Wahrnehmungsstörung

Beobachtungen zur aktuellen protestantischen Kulturhermeneutik

Andreas Mertin

Es gehört für mich zu den merkwürdigsten Momenten im Umgang mit manchen protestantischen Pfarrerinnen und Pfarrern, was geschieht, wenn man mit ihnen über Kunst oder Kunstprojekte spricht. Sie wissen es immer besser. Statt sich zu fragen, was Künstler wohl zur Sache beizutragen hätten, welche Einsichten sie vermitteln und welche Abgründe sie auftun, haben Pfarrerinnen und Pfarrer immer die besseren Ideen, können es eigentlich viel besser als die Künstler. Man sitzt zusammen, um eine Kunstausstellung in einer Kirche zu besprechen und statt zu sagen, mich würde mal interessieren, was Künstler dazu zu zeigen hätten, kommen dann Sätze wie: der Künstler könnte dann doch das machen oder jenes, aber auf keinen Fall dieses. Woher kommt diese Meinung, man sei als akademisch ausgebildeter Theologe in der Lage, ästhetische und künstlerische Formprobleme besser lösen zu können, als die Künstler selbst? Ich weiß es nicht. Schaut man dann genauer hin, was Pfarrerinnen und Pfarrer dann für Ideen entwickeln, dann ist es das, was jedem ästhetisch Ungebildeten spontan auch eingefallen wäre, es ist in aller Regel etwas, was in der Kunst seit 100 Jahren gang und gäbe ist und keinesfalls etwas, das die Sache künstlerisch voran bringt. Und die abwehrende Kritik vorhandener künstlerischer Ansätze ist jedes Mal durch eines charakterisiert: dass man gar nicht genau hingeschaut hatte, was der spezifische künstlerische Ansatz und Beitrag war.

Denn das gehört ebenso zur protestantischen Unart des Umgangs mit Bildender Kunst: Dass die Sprache der Kunst religiösen Zwecken unterworfen wird. Kunst muss eine Botschaft vermitteln, möglichst eine evangelische, sie muss den Glauben kommunizieren. In den Worten des Fachmanns für die protestantische Anästhetik: Es „darf die Kulturarbeit der Kirchen niemals völlig ohne missionarisches Interesse sein. Für sie gilt, was für alle kirchlichen Äußerungen gilt: sie steht im Interesse der Verkündigung des Evangeliums und bemüht sich, den Glauben an Gottes Barmherzigkeit in eine solche Sprache zu fassen, dass sie Menschen erreichen, berühren und öffnen kann. Kultur in der Kirche darf nicht ‚autopoetisch’ sein.“ (Thies Gundlach) Und wenn Kunst das nicht leistet, weil sie es nur unter Aufgabe ihrer selbst leisten könnte, dann wird sie mit primitivsten Argumenten angegangen. Dabei gilt auch an dieser Stelle, was Theodor W. Adorno 1969 in der Ästhetischen Theorie so formulierte: „Regelmäßig wettern solche am heftigsten gegen die Anarchie der neuen Kunst, mit der es meist gar nicht so weit her ist, die durch grobe Fehler auf dem simpelsten Informationsniveau der Unkenntnis des Verhassten sich überführen; unansprechbar sind sie auch darin, dass sie, was abzulehnen sie vorweg entschlossen sind, gar nicht erst erfahren mögen.“[1]

Ein typisches Beispiel für das gerade Geschilderte ist ein Konflikt um Skulpturen von Ottmar Hörl in Wittenberg. Die Kunstwerke des 1950 geborenen Künstlers Ottmar Hörl sind immer wieder ein Lackmustest für die Bereitschaft, sich auf Fragestellungen der Kunst einzulassen oder sich ihnen zu verweigern. Ottmar Hörls Werke sind deshalb so geeignet dafür, weil sich bei bestem Wissen und Gewissen die Frage der Kunst kaum unmittelbar am Objekt entscheiden lässt, macht dieses sich doch ununterscheidbar von einem populärkulturellen Gebrauchs- oder Kitschgegenstand. Und anders als bei Arbeiten von Katharina Fritsch, bei denen sofort der kritische Einsatz des multiplizierten Plastikobjekts erkennbar ist, anders als bei Arbeiten von Jeff Koons, die immer durch Größe und Inszenierung ihre eigene Dekontextualisierung aus dem Genre des Kitsches beschwören, geht Ottmar Hörl zum Äußersten, macht seine Arbeiten geradezu ununterscheidbar vom banalen Gegenstand. Ich pflege am Anfang von Pfarrer- und Lehrerfortbildungen, aber auch bei Universitätsseminaren zum Thema Kunst immer ein Objekt von Ottmar Hörl mitzubringen, um mit meinen Gesprächspartnern zu überlegen, ob das und was daran Kunst sein könnte. Die Seifendose mit der Aufschrift UNSCHULD und einer Auflage von 82.000.000 wird dabei in der Regel nur über die Künstlersignatur als Kunstwerk identifiziert und ab und an noch über die Dauer des Gesprächs, das wir über das Objekt führen.

