Einladung zur Wahrnehmung

Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit

Andreas Mertin

Karpeles, Eric (2010): Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit: DuMont Buchverlag.

„Die gesellschaftlichen, die erotischen und die sinnlichen Zeichen sind Zeichen von Zeit, die man verliert und verloren hat, aber in den sinnlichen Zeichen des unwillkürlichen Gedächtnisses lässt die Zeit sich wiederfinden, wenn Kunst die jeweilige Essenz der Erfahrungen freisetzt. Sie sind Leben, das auf die Offenbarung der Kunst vorbereitet und wiederum ohne die Kunst nicht in seine Wesen verständlich wäre.“ – Das schreibt Walter Schöpsdau in seinem theologischen Blick auf Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ in diesem Heft des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik.[1] Aber welche Werke der Kunst und welche Künstler nimmt Marcel Proust in der Verlorenen Zeiot eigentlich in den Blick und wie geht er damit um? Dieser Frage geht der Künstler Erik Kapeles in dem hier vorzustellenden Kunstbuch „Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit“ nach. Kaum ein Autor, so heißt es in der Ankündigung des Buches zu Recht, „hat Gemälde so vollendet als Gestaltungsmittel einzusetzen gewusst wie Marcel Proust. In seinem Roman ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit’ zeichnet er seine Figuren anhand von erinnerten Bildern der europäischen Kunstgeschichte.“ 

Und so stellt Erik Kapeles auf 350 Seiten die anzitierten, beschriebenen, assoziierten Bilder vor, mit den Proust seine Werk gestaltet hat. Einleitend geht er in einem Essay unter dem Zitat-Titel „Mein Buch ist ein Gemälde“ der ästhetischen Argumentation, der „Geschwisterbeziehung von zwischen Malen und Schreiben“ bei Proust nach. Und dann folgen entsprechend den sieben Bänden der „Suche auf der verlorenen Zeit“ die Abbildungen und Zitate im Korrespondenzverhältnis. Zunächst paraphrasiert Kapeles den Erzählungskontext, darunter folgt das Zitat aus der Verlorenen Zeit und gegenüber wird das Kunstwerk abgebildet.

Was sich vielleicht in der Beschreibung etwas spröde anhört, ist es in der Sache ganz und gar nicht. Man schlägt das Buch auf und beginnt zu blättern, man liest die assoziative Verknüpfung durch Marcel Proust und studiert dann das Kunstwerk. Und dann greift man zu seiner Proust-Ausgabe und beginnt noch einmal nachzulesen, ist angeregt und fasziniert. Dann kehrt man zurück zum Kunstbuch, blättert weiter und ist erstaunt, welche Breite und Fülle von Kunstwerken zur ästhetischen Argumentation Prousts gehören. Und dann kann man den umgekehrten Weg einschlagen und zunächst die Kunstwerke betrachten und überlegen, welche visuellen Einsichten sie vermitteln. Deutlich wird einem unmittelbar wie sehr wir diese Kunst der Argumentation mit Bildern inzwischen verlernt haben. Wir beherrschen weder die romantischen Gespräche vor Gemälden noch das Argumentieren mit ihnen. Wir urteilen über Bilder (und das auch nur mit primitiven Geschmacksurteilen), aber nicht mehr mit ihnen. Kapeles zeigt in seiner Gegenüberstellung, wie das geht, wie Proust von der detaillierten Beschreibung bis zum zarten Verweis Kunstwerke in die Lebenswelt einbaut.

Dieses wunderschön ausgestattete Buch ist ein Muss – für Proust-Leser und solche, die schon immer vorhatten, sich mit der Suche auf der verlorenen Zeit zu beschäftigen, aber auch für jeden an der Geschichte der Bildenden Kunst Interessierten, der lernen möchte, wie sehr einmal Bildende Kunst und schriftstellerische Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit miteinander verflochten waren.



[1]    Schöpsdau, Walter (2010): Die Gnade der Zeichen. Ein theologischer Blick auf Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 12, H. 67. https://www.theomag.de/67/ws1.htm

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/67/am330.htm
© Andreas Mertin, 2010