Gefühl(e) |
Gefühl und ReligionAnmerkungen zur Aktualität eines zu wenig beachteten ZusammenhangsJörg Herrmann 1. Die Aktualität der Gefühle im Feld der ReligionEine Reihe von Entwicklungen fordert dazu heraus, den Zusammenhang von Gefühl und Religion zum Gegenstand theologischer Forschung und Reflexion zu machen und genauer zu untersuchen, welche Bedeutung das Gefühl für die religiöse Erfahrung und die religiöse Praxis hat. Es handelt sich dabei um Entwicklungen im Bereich der zeitgenössischen Religionskultur, der Religionstheorie und der aktuellen Wissenschaftsdiskurse, die die Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang von Gefühl und Religion lenken. 1.1. Religionskulturelle AspekteIn religionskultureller Hinsicht sind es vor allem vier Entwicklungen, die die Bedeutung des Gefühls für die Religion seit der Jahrtausendwende neu haben deutlich werden lassen. Zunächst sind hier - gegenwärtig von der Missbrauchsthematik überlagerte - Phänomene im Bereich des Katholizismus zu nennen. Ich denke an die mit starken emotionalen Resonanzen einhergehenden globalen Medienereignisse um das Sterben und das Begräbnis von Papst Johannes Paul II., dann um die Neuwahl seines Nachfolgers Benedikt XVI. und dessen Köln-Besuch im Rahmen des dortigen Weltjugendtages. „Das Gefühl des Glaubens“ betitelte treffend „Der Spiegel“ (Nr. 15, 11.4.2005) seine Ausgabe zur Trauerfeier für Karol Wojtyla. Das Sterben und der Tod des vielleicht ersten „Medienpapstes“ der Weltgeschichte hatte vor allem in der katholischen Welt starke Gefühle evoziert und die Fernsehgemeinde so nachhaltig bewegt, dass Millionen zur Trauerfeier für Johannes Paul II. nach Rom pilgerten. Diese Prädominanz des Gefühls bestimmte auch den Besuch seines Nachfolgers Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger zum katholischen Weltjugendtag im August 2005 in Köln. Der Autor Joachim Lottmann notierte damals in der taz (20.8.2005): „Der Papst, der Papst! Verlieren wir nicht das Wichtigste aus dem Blick. Trillerpfeifen, Zirkustrompeten, maßlose Freude. Die größte Party aller Zeiten, viermal größer als die Berliner Love Parade in ihren besten Jahren. Fremde fallen sich schluchzend in die Arme: Er kommt, der Heilige Vater, der Stellvertreter Gottes auf Erden, il papa! ‘Be-ne-det-to! Be-ne-det-to!!’ Die Massen geraten in Ekstase. Auf einer Großleinwand vor dem Dom sieht man das riesige weiße Flugzeug majestetisch im Anflug, ohne Ton, sieht, wie es langsam um den Dom kreist. Köln ist das Rom des Nordens.“ Von Teilnehmerinnen dieses Ereignisses war zu hören, dass sie vor allem „Spaß haben“ wollten. Die Pilger scheinen hier Wesentliches mit den BesucherInnen der Love Parade zu teilen. Vor dem Hintergrund dieser Trends und Beobachtungen ist von einer Eventisierung des Religiösen die Rede, die sich in seinen katholischen Bezirken naturgemäß stärker zeigt als im Evangelischen. In subjektiver Hinsicht geht mit dieser Entwicklung eine Betonung des Gefühls einher. Inhalte sind hier offenbar sekundär, im Vordergrund stehen Gefühle und die Möglichkeiten der Partizipation an Gefühlsdynamiken der Trauer oder der Freude. Weiterhin und zum zweiten ist an die aktuellen Entwicklungen des religiösen Terrorismus seit dem 11. September 2001 zu denken, insbesondere an die dramatische Zunahme von islamistisch motivierten Selbstmordattentaten, die eine tiefgehende emotional-religiöse Motivation zur Voraussetzung zu haben scheinen (Reuter 2003). Drittens ist zu beobachten, dass das auf Emotionalität setzende charismatisch-pfingstlerische Christentum die weltweit am schnellsten wachsende Religionsbewegung ist (Hollenweger 2002). Viertens schließlich kann unter dem Stichwort Spiritualität auch im religiösen Feld außerhalb kirchlicher Institutionen eine Betonung des Emotionalen beobachtet werden. So zeichnet sich der Spiritualitätstrend vor allem durch eine stark emotional getönte Erfahrungsorientierung, durch ein religiöses Selbstbestimmungsbedürfnis und eine Skepsis gegenüber Institutionen und Dogmen aus. Die praktische Theologin Regina Polak (2008, 98) schreibt über die Sinnkonstruktionen individueller Spiritualität: „Dabei sind Emotion und Ereignis die zentralen Entscheidungskriterien solcher Konstruktion, denen gegenüber Reflexion der Ereignisse weitgehend irrelevant ist. Wichtig ist, wie es sich anfühlt und wie es im Leben hilft weniger wichtig, ob es vernünftig argumentiert ist oder einem Wahrheitsanspruch genügt.