Bei einem dieser Gespräche stellte sich heraus, dass einer der Teilnehmer sogar ein Objekt von Hörl zu Hause stehen hatte, sich aber der Tatsache gar nicht bewusst war, dass es ein Kunstobjekt ist. Er hatte es sozusagen mit dem banalen Objekt verwechselt und als Souvenir mit nach Hause gebracht. Das sich daran anschließende Gespräch, was denn eigentlich Kunst ist und wie man das denn um Gottes willen erkennen soll, war höchst aufschlussreich.

Kommen wir nun zum aktuellen Geschehen in Wittenberg. Das ist deshalb so höchst aufschlussreich, weil hier eine Gemengelage unterschiedlicher Interessen und Intentionen vorliegt. Da sind zum einem die Initiatoren der EKD, die den Künstler eingeladen haben, um im Rahmen der sich nun über ein Jahrzehnt hinschleppenden Luther-Feierlichkeiten ein Event zu generieren. Ihre allzu deutliche Interessenlage erklärt viele der Missverständnisse, die später auftreten. Dann ist da die Stadt Wittenberg, die für eine gewisse Zeit auf die Statuen von Luther und Melanchthon auf dem Alten Markt verzichten muss und dem horror vacui durch ein Kunstevent begegnen wollte. Dann ist da der Künstler, der sich diese Einladung nicht entgehen lässt, um in der Logik seines bisherigen Œuvres die Serialität auch an diesem Thema zu erkunden. Und da ist die interessierte Stadtöffentlichkeit, die ganz verunsichert ist, ob denn die Bedeutung ihrer Stadt und der sonst durch die Skulpturen Geehrten durch diese Kunstaktion bzw. dieses Ereignis wirklich gefördert wird. Und da ist eine Medienöffentlichkeit, die schon seit einem Vierteljahrhundert daran gewöhnt ist, bei Kunstwerken nicht mehr nach der Kunst, sondern nur noch nach deren medialen Effekten zu fragen. Und das alles ist eine hochexplosive Mischung divergierender Motive.

Der formale Anlass ist also ein ganz banaler. Auf dem Marktplatz der Stadt Wittenberg steht seit 1821 eine Skulptur Martin Luthers, die seinerzeit von Johann Gottfried Schadow (1764-1850) geschaffen wurde, der als der wichtigste Bildhauer des Klassizismus gilt und den man gemeinhin mit der Quadriga auf dem Brandenburger Tor verbindet. (Auf der rechts abgebildeten Lithographie von Friedrich Ludwig Heine aus dem Jahr 1830 steht Schadow neben einem kleinen Modell des Lutherdenkmals.) Die Aufstellung des Lutherdenkmals fiel in eine turbulente Zeit der Stadt. 1814 war Wittenberg von den Preußen erobert und auf dem Wiener Kongress auch Preußen zugeschlagen worden. 1817 beschloss der Preußenkönig die Universität aufzulösen. Statt dessen bekam Wittenberg ein Predigerseminar und wurde Garnisonsstadt. Genau in dieser Zeit wurde Schadows Skulptur aufgestellt. Sie hatte also durchaus etwas mit kollektiver Identitätssicherung zu tun und das mit langfristigen Folgen. Maurice Halbwachs hat 1925 in seinem Buch „Das kollektive Gedächtnis“ geschrieben, "der Ort, an dem eine Gruppe lebt, ist nicht gleich einer schwarzen Tafel, auf der man Zahlen und Gestalten aufzeichnet und dann auswischt".[2] Die Etablierung oder Entfernung von Gestalten oder Skulpturen im öffentlichen Raum ist immer ein Prozess, der sorgfältig bedacht werden will und muss.

