Gefühl(e) |
Motion and EmotionTheologische Ouvertüre zum Thema Tanz und Religion[1]Harald Schroeter-Wittke Tanz und Religion ein weites Feld, in dem es sich vortrefflich drehen und wenden lässt. Meine Ouvertüre zum Reigen tanzender Theologie[2] bietet dabei weniger einen Überblick als vielmehr, der Bewegung des Themas angemessen, einen Gedanken-Gang. In 6 Auftakten verorte und erörtere ich grundlegende Fragestellungen im Spannungsfeld von Tanz und Religion, vornehmlich im Kontext des Christentums. Mein Gedanken-Gang steht unter dem Diktum eines der populärsten evangelischen Theologen des 20. Jh., Heinz Zahrnt (1915-2003), von dem der Satz kolportiert wird: "Das Reich Gottes lässt sich nicht ertanzen." Andere behaupten, Zahrnt habe vor der Illusion gewarnt, "man könne dem deutschen Protestantismus eine Zukunft ertanzen"[3] bzw. "daß Welt und Christentum nicht tanzend gerettet werden können"[4]. Wieder andere meinen, er habe "beteuert, man werde die Wahrheit auch in Zukunft nicht ertanzen"[5]. Ich habe Zahrnts legendären Satz bislang in den Quellen nicht verifizieren können. Was immer er auch gesagt haben mag, es wird hier eine gewisse protestantische Skepsis gegenüber dem Tanzen deutlich. Die Skepsis mitnehmend geht mein erster Auftakt daher nach Düsseldorf. Auftakt 1: Düsseldorf 1973 Am Tanzen scheiden sich die Geister15. Deutscher Evangelischer Kirchentag in Düsseldorf 1973 mit der Losung "Nicht vom Brot allein": Der Kirchentag ist an seinem Tiefpunkt angekommen. Nur noch knapp 7.500 Dauerteilnehmende und 10.000 Tagesteilnehmende besuchen ihn. Auch der Schlussgottesdienst im Rheinstadion ist mit nur 24.000 Menschen mager besucht. Der Kirchentag als Diskursveranstaltung zieht immer weniger. An seinem Tiefpunkt werden jedoch zugleich zwei grundlegende Innovationen inszeniert, die den Kirchentag in den folgenden Jahren wieder boomen lassen auf über 100.000 Dauerteilnehmende ab den 1980er Jahren.[6] Das eine ist das sog. KIZ, das Kommunikations- und Informationszentrum, der Vorläufer des ab 1975 so genannten Marktes der Möglichkeiten. Mit diesem Veranstaltungsformat wird die Partizipation der Teilnehmenden institutionalisiert. Die zweite grundlegende Innovation ist eine Liturgische Nacht, die von mehr als 4.000 Menschen gefeiert wird. Manfred Linz beschreibt das Neuartige dieses Veranstaltungsformats so: "eine dreieinhalbstündige Veranstaltung irgendwo zwischen Pop-Festival und Abendmahlsgottesdienst."[7] Thorsten Scharnhorst berichtet in der Sonderausgabe der rheinischen Kirchenzeitung "Der Weg": "Dieser Gottesdienst als Happening gestaltet sich, von behutsamer Regie geleitet, zu einem mitreißenden Akt seelischer Befreiung. Für die meisten, die sich anregen ließen von den hämmernden Rhythmen der Christen-Combo, war dieses Pop-Festival der Religion eine momentane Befreiung von den Fesseln der Konvention. Für die wenigen, die sich der exotischen Faszination ungehemmt hingaben, wurde das hinausgeschriene Gebet zu einem Erlebnis der Ekstase. Da lagen sich Menschen in den Armen, die sich nie vorher gesehen hatten. Da tanzte jung und alt miteinander, als gäbe es nicht Jahre und Auffassungen, die sie voneinander trennten. Und immer wieder heiße Musik, geschürt von dem indischen Meditationslehrer Dr. Ronny Sequeira.[8] Schlager zum Lob Gottes. Wilder Ringelreihen, mit tausenden Füßen auf den Boden der nüchternen nackten Halle gestampft. Zum Dank an Jesus Christus. Hände, die sich mit denen des Nachbarn verschlangen, hochgereckt, als wollten sie ein Stück aus dem Himmel reißen, der den Menschen in dieser lebensvollen Nacht in so unbändiger Heiterkeit nähergekommen zu sein schien."[9] Dieses Woodstock des deutschen Protestantismus wurde musikalisch geleitet von dem Katholiken Piet Janssens (1934-1998) und theologisch begleitet u.a. von Hans-Eckehard Bahr (*1928), Friedrich Karl Barth (*1938), Peter Cornehl (*1936), Uwe Seidel (1937-2007) und Dieter Trautwein (1928-2002). Mit der Liturgischen Nacht 1973 lernten tausende Protestantinnen und Protestanten das Tanzen wieder als Ausdrucksform des Glaubens. Im offiziellen Dokumenteband wird die Liturgische Nacht jedoch nur am Rande erwähnt. Sie wird schließlich in einem eigenständigen Band dokumentiert. Mit der Liturgischen Nacht wird der Kirchentag auch in seinem spirituellen Zentrum zunehmend erlebnis- und nicht wie bislang vorwiegend ergebnisorientiert, er wird zunehmend Popkultur, Event.