“ 1.2. Religionstheoretische AspekteDie religionstheoretischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte stehen in einer gewissen Spannung zu den skizzierten religionskulturellen Beobachtungen. Denn die aktuelle Religionstheorie ist sowohl im Bereich der Religionssoziologie und Religionswissenschaft (Luckmann, Luhmann, Pollack) als auch im Bereich der protestantischen Theologie und Religionsphilosophie (Gräb, Steck, Barth, Jung) sehr stark am Paradigma von Text und Deutung orientiert. Sie fasst Religion mehrheitlich als deutende Bearbeitung menschlicher Sinn- und Kontingenzprobleme. Die emotionalen, performativen und sozialen Dimensionen des Religiösen bleiben in diesen Theorieansätzen marginal. Die in den für die moderne Religionstheorie grundlegenden Überlegungen Schleiermachers noch sehr präsente Bedeutung des Gefühls für die Religion, die bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein bei Autoren wie James, Otto und Tillich noch eine große Rolle spielt, ist also in den spätmodernen Religionstheorien unter dem Einfluss des lingustic turn offensichtlich verblasst und aus dem Blick geraten. Vor diesem Hintergrund fordert der aktuelle religionstheoretische Diskurs zu einer Reintegration der Bedeutung des Gefühls für die Theorie religiöser Erfahrung und Praxis heraus. Die religionstheoretische Aktualität der Forschungsfrage besteht mithin in der Wahrnehmung eines Defizits des religionstheoretischen Gegenwartsdiskurses. 2. Gefühl im Religionsdiskurs der ModerneVor dem Hintergrund der oben schon formulierten Beobachtung, dass das religiöse Gefühl in den klassischen Religionstheorien der Moderne noch weitaus mehr Gewicht hatte als in den aktuellen Theorien, scheint es angebracht, im Rahmen der Wahrnehmung des Status Quo auch diese seine Voraussetzungen in der Moderne in kritisch-konstruktiver Absicht in Erinnerung zu rufen. Es war vor allem Friedrich Schleiermacher, der das Gefühl zum entscheidenden Merkmal von Religion erklärte. Mit Kant wendete sich Schleiermacher gegen die aufklärerische Identifikation von Metaphysik und Religion, gegen Kant lehnte er aber auch die Identifikation von Religion und Moral ab. In seinen „Reden über die Religion” charakterisiert Schleiermacher (1799/1969, 35) die Religion als notwendig zum Menschen gehörendes Phänomen eigener Art: „Ihr Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.” In seiner Glaubenslehre (1830/1960, 26ff.) qualifiziert er dieses Gefühl als „schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl”. Es geht bei diesem Gefühl um die Wahrnehmung des Sichgegebenseins, oder, wie Schleiermacher (a.a.O., 24) auch sagt, des „Sichselbstnichtsogesetzthabens”. Basis der Religion bildet eine spezifische Gefühlserfahrung, die sich im Kontext des Christentums in christlich-religiösen Symbolisierungen artikuliert. Was dieses Gefühl auszeichnet, verdeutlicht Schleiermacher (a.a.O., 23) im vierten Paragraphen seiner Glaubenslehre: „Das Gemeinsame aller noch so verschiedenen Äußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit, ist dieses, dass wir uns unser selbst als schlechthin abhängig bewusst sind, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewusst sind.” Im Zuge seiner weiteren Erläuterung dieser Bestimmung führt Schleiermacher (a.a.O., 28f.) aus: „Wenn aber schlechthinnige Abhängigkeit und Beziehung mit Gott in unserm Satze gleichgestellt wird: so ist dies so zu verstehen, dass eben das in diesem Selbstbewusstsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll, und dieses für uns die wahrhaft ursprüngliche Bedeutung desselben ist.” Der Ausdruck „Gott” ist mithin eine