-will-nicht-gestört-werden“ geht, sondern um mehr, um Grundsätzliches. Und tatsächlich ist die Initiative „Hörstadt“ etwas derartig Grundlegendes, ein öffentlicher Parcours über die Wahrnehmung am Beispiel des Hörens. Ich hätte mir für die Kulturhauptstadt Ruhr2010 in meiner Region etwas Analoges gewünscht.

Vorgeschlagen wurde von den Veranstaltern und Verantwortlichen, Peter Androsch und Florian Sedmak, die Linzer Innenstadt als eine Art räumliche Metapher zu begreifen, die verschiedene Aspekte des Hörens und Nicht-Hörens symbolisiert. Und mit einem von ihnen erstellten Reiseführer durch die Welt des Hörens kann man sich dann auf den Weg machen:  Der Reiseführer ist eine Einladung, verschiedene Bereiche des Hörens quasi als Stadtteile von Hörstadt zu durchstreifen. Gute Reise!

Dieser Reiseführer von Peter Androsch und Florian Sedmak ist etwas Wunderbares, etwas ebenso Imaginäres wie Reales. Man schlägt ihn auf und erfährt Kapitel für Kapitel etwas über hören & das Ohr – hören & Politik – hören & Gewalt – hören & Totalitarismus – hören & Zwangsbeschallung …. bis hin zu hören & Stille. Es ist dabei keineswegs bloß ein Reiseführer in die Welt des Akustischen, sondern ein Manifest, eine Intervention, die auf Veränderung zielt. Und diese Veränderung ist nicht an die Kulturhauptstadt Linz 2009 gebunden, sondern kann sich weltweit ausbreiten. Denn das Schöne ist, dass der Reiseführer weiterhin zugänglich ist und als Inspiration für eigene Initiativen und Reisen dienen kann.

Androsch, Peter; Sedmak, Florian (Hg.) (2009): Hörstadt. Ein Reiseführer durch die Welt des Hörens: Brandstätter Verlag.

Die Linzer Charta

Der akustische Raum ist alles, was wir hören. In ihm konkretisieren sich unsere Lebensbedingungen ebenso unmittelbar wie – da wir das Gehör nicht abschalten können – unausweichlich. Der akustische Raum ist formbar. Er kann gestaltet, gepflegt und entwickelt werden.

Wir anerkennen den akustischen Raum als elementaren Bestandteil unseres Lebensraumes und verpflichten uns, bei seiner Gestaltung und Entwicklung folgende Werte zu beachten:

  • Der akustische Raum ist Gemeingut. Er gehört allen.
  • Die Gestaltung des akustischen Raums ist Recht und Sache aller Menschen. Die Mitwirkung daran bedarf der Chancengleichheit.
  • Die Teilhabe am akustischen Raum erfordert das Recht auf akustische Selbstbestimmung und die Entwicklung eines akustischen Verantwortungsgefühls.
  • Städte sind Orte akustischer Vielfalt und akustischen Reichtums, der allen barrierefrei offenstehen soll.
  • Auch im akustischen Raum besteht das uneingeschränkte Recht auf persönliche körperliche Souveränität ebenso wie das Recht auf persönliche Gesundheit.

Auf diesen Werten aufbauend orientieren wir uns an folgenden Zielen:

  • Wir wollen akustische Vielfalt und Klangreichtum ermöglichen und fördern.
  • Wir begreifen Bau-, Verkehrs- und Raumentwicklungsprozesse in unserer Stadt auch als akustische Prozesse.
  • Wir wollen alle Räume im öffentlichen Eigentum einschließlich aller öffentlichen Verkehrsmittel frei von dauerhafter Beschallung halten.
  • Wir streben zum Schutz von ArbeitnehmerInnen und KonsumentInnen eine Verringerung der Beschallung der öffentlichen Sphäre an.
  • Wir wollen die volle gesellschaftliche Teilhabe aller Hörbeeinträchtigten gewährleisten.
  • Wir rufen die Bildungseinrichtungen - insbesondere Kindergärten - auf, den Erwerb von Hörkompetenz in den Fokus ihrer Arbeit zu rücken.
  • Wir wollen verantwortungsvolles, innovatives und gesellschaftlich engagiertes akustisches Verhalten fördern sowie neue Wege der Lärmbekämpfung gehen.

Mit der „Linzer Charta“ machen wir das Hören zu einem der Kernbereiche unserer Politik und laden andere Kommunen ein, sich der „Linzer Charta“ anzuschließen. Wir appellieren an die GesetzgeberInnen, den akustischen Raum als zentralen Lebensbereich zu berücksichtigen. Wir tun dies im Wissen und in der Überzeugung, dass Menschen von dem, was sie hören, in ihrem Innersten beeinflusst und berührt werden.

Akustisch bewusstes Handeln schafft Lebensqualität und begünstigt die individuelle Teilhabe an der  gesellschaftlichen Kommunikation.

Fassung vom 22. Jänner 2009

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/66/am319.htm
© Andreas Mertin, 2010