[10] Während jener berühmten Liturgischen Nacht 1973 spielt der Tanz eine so wichtige Rolle, dass der Kirchentagspräsident, Heinz Zahrnt, sich zu seinem Bonmot von der Nichtertanzbarkeit des Reiches Gottes, der Wahrheit oder der Zukunft des Protestantismus genötigt sah, so als ob das Reich Gottes etwa erdacht, ersungen oder erbetet werden könnte. Wie in einem Nukleus lassen sich an jenen Geschehnissen die Schwierigkeiten und Ängste des Protestantismus mit dem Tanzen zeigen. Auftakt 2: Zwei Schritte vor, einer zurück Von den Problemen der protestantischen Kultur mit dem TanzenDer Protestantismus hat Probleme mit dem Tanzen. Ich nenne 6 springende Punkte: 1. springender Punkt: Popkultur Das Tanzen ist im 20. Jh. besonders durch die Rockmusik und die Popkultur auf die alltagskulturelle Tagesordnung gesetzt worden.[11] 1973 steht der Kirchentag an seinem Wendepunkt zur Popkultur, die er stellvertretend und vor-läufig[12] für den gesamten Protestantismus vollzieht. Der Protestantismus, der seit dem 19. Jh. mit seinen konstruktivsten Erscheinungen vor allem in der bürgerlichen Elite der Gesellschaft eine kritische Heimstätte gefunden hatte, tat und tut sich schwer mit der Masse,[13] mit der Popkultur und der Unterhaltung als eine ihrer wesentlichen Dimensionen.[14] Der Protestantismus will sich weder lächerlich machen noch Perlen vor die Säue werfen. Daher warnt er immerzu vor der billigen Gnade und fürchtet sich vor deren massenhaften Ausverkauf. Deshalb bleibt er ernst und muss gleichzeitig gegen die Inflation der Billigkeit immer wieder beteuern, dass er keine Spaßbremse sei. Dabei ist die Gnade doch gar nicht billig, sondern umsonst. Wie dem auch sei meine Charakterisierung des Protestantismus ist heute größtenteils glücklicherweise Karrikatur. Dennoch steckt dem Protestantismus seine moderne Aversion gegen Popkultur und die Unterhaltung als einem eigenständigen Sinnsystem immer noch tief in den Knochen. 2. springender Punkt: Ekstase und Rausch[15] Wer tanzt, geht aus sich heraus, ek-sistiert. Wer tanzt, bringt seinen Körper so ihn Schwung, dass er oder sie nach gewisser Zeit völlig außer sich ist. Tanzende existieren nicht nur, sondern befinden sich in ek-stasis, jenseits der Statik, jenseits des festen Unbewegten, außerhalb der Ordnung. Tanzende fallen aus dem Rahmen, tanzen aus der Reihe, geraten außer sich. Deswegen kann uns Tanzen auch so berauschen, z.B. bei einem rauschenden Ball. Alle diese Phänomene sind verbunden mit einem Kontrollverlust. In ihnen sind wir nicht mehr länger Herr im eigenen Haus, obwohl oder gerade weil sie ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung von uns verlangen. Die Ekstase und der Rausch hatten es besonders im Protestantismus immer schon schwer, wenn sie nicht gerade nahezu unbemerkt völlig verinnerlicht bzw. im stillen Kämmerlein oder gar nur im Keller stattfanden. Dass solche Verinnerlichung auch ein hohes Gut sein kann, lässt sich z.B. in einem Orgelkonzert oder beim Hören der großen Oratorien evangelischer Kirchenmusik erleben. Aber das körperliche Ausagieren solcher Ekstase hat im Protestantismus erst in der 2. Hälfte des 20. Jh. langsam wieder Eingang gefunden, z.B. in John Neumeiers getanzten Bachpassionen. Dies hängt mit einer spezifischen Einstellung des Protestantismus zum menschlichen Körper zusammen. 