Und da für 2017 ein weltweit beachtetes Jubiläum in Wittenberg anstand, der 500. Jahrestag des so genannten Thesenanschlags Martin Luthers, sollten die Skulpturen auf dem Markt dem Anlass gemäß restauriert werden. Aber was macht man in der Zwischenzeit mit einem leeren Markt? Und hier kommt der anzitierte horror vacui Effekt zur Geltung, über den die Wikipedia so schön süffisant schreibt: “Auch die häufig zu beobachtende Neigung des Menschen, leere Räume zu füllen, wird mit einem psychischen ‚horror vacui’ begründet. In der Kunst und der Journalistik  bezeichnet sie zum Beispiel die Neigung des unerfahrenen Künstlers, leere Räume (des Papiers oder der Leinwand) mit Bild oder Text zu überdecken.“[3] Andere sehen in Leerräumen mediale Gelegenheiten, die man durch spektakuläre Events füllen kann. Und so beschließt man, den Künstler Ottmar Hörl um eine Aktion zum Ereignis und auf dem Platz zu bitten. Nun müssen sich die Intentionen der Veranstalter und des Künstlers keinesfalls decken – und wir sehen hier in Wittenberg ja auch ein gutes Beispiel dafür, wie glücklicherweise die Intentionen und die Arbeitsweise des Künstlers weit über das ursprünglich vom Veranstalter intendierte hinausgehen. Dass Ottmar Hörl gefragt worden ist, hat sicher mit seinen massenmedial beachteten Aktionen in Berlin (Bären), Nürnberg (Hasen), München (Gartenzwerge) und andernorts zu tun. Ich unterstelle jetzt einmal ohne es genau zu wissen, dass jemand gedacht hat, so etwas machen wir auch, da kommen Wittenberg, Luther und die Lutherstatue in die öffentliche Aufmerksamkeit und mit geringem Einsatz erzielen wir optimale Publizität. Und dass man das mit dem Etikett Kunst verbinden kann, ist ein guter Nebeneffekt. Ich unterstelle ebenso, dass die Veranstalter nicht wirklich wissen wollten, was Künstler wohl zur Sache beizutragen hätten, welche Einsichten sie vermitteln und welche Abgründe sie auftun. Es ging ihnen um Öffentlichkeit und nicht um Kunst.

Ottmar Hörl dagegen arbeitet als Konzeptkünstler mit diesen merkwürdigen Interessenlagen in künstlerischer Perspektive, sie sind für ihn ein Teil des Materials, mit dem er sich auseinandersetzt. Hörl ist kein Künstler, der Plastikfiguren herstellt (wie es ihm von einigen seiner unwissenden Kritiker in Wittenberg unterstellt wurde), sondern einer, der mit den Plastikfiguren in einem kommunikativen und künstlerischen Prozess arbeitet. Aber wie schon erwähnt, geht Hörl als Künstler wesentlich weiter als andere, er betreibt eine Mimesis an den seriellen Prozess, der auf Differenzmarkierungen verzichtet. Das macht ihn so interessant.

Prinzipiell könnte eine Stadtentwicklungsfirma oder ein Tourismusbüro hingehen und eine analoge Aktion mit einem Stadtsymbol ohne jeden Kunstaspekt machen. Münster also könnte zum Beispiel 1000 Kiepenkerle aufstellen. In der Sache bzw. phänomenologisch wäre da kein Unterschied. Aber Hörls Aktionen treten an den Betrachter heran mit dem Anspruch, durch ein Kunstwerk eine ästhetische Erfahrung auszulösen. Es geht eben nicht darum, Luther und Wittenberg bekannt zu machen. Das ist bloß das außerästhetische Material. Oder wie Hörl es im Fernsehen ganz direkt sagte: „Ich bin doch kein Ideologe!“ Genau, er ist Künstler und will und muss als solcher ernst genommen werden. Hörl arbeitet als Künstler in einer Zeit nicht nur der bloßen technischen Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, von der Walter Benjamin schrieb, sondern im Zeitalter der seriellen Produktion. Was bedeutet das für die ästhetische Erfahrung? Wird sie davon berührt, wird sie davon zerstört, wird sie davon nivelliert? Dieser Frage nicht auszuweichen, macht die Stärke der Arbeiten Hörls aus. Und genau das bildet die Zumutung an den Betrachter, der nun im Gespräch mit dem Künstler und seinen Objekten diese Frage beantworten muss. Kann das noch Kunst sein?

Ottmar Hörl hat in Wittenberg nun verkleinerte Abbildungen der Lutherskulptur von Schadow herstellen lassen. Dazu musste er verschiedene Materialfragen beantworten, die jeder Künstler klären muss, der ein Kunstwerk schafft. Hier zum Beispiel: Was ist die maximale Größe einer Plastikfigur, die noch in einem Stück hergestellt werden kann? Das waren eben jene 100 cm, die die Figuren jetzt haben. Daraus kann geschlossen werden, dass dieser Aspekt (= „aus einem Guss“) im Rahmen der Werkerfahrung eine Rolle spielt. Eine andere Frage wäre die nach der Farbgestaltung des Werkes: belässt man es bei der Farbe der Vorlage, wählt man andere Farben und wenn ja welche? Eine dritte Frage wäre die nach den Dimensionen der Serialität: Mit seiner Seifendose hatte Hörl 82.000.000 Objekte angezielt (die nach und nach aufgelegt werden sollten), wie entscheidet man das nun bei der Lutherskulptur? Hier war es der Marktplatz, der den Rahmen vorgab. Mehr als 800 Objekte ließen sich nicht realisieren. Wie organisiert man aber 800 Figuren auf dem Platz? … Alle diese Fragen müssen konzeptuell vom Künstler entschieden werden und laufen in den späteren Erfahrungsprozess bzw. Vergegenwärtigungsprozess mit ein. Selbstverständlich müssen daneben auch ganz banale Fragen geklärt werden, wie etwa: was kostet das Ganze und wer finanziert es?