Interpretation einer zunächst gefühlsbestimmten Wahrnehmung. In Schleiermachers Konzeption des Zusammenhangs von Gefühl und Religion lassen sich drei Komponenten unterscheiden: eine Gefühlskomponente (Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit), eine mit dieser Komponente schon verschränkte Deutungs- bzw. Reflexionskomponente (Bewusstsein der schlechthinnigen Abhängigkeit und Endlichkeit), eine auf die Sprache der Tradition rekurrierende Deutungskomponente (Gott). Die Konzeption beinhaltet schon spätere Konzeptualisierungen von religiöser Erfahrung als Synthese von Erleben und Deutung (Jung 1999) und verweist auch schon auf die für den Zusammenhang von Gefühl und Religion zentrale und noch weiter klärungsbedürftige Fragestellung: nämlich auf die Frage nach einer angemessenen theoretischen Beschreibung des Verhältnisses von Emotion und Kognition, Erleben und Deuten, Gefühl und Interpretation im Kontext religiöser Erfahrung. Vor dem Hintergrund von Schleiermachers Ausführungen kann die Hypothese festgehalten werden, dass das religiöse Gefühl immer schon ein in spezifischer Weise reflexiv imprägniertes Gefühl ist. Weitergehend könnte aus dieser Hypothese die Frage abgeleitet werden, ob eine strikte Trennung von Gefühl und Deutung generell überhaupt plausibel ist, ob nicht vielmehr menschliches Selbstbewusstsein sich gerade dadurch auszeichnet, dass Gefühle und Deutungen unwillkürlich verbunden sind, in einem wechselseitigen Konstitutionsverhältnis stehen und darum nie rein auftreten. Eine ähnlich zentrale Stellung wie bei Schleiermacher hat das Gefühl in den religionspsychologischen und religionstheoretischen Forschungen und Überlegungen von William James. James (1902/1997, 63f.) versteht Religion als „die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, dass sie in Beziehung zum Göttlichen stehen“. Wie stark James die Gefühlskomponente gewichtet zeigt das folgende Zitat (a.a.O., 484f.): „Wenn wir den Gesamtbereich der Religion überblicken, entdecken wir eine große Vielfalt der jeweils vorherrschenden Gedanken; aber die Gefühle auf der einen Seite und das Verhalten auf der anderen sind fast immer dieselben, denn stoische, christliche und buddhistische Heilige sind in ihrer Lebensführung praktisch ununterscheidbar. Die Theorien, die die Religion erzeugt, sind, weil sie so variabel sind, sekundär; wenn man ihr Wesen zu erfassen sucht, muss man sich die konstanten Elemente des Gefühls und des Verhaltens anschauen. Diese beiden Elemente bilden den eigentlichen Stromkreis der Religion, hier vollbringt sie ihr Hauptgeschäft, während die Ideen, Symbole und anderen Einrichtungen Nebenschleifen bilden.“ Obwohl das Gefühl hier zum Hauptmerkmal des Religiösen erklärt wird, kommt ihm nach James - anders als bei Schleiermacher - dennoch keine spezifische Eigenständigkeit zu: es bildet keine „eigene Provinz im Gemüte“ (Schleiermacher 1799/1969, 26). Das religiöse Gefühl wird vielmehr allein durch sein spezifisch religiöses Objekt als religiöses Gefühl qualifiziert (James 1902/1997, 60f.), es entsteht, indem sich das Gefühlsleben auf das Göttliche richtet und ist insofern relational bestimmt. Versucht James das religiöse Gefühl von seinem Objekt her zu spezifizieren, so geht der Religionswissenschaftler Rudolf Otto wenige Jahre später vom Subjekt aus. Otto (1917/1991) schreibt dem Menschen einen speziellen Sinn für das Numinose zu, der die Erfahrung der religiösen Gefühlspolarität von tremendum und fascinosum vermittelt. Beide Bücher, sowohl „Die Vielfalt der religiösen Erfahrung“ von James als auch „Das Heilige“ von Otto, zählen heute zu den Klassikern der Religionsforschung. Gleichwohl hat weder ihre Betonung des Gefühls in der theoretischen Beschreibung religiöser Phänomene noch ihre partiell ontologisierende vom Subjekt (Otto) bzw. vom Objekt (James) der religiösen Erfahrung her denkende Sichtweise des Religiösen Schule gemacht. Die Diskussion im 20. Jahrhundert hat vielmehr in allen an erster Stelle mit der Religionsthematik befassten Wissenschaften (Religionspsychologie, Religionssoziologie, Religionswissenschaft, Religionsphilosophie, Religionstheologie) zunehmend darauf abgehoben, dass religiöse Erfahrung durch die Interpretation in religiösen Kategorien als religiöse qualifiziert wird (zusammenfassend: Lauster 2005). Religion wird heute vorrangig verstanden als deutende Bearbeitung menschlicher Sinn- und Kontingenzprobleme, als „Deutung von Erfahrung im Horizont der Idee des Unbedingten“ (Barth 1996, 545). Zu fragen ist, ob diese sinn- und deutungsorientierte Betrachtungsweise das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet. Ontologisierende Beschreibungsweisen sind sicher überholt, zu einer stärkeren Beachtung der Gefühlskomponente religiöser Erfahrung und Praxis scheinen mir jedoch sowohl die Wahrnehmungen der Defizite gegenwärtiger Religionstheorie als auch die Erinnerungen an die genannten Klassiker des Religionsdiskurses und nicht zuletzt die aktuellen Erfahrungen im religiösen Feld Anlass zu geben. 3. Gefühl im Wissenschaftsdiskurs der GegenwartAnders als im Religionsdiskurs hat das Gefühl im sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart vor allem seit den 1990er Jahren Hochkonjunktur (vgl. Hartmann 2005). Galten Gefühle sowohl in der Psychologie wie auch in der Philosophie lange Zeit als irrationale Kräfte, subjektiv und nicht beobachtbar, so wird seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rationalität des Gefühls entdeckt (vgl. Broad 1954, de Sousa 1997). In den Feldern Psychologie, Philosophie und Medienwissenschaften wird der aktuelle Gefühlsdiskurs dabei sehr stark vom sogenannten Kognitivismus bestimmt, einer Betrachtungsweise, für die Gefühle auf konstitutive Weise mit Urteilen, Wertungen und Überzeugungen verbunden sind. Neben und über diesen Schwerpunkt hinaus zeigt die gegenwärtige Gefühlskonjunktur insgesamt ein vielfältiges Bild und erweist sich als ein transdisziplinärer Trend, der auch in der Soziologie, der Philosophie, den Geschichtswissenschaften und nicht zuletzt in den Neurowissenschaften beobachtet werden kann (vgl. Hartmann 2005, 17ff., Döring 2009, 12ff.). Gefühle bzw. Emotionen (beide Begriffe werden im Gefühlsdiskurs zumeist synonym verwendet) sind generell als eine eigenständige Kategorie des Mentalen in den Blick gekommen, als basale Faktoren bewussten Lebens, ohne die die Genese von Bewertungen und Handlungen nicht erklärt, verstanden und beschrieben werden kann. Ähnlich wie im Religionsdiskurs über das Gefühl markiert auch im kulturwissenschaftlichen Bereich ein Text von William James einen zentralen Ausgangspunkt: sein 1884 in der Zeitschrift „Mind“ veröffentlichter Aufsatz „What is an emotion?“ James vertritt darin - auf Introspektion basierend - die These, dass Gefühle körperliche Veränderungen registrieren: Wir fliehen nicht vor einem Bär, weil wir uns vor ihm fürchten, wir fürchten uns vor ihm, weil wir fliehen. Es liegt auf der Hand, dass die Position von James einen Gegenpol zu den aktuellen kognitivistischen Gefühlstheorien bildet. Es ist jedoch ebenso evident, dass der Körper und seine Befindlichkeiten eine konstitutive Rolle für die Genese von Gefühlen spielen muss dieser Aspekt ist auch durch die Hirnforschung wieder stark hervorgehoben worden (Damasio 2000, 2003; Roth 2003). Der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzende kognitivistische Diskurs zeichnet sich nun dadurch aus, dass er beide Komponenten, das körperliche Erleben und die subjektive Interpretation, mit einem Schwerpunkt auf der Interpretation zusammenzudenken sucht. Doch wie genau Körper und Gefühl zusammenhängen ist eine strittige Frage, auf die unterschiedliche Antworten gegeben werden. Die anti-kognitivistisch eingestellten Neurowissenschaftler, Hirnforscher und Psychologen betonen den Vorrang des Körpers. Menschliche Grundgefühle kommen danach ohne kognitive Elemente zustande, sie bewerten Gegenstände und Situation automatisch und ohne bewusste Mitwirkung der Subjekte. Die Kognitivisten beharren hingegen darauf, dass Gefühle