3. springender Punkt: Körper[16] Der Medienphilosoph und Kulturanthropologe Vilém Flusser (1920-1991) beschreibt die Menschwerdung ungefähr so:[17] Nachdem die Bäume in der Steppe durch eine ökologische Katastrophe größten Ausmaßes plötzlich zu weit auseinander standen, fiel der Nochnichtmensch von den Bäumen. Wir wissen nicht warum, aber er blieb dort nicht wehrlos liegen, sondern erhob sich und begann, aufrecht zu gehen, aufrichtig zu sein und sich der Niedertracht entgegen zu stemmen, obwohl es im Kampf der Evolution viel ungefährlicher gewesen wäre, unaufrichtig und niederträchtig zu sein, weil man dann eben nicht so schnell erkannt wird. So nahm der Mensch seinen Ausgang bei den Füßen. Seitdem ist ihm die Welt vorderhand und er trachtet danach, sie zu begreifen und dann zu behandeln, um sie sich zuhanden zu machen. Alle diese elementaren körperlichen Tätigkeiten spiegeln sich im Tanz, der wahrscheinlich frühesten menschlichen Kunstform. In seiner bis heute bewundernswerten Weltgeschichte des Tanzes von 1933 bemerkt Curt Sachs (1881-1959) schon zu Beginn: "Seit der Steinzeit hat der Tanz ebenso wenig neue Formen wie Inhalte aufgenommen. Die Geschichte des schöpferischen Tanzes spielt sich in der Vorgeschichte ab."[18] Wie alle menschlichen Kunstformen auf je ihrem Gebiet, so realisiert das Tanzen in Bezug auf Körper und Raum "in weitem Maße das Bestreben, sich den normalen Operationsketten zu entziehen, etwas zu schaffen, das den alltäglichen Zyklus der Positionen im Raum zerbricht"[19]. George Leonard (1923-2010) hat daraus eine grundlegende anthropologische Einsicht formuliert: "Woraus besteht der Körper? Er besteht aus Leere und Rhythmus. Im Innersten des Körpers, im Herzen der Welt gibt es keine feste Materie: Es gibt nur den Tanz."[20] "Ohne Körper geht nichts."[21] Dies ist eine Einsicht der jüngeren Pädagogik, die auch für die Theologie fruchtbar ist.[22] Beide waren im Zivilisationsprozess darin miteinander verbunden, dass der Körper als ein zu zivilisierender Ziel von Frömmigkeit und Erziehung und gleichzeitig Maßnahme der Frömmigkeit und Erziehung war, was sich z.B. im Phänomen der Züchtigung besonders deutlich zeigt. Was Walter Herzog für die Pädagogik beschrieben hat, gilt mutatis mutandis auch für die protestantische Frömmigkeits- und Theologiegeschichte bis weit ins 20. Jh. hinein: "Die Aussperrung des Körpers führt zu Identitätsproblemen. [¼] Schulische Sprache und schulisches Denken gleichermaßen halten sich den Körper »vom Leibe«. Sprach- und gedankenlos ist er sich selbst überlassen."[23] Gegen diese Tradition hilft pädagogisch wie theologisch nun aber auch kein Körperkult. Denn unser Körper ist durch eine grundlegende Ambivalenz gekennzeichnet: Wir sind Körper, und wir haben zugleich einen Körper. Unser Körper ist uns zugleich vorgegeben und aufgegeben. Der Körper ist als gesetzter, als mein Gesetz, mein Gefängnis und zugleich der Ort, an und in dem ich Befreiung erlebe. Er bestimmt mich ebenso wie ich ihn bestimme. "Ich elender Mensch!" So klagt der Apostel Paulus am Ende des 7. Kapitels im Römerbrief. "Wer wird mich erlösen von diesem Leibe des Todes?" (Röm 7,24) Und ohne weitere Argumente fährt er lapidar lobend fort: "Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!" (Röm 7,25) Derselbe Paulus stellt im 1. Korintherbrief als Erläuterung der bemerkenswerten christlichen Erkenntnis "Alles ist mir erlaubt" (1. Kor. 6,12) die Frage: "Oder wisst ihr nicht, dass euer Körper ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?" (1. Kor. 6,19) Diese doppelte Qualifizierung des Körpers als Geschöpf Gottes und damit Tempel des Heiligen Geistes auf der einen Seite und als todverfallener corpus auf der anderen Seite macht die theologische Aufgabe aus, nicht nur Tanz, sondern auch Leib-Leben theologisch zu denken.[24] 4. springender Punkt: Erotik / Sexualität Wer tanzt, gerät in Bewegung, ins Schwanken und Wanken, ins Hin und Her, ins Kreisen um einander und um sich selbst.