Und mit der Realisierung des Konzepts treten dann „Resonanzen“ auf, die im ursprünglichen Planungsprozess vielleicht gar nicht so absehbar waren. Dazu gehören weniger der Widerspruch gegen die Objekte (der war absehbar), als vielmehr Überlagerungen mit der Vita Martin Luthers, zum Beispiel seinem Verhältnis zur Serialität und zur Ordnung. Das heißt, nun entwickeln sich weitere Lesarten, die die Erfahrung der Objekte von Hörl anreichern. Wer also spontan meinte, man dürfe Luther nicht als scheinbar banales serielles Objekt in der Öffentlichkeit vor Augen führen, wird darauf verwiesen, dass Lukas Cranach mit Luthers Einverständnis genau dies getan hat. Von keinem anderen Reformator besitzen wir so viele Porträts wie von Martin Luther. Die Personalisierung und Glorifizierung geht bis zur Selbstbezeichnung seiner Kirche und der Gestaltung ihrer religiösen Räume. Ich war gerade während eines Besuches im Ostfriesischen und konnte dort in einer ganz kleinen evangelisch-lutherischen Kirche gleich zwei künstlerische Porträts Martin Luthers bewundern, die so aufgehängt waren, dass niemand ihrem Anblick entgehen konnte. Das wäre bei den anderen Reformatoren weniger denkbar. Also verbindet Luther etwas mit dem Prinzip des Seriellen. Auch seine Kommunikation, darauf hat Hörl zu Recht an die Adresse seiner Kritiker gewendet hingewiesen, basiert auf dem mit dem Prinzip des Buchdrucks, des Flugblatts und der populären Grafik verbundenen Aspekt der Serialität. Und auch mit dem konzeptuellen Aspekt der Ordnung ließen sich derartige Resonanzen zu Luther und den damals entstehenden evangelischen Kirchen herstellen. Das macht die beeindruckende Dichte des Konzepts aus.

Kommen wir nun zu den Kritikern der Aktion und des Kunstwerks von Ottmar Hörl. Es gehört mit zum Konzept, dass seine Arbeiten auf Widerspruch stoßen. Würden alle nur nicken und begeistert applaudieren, wäre etwas falsch gelaufen im Erfahrungsprozess, weil man sie für beliebige touristische Souvenirs halten und sie auch so behandeln würde. Tatsächlich bieten sie aber Reibungsflächen. Und diese Reibungsflächen entfalten insbesondere im Blick auf das Bildungsbürgertum ihre Widerständigkeit. Diesem wird zugemutet, Dinge, die man ansonsten als Spielwiese des Kleinbürgertums verachtet, nun als (große) Kunst wahrnehmen zu müssen. Das ist der purifizierte Horror. Zum Grundbekenntnis des Bildungsbürgertums gehören „Die feinen Unterschiede“[4]: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute (Lukas 18,11). Und nun soll man etwas, das aussieht wie eine kleinbürgerliche Luther-Devotionalie als Kunst wahr(!) nehmen und sich damit auseinander setzen? Man muss sich vor Augen führen, wie demütigend das für das selbst eingebildete Bildungsbürgertum ist, um die Reaktionen vor Ort zu verstehen. Intuitiv konnte man durchaus erkennen, dass die ausgestellten Figuren kein Kitsch sind, sondern Reflexion der seriellen Produktionsprozesse des 20. Jahrhunderts. Man hat aber keine anderen Kategorien, um damit umzugehen, weil man sich – wenn man sich darauf einlassen würde – dem gemeinen Volk gleich machen würde. Wie also sich absetzen, wie Differenzen eintragen? Und da versagt das antrainierte System und es bleibt bei der vorästhetischen Reflexion: das ist doch Kitsch! Und weil man weiß, dass das nicht wirklich zutrifft, wird nun einiges nachgeschoben, was mit dem Kunstwerk als solchem aber auch rein gar nichts zu tun hat. „Mit diesem Kunstwerk mache man keine Werbung für Luther.“ Das ist der seit 200 Jahren anerkannte Sinn von autonomer Kunst, keine Werbung zu machen – das machen nur Designer und PR-Leute, aber nicht Künstler. Sie reflektieren allenfalls mit künstlerischen Mitteln darüber. „Mit der Bezahlung der Figuren betreibe man eine Art modernen Ablasshandel.“ Das ist das Dümmste, was ich in der ganzen Diskussion gehört habe. Dass es dann auch noch im Rahmen einer religiösen Aussage kommt, zeigt, wie einfältig diese inzwischen geworden sind. Was erkauft man sich denn für eine Minderung der Zeitstrafe im Fegefeuer, wenn man ein Objekt von Ottmar Hörl kauft? Mir fehlen wirklich die Worte, um meine Empörung über diese Art der willkürlichen und dummen Argumentation auszudrücken. „Das sei keine Kunst“ – das ist wenigstens ein halbwegs intelligentes Argument, auch wenn es nicht zutrifft. Denn in der Logik der abendländischen Kunstdiskurse ist man nun begründungspflichtig, warum nach künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten der zeitgenössischen Kunst die Objekte von Hörl diese Zuschreibung nicht erfüllen. Bürger zitieren aber gerne Kants Feststellung, dass Geschmacksurteile subjektiv seien, vermeiden aber Kants daraus abgeleitete Folgerung, dass sie deshalb im Gespräch mit anderen begründungspflichtig seien. Denn das Problem ist natürlich, dass man dann einen Einblick in die Kunst der Gegenwart haben müsste. Und da man das nicht hat, sagt man „Für mich ist das keine Kunst“ und meint damit, das Problem los zu sein. Tatsächlich – und das ist gerade die Leistung der Arbeiten von Hörl – fängt hier die ästhetische Debatte gerade erst an, denn nun muss mit Gründen um die Kunst gerungen werden. Ich sage, dass die Arbeiten Hörl für mich durchaus Kunst sind und würde die gerade aufgezählten Gründe einbringen. Und nun müssten wir Gespräche über Kunst führen.

Das ist aber nicht geschehen. Stattdessen gab es Verurteilungen und Abwertungen, bevor man das Konzept und die Kunst auch nur kannte. Und nicht einmal mit dem Œuvre des Künstlers hatte man sich auseinandergesetzt. Das ist aber das Mindeste, was man in einer kulturell ausdifferenzierten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts beim Streit um Kunst verlangen kann.

Anfang Februar 2010 veröffentlichte der evangelische Theologe Friedrich Schorlemmer eine, wie er schrieb, „Glosse zur Posse“. Die Wikipedia skizziert Schorlemmer einleitend knapp so: „Friedrich Schorlemmer (* 16. Mai 1944 in Wittenberge) ist ein deutscher evangelischer Theologe, Bürgerrechtler und Mitglied der SPD. Er war ein prominenter Protagonist der Opposition in der DDR und ist weiterhin politisch aktiv.“

Der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit ist Schorlemmer in den letzten Jahren vor allem dadurch bekannt geblieben, dass er zu allem und jedem etwas zu sagen hat – unabhängig davon, ob er auf dem entsprechenden Gebiet auch über fachliche Kompetenzen verfügt. Das ist sein gutes Recht als Demokrat. Kompetenz weist sich aber durch die Solidität der Argumente und nicht durch bloße Meinungsäußerungen aus. Daran ist auch Schorlemmer zu messen.

Das Schöne und Ehrliche an Schorlemmers Glosse ist nun, dass er von vornherein einräumt, keinerlei Sachkenntnisse zu haben, sich aber trotzdem äußern möchte. Selten habe ich einen polemischen Text gelesen, in dem die Worte „wie es heißt“ – „höre ich“ eine so tragende Rolle spielen. Schorlemmer argumentiert mit anderen Worten aus dem Hörensagen. Und das wird auch aus der sachlichen bzw. eher unsachlichen Argumentation deutlich. Es ist eben bloß Hörensagen. Und um auch das deutlich zu sagen, das Niveau, auf dem er sich äußert, ist Stammtischniveau. Schorlemmer bedient die niedrigsten Instinkte. Da darf der Verweis auf das Geld nicht fehlen, das für diese Kunst ausgegeben wird, da darf die persönliche Herabsetzung nicht fehlen, wenn er die Kritisierten selbst als Zwerge bezeichnet („Seit Silvester gibt es in Wittenberg Streit um Zwerge, um nicht zu sagen Streit zwischen Zwergen.“) Da darf man, bevor noch Kunst und Konzept überhaupt nachvollziehbar bekannt sind, das Ganze als Marketing-Gag abtun. Da darf man Rufmord betreiben, indem man schreibt, man habe gehört(!), dass Hörl Gartenzwerge mit Hitler-Gruß „nur so“ als Provokation aufgestellt habe. Da darf man ein Kunstwerk einfach vorab als „verrummelte Luthervermarktung“ bezeichnen. Und das Faszinierende daran ist, dass mit jedem Satz deutlich wird, dass Schorlemmer sich mit dem Kunstwerk überhaupt nicht beschäftigt hat. Seine Glosse umfasst nur zwei DIN A 4 Seiten, schafft es aber, sich in dieser Kürze gleich mehrfach selbst zu widersprechen was Material, Zahl und Konzept des Kunstobjekts angeht.