[25] Tanzen ist nicht ergebnis-, sondern erlebnisorientiert. Tanzen ist auch nicht zielorientiert, sondern selbst genügsam, ja mitunter auch selbstverliebt. Wer tanzt oder auch Tanzenden zuschaut, z.B. Pina Bauschs (1940-2009) Tanztheater, wird entführt in eine Traumwelt, verführt in eine andere, mitunter verbotene Welt. Tanzen zeigt uns unsere körperlichen Begrenzungen auf und lehrt sie uns zugleich überschreiten. Tanzen hält Grenzen offen. Tanzen ist an- und ausziehend. Wer Tanzen geht, verkleidet sich vielfach vorher, sei es beim Maskenball, sei es beim Aufbrezeln für die Disco. Offenbarung und Verhüllung geschehen hier zugleich. Tanzen hat es daher fast immer auch mit Erotik und Sexualität zu tun, mit Attraktivität und schönem Schein, mit Grazie einem Phänomen, welches nicht nur Anmut bedeutet, sondern auch Gnade gratia. Der Gütersloher Tanzlehrer Gerd Weissenberg, in den 70er Jahren fünffacher deutscher Latin-Meister, behauptete vor einigen Jahren in einem Fernsehportrait: "Tanzen ist sauberer Sex." Doch seine Tanzpartnerin und Frau Helga Stüwe brach sofort in Lachen aus und konterte: "Das habe ich ja noch nie von dir gehört." Bei aller Sauberkeit, Tanzen bleibt im Zwielicht. Tanzen lässt sich nicht aufklären. Wer tanzt, dem oder der kann schwindelig werden, er oder sie kann aus dem Gleichgewicht geraten. Solche Phänomene waren dem Protestantismus aber häufig suspekt. 5. springender Punkt: Rhythmus[26] Was uns am Tanzen hält, sind die Rhythmen, die unserer Welt allererst Struktur verleihen. In der abendländischen Musiktradition spielen Melodik und Harmonik jedoch eine gewichtigere Rolle als der Rhythmus. Ganz anders die Rock-, Pop- und Jazzmusik. Hier ist die Rhythm-group die zumeist entscheidende Größe für das, was wir Groove[27] nennen und was die Qualität dieser Musik ausmacht. Die Entstehung dieser Musikrichtungen hat mit Afrika zu tun. Dort sind die Trommeln das wesentliche Instrument, weshalb dort auch der Rhythmus das ohrenfällige musikalische Paradigma ist. Kaum vorstellbar, dass man bei afrikanischen Trommeln oder auch bei Rock- und Popmusik unentwegt unbewegt bleiben könnte. Phänomenologisch am anderen Ende der Skala liegt das wichtigste Instrument der Kirchenmusik, die es ja gerade im Protestantismus zu großer Blüte gebracht hat: die Orgel. Sie ist ein Blasinstrument, bei dem das An- und Ausblasen aber aufgrund einer Luftmaschine kaum mehr wahrnehmbar, sondern auf Dauer gestellt und damit latent unrhythmisch ist. Natürlich kann uns auch eine Orgel berauschen, aber sie vermag uns nur selten zum Tanzen zu bewegen. 6. springender Punkt: Von einer Ordnung zur anderen Wer tanzt, schafft neue Ordnungen, indem er oder sie alte Ordnungen überschreitet. Viele Protestanten befürchten ein Chaos, welches durchs Tanzen entstehen könnte. Sie übersehen dabei aber, dass durchs Tanzen neue Ordnungen entstehen. Durchs Tanzen gerät die Welt nicht in Unordnung, sondern in Umordnung.[28] Das Umordnen der Welt aber ist die Voraussetzung dafür, dass sie bleibt und wir darin leben können. In all diesen Fragen wird eine Grundambivalenz der Religion thematisiert, die im Protestantismus besonders stark ausgeprägt ist, weil sie hier bis in beide Extreme gepflegt wurde und wird. Es geht um die Frage, ob Religion ein Exodus- oder Landnahmephänomen ist, ob Religion zum Aufbruch oder zur Beheimatung auffordert, ob Religion beunruhigt oder beruhigt, Kontigenzen bewältigt oder sie vielmehr allererst schafft. Diese Fragen begegnen als ununterscheidbare im Tanzen auf besonders elementare Weise. Denn Tanzen ist motion and emotion, Ganzkörperbewegung und Ganzkörpergefühl. Daher hat sich ein wesentlicher Teil des Protestantismus mit dem Tanzen immer besonders schwer getan. Noch in meiner Kindheit und Jugend galt bei uns zuhause: "Christen tanzen nicht, denn Tanzen ist vom Teufel." Auftakt 3: Aus der Reihe tanzen: Ein anderer ZugangBei allen Schwierigkeiten des Protestantismus mit dem Tanzen es könnte aber auch aus der eigenen Tradition heraus einen anderen Zugang dazu geben. Tanzen ist Bewegung von Körpern zu Musik. Musik ist gestalteter Klang. Die Welt ist Klang.[29] oυδεv αφωvov (I Kor 14,10) Nichts geschieht lautlos! Nichts geschieht sang- und klanglos! "Nihil [¼] est sine sono." (Martin Luther)[30] - Nichts ist ohne Sound! Eine Theologie des Wortes ist klangliches Ereignis: viva vox evangelii. VIVA und VOX sind medial mittlerweile ja gut vertreten. In dieser Mediensparte muss sich eine Theologie des Wortes, die bislang medial vorwiegend als Buchreligion existierte, behaupten lernen. Denn eine Theologie des Wortes als klangliches Ereignis will bewegen.[31] Die wichtigste Kunst der Bewegung aber ist das Tanzen. Eine Theologie des Wortes muss daher tanzen lernen, wenn sie denn medial noch wahrgenommen werden will. Vielleicht findet sie dann einen Zugang zum Bonmot Fred Astaires, der im Tanz "ein Telegramm an die Erde mit der Bitte um Aufhebung der Schwerkraft"[32] sah. Eine tanzende Theologie des Wortes widersetzt sich der Schwerkraft und dem Schwermut und lässt sich auf das Phänomen der Leichtigkeit des Seins ein. Sie ist Glückspredigt und treibt eine gepflegte Theologie der Unterhaltung[33]. Sie realisiert, dass nicht mehr die Erlösung im Vordergrund des postmodernen Bewusstseins steht, sondern die Erleichterung als Erlösung von der Erlösung.[34] Vielleicht schreibt sie Röm 7 um und fragt: "Wer schafft mir Erleichterung in diesem Leibe des Todes?" Und vielleicht findet sie dann Antworten beim tanzenden Christus oder bei anderen tanzfreundlichen Traditionen der Christentumsgeschichte. Auftakt 4: Vom Reigen zum Rocken: Ein kurzer Gang durch die Geschichte des Verhältnisses von Tanz und Theologie in der Christenheit[35]In der Bibel begegnet das Tanzen als eine selbstverständliche menschliche Äußerung, die zudem gleichnisfähig ist für die Beziehung zu Gott. Tanzen und Freude gehören zuhauf. Im Unterschied zu seiner Umwelt begegnet das Tanzen in Israel nicht im Zusammenhang mit Begräbnisriten. Tanzen gehört auf Feste, besonders auf Hochzeiten. Mirjam lobt Gott nach überstandenem Durchzug durchs Rote Meer mit Gesang, Pauken und Reigen. Möglicherweise haben wir hier den ältesten Text des Alten Testaments überhaupt vor uns, wenn Mirjam in Ex 15,21 Gott lobt: "Singt nur Ihr, denn sie überragt alle. Rosse und Reiter warf sie ins Meer."[36] Auch der Psalmist lobt Gott: "Du hast meine Klage in einen Reigen verwandelt." (Ps 30,12a) An prominentester Stelle begegnet das Tanzen beim Jerusalemer Einzug der Bundeslade, welche die Gegenwart Gottes darstellt (2. Sam 6). Dort tanzt der Musikerkönig David ekstatisch vor der Lade her. Seine erste Frau Michal kritisiert dies als Enthierarchisierung, weshalb sie nach den biblischen Texten kinderlos bleiben muss. Zum Heilszustand des Schalom gehört nach Jer 31 auch der Tanz (Jer 31,4b+13). Aber auch im Neuen Testament begegnet das Tanzen als positive Selbstverständlichkeit im Zusammenhang mit Festen, z.B. als der verlorene Sohn nach Hause kommt (Lk 15,25). In der jüdischen Tradition ist das Tanzen weit verbreitet und tief verwurzelt. Umso erstaunlicher ist es daher, dass in der christlichen Tradition drei Texte, die nicht dem biblischen Mainstream entsprechen, für die Ablehnung des Tanzens prägend wurden: Der Tanz um das Goldene Kalb in Ex 32, der Tanz der Baalspriester um ihren Altar in 1. Kön 18 sowie der Tanz der Salome vor Herodes, in dessen Gefolge Johannes der Täufer enthauptet wird. In der Alten Kirche wird vielfach vor dem Tanzen gewarnt, was daraufhin deutet, dass die ersten Christen viel und häufig getanzt haben, z.B. zu Ehren von Märtyrern oder in Taufliturgien. Der Kirchenvater Johannes Chrysostomus, der auch schon kategorisch behauptet hatte, Jesus habe nicht gelacht, woraufhin die Christen dann auch zumeist wenig zu lachen hatten, erklärt ebenso kategorisch: "Wo getanzt wird, dort ist der Teufel."[37] Die Tanzskepsis überwog in der überlieferten theologischen Meinung, was nicht heißen muss, dass die Christen nicht getanzt hätten. Aber dies geschah dann meist in der niederen Volkskultur.[38] Eine positive Bedeutung kann allerdings Thomas von Aquin dem Tanz als Erleicherung der Lebensstrenge beimessen. Im 17. Jh. wird der Tanz in den Jesuitenschulen sogar Pflichtfach.[39] Auch Luther verteufelt das Tanzen in seiner Fastenpostille von 1525 keineswegs: "Die jungen Kinder tanzen ja ohne Sünde. Das tue auch und werde ein Kind, so schadet dir der Tanz nicht. Sonst, wenn Tanzen an sich eine Sünde wäre, dürfte man es den Kindern nicht erlauben."