Ansonsten macht Schorlemmer aber genau das, was ich einleitend als Charakteristikum vieler evangelischer Pastoren beschrieben habe. Er demonstriert, dass er eigentlich der bessere Künstler wäre: „Um nicht als jemand zu gelten, der ‚immer gleich eine Idee zerredet’, aber aussprechen will, was sprachlos macht, sage ich: ‚Wenn schon denn schon.’ Also: die Idee vervollkommnen und Luther selbst zum Sprechen bringen.“ Und was dann folgt, ist an Primitivität kaum noch zu überbieten: „Da dieser Gummi-Luther nichts im Kopf hat, aber ‚eine Botschaft in die Welt tragen soll,’ bekommen alle einen Schädelschlitz: ‚Wenn das Geld im Köpfchen klingt, Luther aus dem Zwerglein springt.’ Wenn man 50 Cent reintut, predigt er gegen die Vogelfänger.“ Und das sind erst die ersten beiden Sätze. Es kommt immer noch schlimmer: „Wer 50 Euro zu berappen bereit ist, für den singt Luther ‚Ein feste Burg ist unser Schrott. Mit uns’rer Macht ist nichts getan, wir sind gar bald verloren. Die Zwerg’ sie sollen lassen stah’n und kein Dank dazu haben. Die Plaste steht mit auf dem Plan…’“ Und es fehlt auch nicht der Seitenhieb auf aktuelle Diskussionen im Protestantismus, die nun mit der Kunst von Hörl aber auch rein gar nichts zu tun haben: „Da es nun einige EKD-Reformer so mit Leuchttürmen haben, könnte in der Mitte ein riesiger Leucht-Hammer aufgestellt werden, mit einer Sichel, Futterschneide für die Dürer-Hasen-Imitation des Aktionskünstlers.“ Man fragt sich, ob man jemanden noch Ernst nehmen kann, der so etwas – und sei es im Rahmen einer Glosse – schreibt oder ob man ihn nicht aus tiefstem Herzen bemitleiden muss ob dieser Engstirnigkeit und Eingeschlossenheit im Ghetto des binnenkirchlichen Milieus. Sicher, wenn es eine sprachlich ausgefeilte Glosse wäre oder ein Essay mit Esprit oder wirklich eine Persiflage (charakterisiert durch eine gewitzte und geistvolle Verspottung), dann könnte man über Vieles vielleicht hinwegsehen. Aber weil Schorlemmer vor laufender Kamera – und dort jenseits aller Etikettierungen als Glosse – den gleichen Unsinn wiederholt, ist klar, dass es am wenigsten um Ironie geht, sondern dass es ihm Ernst ist. Und dann ist es nur noch lächerlich.

Zugleich versichert Schorlemmer – übrigens ganz im Stil von Methusalix (Ich habe nichts gegen Fremde, aber dieser Fremde ist nicht von hier) –, dass er nichts gegen Kunstinszenierungen an sich habe, aber sie müssten Sinn machen und dazu verhelfen, „zur Sache selbst vorzustoßen“. Das ist die alte lutherische Verachtung und Abwertung der Bildenden Kunst, die diese nur schätzt, wenn sie als didaktisches Mittel geeignet ist. Hier unterscheidet sich Schorlemmer in nichts von den von ihm kritisierten Marketingleuten. Kunst ja, aber nur wenn sie der Sache (Luthers) dient.

Dass Luther selbst, wie Schorlemmer darüber hinaus schreibt, alle Luther-Personalisierung abgelehnt habe, dürfte man im Blick auf dessen Rezeption in seiner eigenen Kirche mit Recht als Treppenwitz der Weltgeschichte bezeichnen. Hätte er das Gleiche im Blick auf die reformierte Theologie gesagt, hätte man ihm folgen können („Sie finden uns anzuhängen keine größere Schmähung, als dies Wort ‚Calvinismus‘. Doch ist’s nicht schwer zu vermuten, woher solch tödlicher Hass kommt, wie sie ihn gegen mich haben.“ Johannes Calvin), aber dass ein Lutheraner(sic!) meint, das Luthertum betreibe keinen Personenkult, ist nun wirklich absurd.