[40] Demgegenüber verteufeln Puritaner und Pietisten das Tanzen. Während Zinzendorf dem Tanzen gegenüber durchaus aufgeschlossen war, war es für August Hermann Francke und den wirkmächtigen Halleschen Pietismus schlichtweg Sünde. Ein wesentliches Argument vieler Pietisten war dabei ein aufklärerisches: Tanzen ist zu nichts nütze und deshalb verwerflich. Anhand der Totentanztraditionen des Mittelalters formuliert Volker Saftien in seiner kleinen christlichen Kulturgeschichte des Tanzes die theologische Schlüsselfrage: "Wie kann der Mensch mit seinem irdischen Leib tanzen, wenn der Tod ihm vor Augen steht, und seine Hoffnung der himmlische Leib ist?"[41] Saftien erinnert in diesem Zusammenhang an die barocke Tanztradition der gratia.[42] So gab es etwa zu Bachs Zeiten in Leipzig ungefähr ein Dutzend hauptamtlicher Tanzmeister, die diese Tanztradition der gratia durchaus streng einübten. Mit ihr verband sich eine bürgerliche Haltung, die Anmut und Grazie zugleich zum Ausdruck brachte und mit ihrer Wohlgeordnetheit anschlussfähig an den theologischen Begriff der Gnade war, so dass sie durchaus ein sinnenfälliger Ausdruck des paulinischen Briefgrußes sein konnte: Gnade sei mit euch. Mit der Industrialisierung sieht Saftien dieses Tanzideal der humanen Anmut verfallen. Tanzen ist "nun nicht mehr ein den Menschen ganzheitlich forderndes und prägendes Exerzitium, sondern ein amüsantes Ballvergnügen". Damit geht einher, dass jene gratia zunehmend als unmännlich galt und damit "zum affektierten Manierismus des »schönen Geschlechts« [degenerierte]"[43]. Das Ideal männlicher schöner Bewegung war nun weniger das Tanzen als vielmehr "die stramme Bewegung der Soldaten. Haltung lernte man also nicht auf dem Tanzboden, sondern beim Militär."[44] Damit lässt Saftien die christliche Kulturgeschichte des Tanzens enden. Er hängt damit einem Ordnungsbegriff des Barock nach, der nicht mehr zu wiederholen ist. Statt Barockkultur wäre aber die Rockkultur auf ihre Gnadentraditionen zu befragen, die weniger in einer Ordnungskultur liegen als vielmehr in der Befreiungserfahrung von Fremdansprüchen und -herrschaften durch das Tanzen: Ekstasis als gratia. So ließe sich jedenfalls mit Gotthard Fermor das Erbe der Popkultur als Herausforderung für die Kirchen beschreiben.[45] Auftakt 5: Four Biblical Dances[46]Angesichts der fragilen positiven Tanztradition im Christentum möchte ich die vier biblischen Tänze von Petr Eben, anklingen lassen, der am 24. Oktober 2007 nach langer Krankheit in Prag verstarb. 1929 im nordböhmischen Žamberk geboren, dort auch römisch-katholisch getauft, aufgewachsen im südböhmischen Český Krumlov, wurde Eben aufgrund seiner jüdischen Wurzeln als 14jähriger im KZ Buchenwald interniert. Nach dem Krieg kehrte er in die Tschechoslowakei zurück und begann 1948 an der Prager Akademie für Musik mit dem Studium in den Fächern Klavier, Cello und Orgel. Schon 1955 erhielt er einen musikhistorischen Lehraufrag an der Prager Karls-Universität. 1990 wurde er Professor für Komposition an der Akademie für aufführende Künste in Prag und Präsident des Prager Frühlings-Festvals.[47] 1992 komponierte Eben den Zyklus "Four Biblical Dances", in dessen Zentrum die musikalische Auseinandersetzung mit der Orgel als einem Rhythmusinstrument steht. Die Orgel wird hier wieder zu dem, was sie vor ihrer Verkirchlichung im Mittelalter schon einmal war: Tanzinstrument. Angesichts der ambivalenten Tanztradition des Christentums ist es nicht überraschend, dass es kaum Tanzmusik für die Orgel gibt, mussten doch gerade in der Spätantike unter dem Klangereignis Orgel Christen bei Spiel und Tanz als Märtyrerinnen und Märtyrer ihr Leben lassen.[48] Es ist bezeichnend, welche Tanzszenen in Ebens vier biblischen Tänzen auftauchen. Eben vertont nicht die Tänze der anderen, von denen es sich leicht abgrenzen lässt, also z.B. den Tanz der Baalsprister um den Altar auf dem Karmel oder den Tanz der Tochter der Herodias, der später sog. Salome, in deren Gefolge Johannes der Täufer seinen Kopf verliert. Eben vertont vier andere Tänze, nicht weniger bedeutsam, auch wenn sie weniger bekannt sind. Es sind keine Tänze der anderen, sondern Tänze der eigenen Tradition, gleichwohl fremd und rätselhaft. Hier lässt sich nicht so einfach abgrenzen, hier lässt sich vielmehr eine biblische Tanztradition begründen, die die Spannweite des Tanzens zwischen Tod und Leben zur Geltung bringt. Dabei ordnet Eben die Tänze nicht nach deren biblischer Reihenfolge, sondern nach ästhetischen Gesichtspunkten, und bringt so eine Theologie des Tanzens zu Gehör. Der 1. Tanz stellt Davids Tanz vor der Bundeslade in 2. Sam 6 dar, der von rhythmisch akzentuierten Akkordwiederholungen im Hintergrund getragen wird. Ein königlich-feierliches Thema und eine orientalisch-tänzerische Melodie, die den Akzent auf den spontan tanzenden David legt, geraten musikalisch aneinander und verschränken sich. Weil David allerdings ohne Unterwäsche in Ekstase gerät, so dass bei seinen Überschlägen sein Allerwertestes öffentlich in Erscheinung tritt, erntet er bei seiner Frau Michal spöttische Verachtung, weshalb diese den biblischen Quellen zufolge unfruchtbar bleibt, woraus sich dann Dynastie- und Eheprobleme allerersten Ranges ergeben. Der 2. Tanz lässt den Tanz der Schulamith aus dem Hohen Lied erklingen. In einem lyrischen Satz dringt das Erotisch-Traumhafte des Hohen Lieds der Liebe tänzerisch an unser Ohr und macht diese Dimension der Bibel, die insbesondere in der Hohelied-Rezeption der Gegenwart eine große Rolle spielt, auch musikalisch klar. Das Körperliche, Erotische, Rauschhafte, Sexuelle spielt durch das Orgelspiel in der Kirche nun keine sublim-verdrängte Rolle mehr, sondern kann als sehr gute Gabe Gottes leibhaftig erklingen. Der Leibhaftige und das Leibhafte werden nicht mehr verteufelt. Der 3. Tanz vertont ein Drama, welches auch die Tragik des Tanzens und damit dessen Gebrochenheit als ästhetisches Signum in Klänge fasst: Jephtas Tochter (Ri 11), die ihrem siegreichen Vater tanzend entgegen läuft. Weil dieser aber gelobt hatte, dass er das erste, was ihm nach einem Sieg aus seinem Haus entgegen komme, opfern werde, nimmt die Geschichte ein tragisches Ende. Tod, Opfer, Klage und Krieg kommen hier musikalisch zur Geltung. Die fröhlichen Tanzmelodien der Tochter bilden am Ende das Material für Jephtas Trauermusik. Der 4. Tanz „Hochzeit zu Kana“ (Joh 2) wird von Eben biblisch-musikalisch erschlossen, auch wenn er expressis verbis in der Bibel nicht zu finden ist. Eben erschließt damit eine positive Tanztradition im Neuen Testament, indem erfolgendes bemerkt. „Auch wenn in der heiligen Schrift keine Erwähnung über einen Tanz an dieser Stelle zu finden ist, so ist es für mich unvorstellbar, dass bei so gutem Weine nicht getanzt wurde. So beginnt dieser Satz nach einer kurzen Einleitung mit einem freudigen Einladungsruf. Nach einem lebhaften Zwischenspiel erklingt im Trompetenregister ein Hochzeitsmarsch, und der Satz endet mit einer freudigen Tanz-Toccata.“ Welch eine sachgerechte Exegese, die uns zeitgenössisch wieder an verschüttete Ur-Sprünge unserer Tradition heranführt! Auftakt 6: Ein Quartett der ErinnerungZum Abschluss meiner Choreographie möchte ich im Anschluss an Ebens vier biblische Tänze vier weitere positive Tanztraditionsstränge benennen. Ich beginne mit dem tanzenden Christus[49], der vorwiegend in apokryphen Traditionen der frühen Christenheit begegnet und dann wieder gehäuft im 19. und 20. Jahrhundert. Hier würde es viel zu erzählen geben, ich beschränke mich auf ein 1897 erschienenes Gedicht von Christian Morgenstern (1871-1914), bei dem klar wird, wie schwer es ist, sich einen Reim auf den tanzenden Christus zu machen:
Mein zweites Tanzbein schwinge ich ins 13. Jh. Da ist zunächst an die große Mystikerin Mechthild von Magdeburg zu erinnern, die um 1207 geboren wurde und um 1282 in Helfta bei Eisleben verstarb. "Ich tanze, wenn du mich führst." So lautet eine ihrer zentralen Einsichten aus ihren Visionen, die sie in ihrem großen Werk "Das fließende Licht der Gottheit" niederschreiben ließ. Der Tanz ist für Mechthild das Bild, mit dem sie "die himmelstürmende Bewegung ihrer zu Gott drängenden Seele ein[fängt]"[51] und den Fluss[52] des Durchflutetseins durch das göttliche Licht zum Ausdruck bringt. Die göttliche Gnade der Aufforderung zum Tanz markiert den Anfang des Emporsteigens zu Gott, das sich in immer weiter ziehenden Kreisen ins Überirdische hinein steigert und dabei das Irdische zurücklässt.