In einem Punkt freilich reibt sich Schorlemmer zu Recht an der Wittenberger Aktion. Und dieser Punkt betrifft die Intention der Veranstalter. Diese haben tatsächlich auf Öffentlichkeit, Tourismus und Bekanntheit spekuliert, diese haben die Kunst instrumentalisiert. Das hat aber mit der Kunst von Ottmar Hörl als solcher nichts zu tun. Von jemandem mit Vernunft und Bildung muss ich erwarten können, dass er das zu unterscheiden vermag. Der Einspruch kann nur lauten, dass man sich dagegen verwahrt, dass Kunst zu (theologischen oder touristischen) Marketingzwecken missbraucht wird. Ottmar Hörl trifft das aber, wie gesagt, in keiner Weise, ist doch gerade das das Material/der Rahmen/der Kontext mit dem er arbeitet und den er in der Inszenierung vorführt. Das ist aber auch jedem einsichtig, sonst müsste man unterstellen, seine Gartenzwerge mit Hitlergruß seien Ausdruck einer nationalsozialistischen Gesinnung. Das sind sie eben nicht, wie auch seine Lutherfiguren kein Ausdruck lutherischer Gesinnung sind. Hüten wir uns vor Künstlern mit religiösen Gesinnungen, sie verwechseln Kunst mit Ideologie. Wer Ottmar Hörls Kunstaktion als Marketingaktion liest, hat überhaupt nichts begriffen. Sie ist eigentlich das pure Gegenteil. Hier steht die Gleichförmigkeit und Ideologie auf dem Prüfstand und jeder kann an sich die Probe aufs Exempel machen. Man muss es nur wollen und nicht sofort die Augen schließen und einen Furz des Unbehagens von sich geben.

Und damit kommen wir zu zwei anderen Protagonisten der kulturellen Ignoranz in dieser Sache. Die Plattform evangelisch.de, die sich auch sonst durch besondere journalistische Sorgfalt auszeichnet, befragt im Vorfeld zwei Experten, was sie denn von der Aktion halten. Und nun kann man sich fragen, an welche Experten man sich wohl gewendet hat. Wer wäre kompetent, über die Installationskunst eines Konzeptkünstlers am Anfang des 21. Jahrhunderts begründet zu urteilen? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten bzw. so schwer, dass es evangelisch.de erst gar nicht versucht. Statt dessen wendet man sich an zwei Leute, deren Arbeitsfeld in einem kontradiktorischen Verhältnis zur zeitgenössischen Kunst steht, nämlich an zwei PR-Leute, die nichts anderes zu tun haben, als alles auf die Formel „um zu“ zu bringen. Auftritt Nummer eins: Klaus Kocks, seines Zeichens PR-Berater und früher VW-Kommunikationschef: "Luther würde mit dem Tintenfass nach den Initiatoren werfen". Na ja, das mit dem Tintenfass ist eine fromme lutherische PR-Legende, keinesfalls historisch belegt, aber wir wollen es nicht so genau nehmen. Die Kunstaktion sei jedenfalls "peinlich und kontraproduktiv". "Form und Art des Auftritts" stünden im Widerspruch zu Luther und seiner Lehre und die Aktion könne daher keine Werbung für den Protestantismus machen. Na ja, das mit der Ausschließlichkeit von Kunst und Werbung hatten wir ja schon. Dass er sich aber nicht entblödet, die dümmste aller Fragen vor zeitgenössischer Kunst auszusprechen, macht ihn dann schon beinahe wieder sympathisch: "Was will der Künstler denn damit aussagen?" Hach, da sind sie wieder, die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als eine Generation, die die Kunst bei den Initiatoren der Ausstellung „Entartete Kunst“ gelernt hatte, diese Frage vor der damals zeitgenössischen Kunst immer und immer wieder stellte. Kunst als Botschaft – da kommen einem Tränen der Erinnerung in die Augen. Aber bei aller Nostalgie, es wird dadurch nicht besser. Seit der Romantik sind vor der Kunst Subjekte gefragt und nicht Befehlsempfänger künstlerischer Botschaften (und auch nicht Manipulationsobjekte von Werbestrategien).

Den Chor der Ahnungslosen ergänzt Eva Jung, die selbst Werbung für christliche Inhalte macht (als ob nicht auch das ein performativer Widerspruch wäre) und unter anderem für die Deutsche Bibelgesellschaft Design und Werbung für Übersetzungen des "Buchs der Bücher" verantwortet hat. "Werbende wissen, dass für die Botschaft nur eine winzige Aufmerksamkeitsspanne zur Verfügung steht", so Jung. Um die Idee der Luther-Figuren zu begreifen, brauche es aber mehr Beschäftigung - die meistens nicht investiert wird, ist sie sich sicher. Weil die Menschen also zu blöd sind, darf man ihnen mit Kunst gar nicht erst kommen und soll sich gleich an die Werbeindustrie wenden, die für Ansprachen an Verblödete spezialisiert ist? Selten habe ich so offenherzig die Verachtung für die Kunden ausgesprochen gehört. Bloß nicht zu kompliziert, das verstehen die eh’ nicht. Und wenn Kunst, dann nur solche, die man sofort versteht. Und da es die nicht gibt, erteile man lieber gleich einen Auftrag an eine Werbeagentur, die machen dann professionelles Design und effektive Werbung für Martin Luther.