Geht die Tanzrichtung der Mechthild nach oben, so geht die Tanzrichtung einer weiteren 1207 geborenen Berühmtheit in eine ganz andere Richtung. Hier kreisen die Tanzenden so lange um sich, bis ihnen das Tor zum Paradies offen steht. Die Rede ist von Dschelaladdin Rumi, dem neben Hafis wichtigsten persischen Dichter und Begründer des Ordens der tanzenden Derwische. Rumi wird 1207 im transoxanischen Balch, im heutigen Afghanistan geboren, von wo er mit seiner Familie vor den Mongolen in die seldschukische Hauptstadt Konya ins heutige Anatolien flieht, wo er 1273 stirbt. Nach dem Tod seines Vaters, der ein berühmter Mystiker war, wird Rumi 1230 in Konya Professor der Theologie. 1244 begegnet er dem Wanderderwisch Schamsuddin von Täbriz, der für ihn zur Verkörperung des göttlichen Geliebten wird. Kurze Zeit später muss Schamsuddin Konya verlassen und wird vermutlich von Eifersüchtigen ermordet. Die Selbstidentifikation Rumis mit dem verlorenen Geliebten lässt ihn all seine Gedichte, die seine Suche, Sehnsucht, Liebe, Verzweiflung und Hoffnung zur Sprache bringen, mit Schamsuddin unterzeichnen. 1256 legt Rumi sein gewaltiges Lehrwerk vor, das Mathnawi, ein Kompendium der islamischen Mystik in all ihren Strömungen in 26.000 Versen "unsystematisch, die widersprechendsten Ideen ineinander verknüpfend"[54]. Im Zentrum dieses Hauptwerks des Sufismus steht die göttliche Liebe, um die alles kreist immer und immer wieder. Der Sinn des Reigens, das ständige Wechselspiel von Leben und Tod, von Stirb und Werde kommt vielleicht am schönsten zur Geltung in einer freien Nachdichtung eines Doppelverses Rumis durch Friedrich Rückert (1788-1866):
Auf halbem Wege zwischen diesen beiden großen mystischen Tanzfiguren aus dem 13. Jh. und uns liegt der wohl berühmteste protestantische Liederdichter Paul Gerhardt (1607-1676). Seinen Liedern liegen mitunter bearbeitete Tanzweisen zugrunde. So auch bei dem Osterlied Auf, auf, mein Herz mit Freuden (EG 112). Ein österlicher Auf-Ruf, der hier mit Witz und Lust, mit Power und Verve zum Klingen gebracht wird: Auf, auf! Doppelt ergeht die Auf-Forderung an das, was mich ausmacht. Mein Herz soll aufmachen, sich aufmachen, mit Freuden wahrnehmen lernen, was heut geschicht. Als ob viele Schichten der Trauer, des Leidens und der Depression auf mir liegen, so durchbricht das Osterlicht diese Schichten und setzt mich einem Geschehen aus, das schon damals alle überrumpelt hat. Wie auf dem Isenheimer Altar, so schwingt sich der Auferstandene mit Siegerfahne aus dem Grab empor, umkränzt von einem strahlenden Licht. Die 3. Strophe, die im Gesangbuch weggelassen wurde, zeigt: Das Ostergeschehen hat apokalyptisches Ausmaß und kann deshalb genossen werden wie ein Happyend aus Hollywood:
Ätsch! Christliche Schadenfreude über alle Feinde des Lebens das mutet uns Paul Gerhardt zu Ostern zu. Die Todes-Wacht und alle Todesmacht haben das Nachsehen bei diesem im wahrsten Sinne unglaublichen Geschehen: Christus ist wieder frei. Wer Osterlieder singt, der nimmt die Welt, die ihn gerade noch bedrohte, anders wahr: Nun soll mir nicht mehr grauen / vor allem, was mir will / entnehmen meinen Mut. 1647, kurz vor dem Ende des 30jährigen Krieges, dichtet Gerhardt sein Osterlied. Es zeichnet für die Singenden die Verwandlung vom Tod ins Leben nach, dorthin, wo unser Geist gen Himmel ist gereist. Es wird aber nicht nur gereist, sondern auch gerissen.
Wer heute die zweiten Hälften dieser Verse singt, wird sicherlich manches anders formulieren,[57] als es Paul Gerhardt mit seiner Schicksalsergebenheit bisweilen tut.[58] Dennoch können wir im Singen Anteil haben an jener Kraft, die von diesem österlichen Auf-Ruf auf uns ausgeht. Johann Crüger legt seiner Melodie eine italienische Tanzweise zugrunde.[59] Sie beginnt mit dem elementarsten musikalischen Motiv, einer kleinen Terz abwärts. So rufen wir "Hallo", aber auch "Hilfe". So machen wir musikalisch auf etwas aufmerksam, was nicht überhört werden soll. Diese Melodie reist mit und reißt uns mit vom Tod in das Leben, von der Hölle in den Himmel, vom Unglück ins Glück. Er bringt mich an die Pforten, / die in den Himmel führt. Kurz vor seinem Tod hat der Marburger Praktische Theologe Henning Luther (1947-1991) eine Rede gehalten mit dem Titel "Tod und Praxis". An deren Ende heißt es: "Österliche Predigt ist Glückspredigt. Gegen die langsame Gewöhnung ans Totsein zeichnet die Auferstehung Bilder neuen Lebens. »Vorweggenommen in ein Haus aus Licht« (Kaschnitz) Auferstehung angesichts so vieler Tode, die jeder stirbt, bevor er stirbt."[60] Für mich gehört das Bild des tanzenden Christus dazu, in dessen Nachfolge ich gerne das Reich Gottes ertanze und dabei Paul Gerhardts Einsicht Glauben schenke: Die Welt ist mir ein Lachen. Anmerkungen
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/70/hsw13.htm
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