Zum Schluss möchte ich Ottmar Hörl zu Wort kommen lassen, um zu zeigen, wie unterschiedlich der Umgang mit eigenen und fremden Diskursen sein kann. Im Interview mit evangelisch.de sagt Hörl zu seinen Intentionen: „Eine Arbeit wie diese sollte so angelegt sein, dass sie in der Lage ist zu kommunizieren. Das merke ich hier auch schon. Luther ist ein europäisches Thema, ja ein Weltthema, und die Menschen stellen fortwährend Fragen dazu. Sie wissen gar nicht so genau, was das alles letztendlich bedeutet. Dass diese Arbeit vielleicht eine Art Feedback an Bildung auslöst, finde ich einen sehr guten Nebeneffekt. Aber ich erwarte nichts Besonderes. Eine künstlerische Arbeit im öffentlichen Raum ist ein Kommunikationsmodell, bei dem sich Menschen streiten und mit Bildern beschäftigen. Es geht nicht darum, dass sie danach mehr von Kunst verstehen, sondern darum, dass sie sich überhaupt gerne mit Kunst auseinandersetzen.“

Und angesprochen auf die Kritik von Klaus Kocks (Luther würde mit einem Tintenfass werfen) entgegnet Hörl: „Bei der seriellen Idee geht es darum, etwas so zu gestalten, dass viele Menschen daran teilnehmen können. Dürer, Luther und viele andere haben damals angefangen, ihre Arbeit als eine Art von Aufklärung zu verstehen. Wenn der Buchdruck damals nicht gewesen wäre, hätten sie das nicht tun können. Dürer hat seine Radierungen auf Messen in Serie verkauft. Luther hätte sehr schnell verstanden, was ich hier mache – und zwar eher als viele andere.“ Da hat er recht. Und genau das scheint mir auch die Differenz zwischen guten Künstlern einerseits und manchen Pastoren bzw. Veranstaltern andererseits zu sein. Dass sich nämlich letztere doch immer nur um ihre Sache kümmern, dass Künstler aber den religiösen Diskurs zu ihrem Material machen, mit dem sie sich auseinander setzen, den sie bearbeiten, den sie de-konstruieren und künstlerisch befragen. In diesem Sinne nehmen die Künstler wahr und die anderen nicht. Dass Pfarrer und Veranstalter so agieren ist so lange nicht schlimm, solange Kunst zu Stande kommt, aber es wird gefährlich, wenn Kunst dadurch erdrückt zu werden droht, wenn sie nicht mehr zu sich selbst kommt. Und genau dafür ist die Aktion in Wittenberg ein Grenzfall.

Unabhängig davon, wie man persönlich zur Kunst von Ottmar Hörl steht, so kann meines Erachtens nicht bestritten werden, dass das Ergebnis seines künstlerischen Engagements in den Betrachtern einen Frage- und Erkenntnisprozess auslöst, der ein Gewinn ist, weil sie lernen, etwas wahrzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen.

P.S.: Als ich in den Tagen des Aufbaus der Installation das Geschehen auf der Webcam der Stadt Wittenberg verfolgte, war ich mir irgendwie sicher, dass Friedrich Schorlemmer, der seine Bedenken ja im Vorfeld geäußert hatte, ohne Konzept und Werk zu kennen, nun Einsicht zeigen und äußern würde, dass er sich geirrt habe. Und dass er sagen würde, dass das, was er am Kunstwerk zu vermissen glaubte, in Wirklichkeit zentraler Bestandteil des Werkes ist. Statt dessen wiederholt er nur, was er vorher schon gesagt hat bzw. verschärft es dahingehend, dass es sich definitiv um Kitsch handele. Lernfähig in Sachen Kunst ist er offenkundig nicht, er pflegt seine Wahrnehmungsstörung.

Anmerkungen

[1]    Adorno, Theodor W. (2005): Ästhetische Theorie. Frankfurt M.: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft), S. 349

[2]    Halbwachs, Maurice; Maus, Heinz (1985): Das kollektive Gedächtnis. Ungekürzte Ausg… Frankfurt a. M.: Fischer (Fischer, 7359 : Fischer-Wissenschaft), S. 130.

[3]   Wikipedia, Art. Horror vacui

[4]   Bourdieu, Pierre (2000): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 658).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/67/am327.htm
© Andreas Mertin, 2010