interpretativ geformt werden. Als vorläufiges Resümee des aktuellen psychologischen, philosophischen und neurowissenschaftlichen Gefühlsdiskurses lässt sich m. E. auf jeden Fall ein methodisches Problem festhalten: Neurowissenschaften und experimentelle Psychologie können aufgrund ihrer Ablehnung introspektiver Methoden nichts über die phänomenologischen Aspekte von Gefühlen sagen, sie können nicht beschreiben, wie sich Gefühle anfühlen. Solchen Innenperspektiven lassen sich nur auf zwei Weisen zugänglich machen: durch Selbstbeobachtung und durch die Rekonstruktion subjektiver Sichtweisen anderer mit Hilfe von Methoden der qualitativen Sozialforschung. Ein weiteres Ergebnis der Sichtung des bisherigen Forschungsstandes ist die weitere Klärungsbedürftigkeit der Frage des Verhältnisses von Wahrnehmungen und Deutungen im Konstitutionsprozess von Gefühlen. Weiterführend scheint mir in diesem Zusammenhang der Vorschlag von Martin Hartmann (2005, 160ff.), den Begriff der Kognition durch den weiteren Begriff des Selbstverständnisses zu ersetzen. Der Vorteil gegenüber dem Begriff der Kognition ist seine holistischere Perspektive. Nicht einzelne Gedanken, Kognitionen oder Überzeugungen werden dann für die interpretative Prägung und Formung von Gefühlen in Anspruch genommen, sondern individuelle Selbst- und Weltverständnisse, die in individuelle biographische Entwicklungsprozesse eingebettet sind und aus diesen hervorgehen. Man könnte in Aufnahme und Weiterführung des Vorschlags von Hartmann auch von Identität sprechen, deren Wandelbarkeit und soziokulturelle Formung der aktuelle Identitätsdiskurs herausgestellt hat. Mit der Identität kommt neben dem Körper auch die Lebensgeschichte in den Blick, als deren Ergebnis Identität auch und nicht zuletzt verstanden werden muss. Diese Überlegungen konvergieren mit den aktuellen Versuchen, die Kategorie des Narrativen für die Emotionsforschung fruchtbar zu machen (vgl. Voss 2004). So besitzt nach de Sousa (1997, 182ff.) jedes Gefühl einen Bezug zu einer schematischen Erzählung, in der die fühlende Person eine bestimmte Rolle spielt. Die Dimension des Narrativen verweist darüber hinaus auf einen weiteren wichtigen Bereich der kulturwissenschaftlichen Emotionsforschung: auf die Bearbeitung der Thematik in den Medienwissenschaften und in der Ästhetik. Der Gefühlsdiskurs in diesen Feldern ist zwar, insbesondere in den Medienwissenschaften (vgl. Tan 1996, Zillmann 2004), mit den oben skizzierten Kontroversen zwischen Kognitivismus und Anti-Kognitivismus vernetzt, bildet aber doch einen relativ eigenständigen Bereich, der gesondert in den Blick genommen werden sollte. Im Bereich der Ästhetik bildet der Begriff der ästhetischen Erfahrung einen gewissen Fokus der Diskussion der letzten Jahrzehnte (vgl. auch den DFG-Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“). Die an Kant anknüpfenden und die Selbstzweckhaftigkeit und Interesselosigkeit von ästhetischen Erfahrungen betonenden Ansätze haben dabei eine gewisse Schwierigkeit, das Phänomen existenziell berührender und nachhaltig wirkender ästhetischer Erfahrungen zu erklären. Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang aus phänomenologischer Perspektive zunächst, dass existenziell berührende ästhetische Erfahrungen offenbar am ehesten mit Kunstwerken gemacht werden, die einen narrativen Charakter haben, also vorzugsweise mit Filmen, Theaterstücken und Romanen. Die mit der Rezeption von audiovisuellen Narrationen befasste Medienrezeptionsforschung (Krotz 2001, 63ff.) geht davon aus, dass im Prozess der Medienrezeption eine imaginative Rollenübernahme stattfindet, dass also der Rezipient die Erfahrungen und Handlungen der ihm vorgeführten Figuren einer audiovisuellen Medienerzählung in seiner Phantasie simuliert und ihrer Geschichte auf diese Weise mit Gefühl folgen kann.[i] Die existentielle Relevanz ästhetischer Erfahrung ergibt sich dabei jedoch nicht einfach durch den Rollenwechsel, sondern vor allem dadurch, dass, wie Catrin Misselhorn (2005, 433) plausibel dargelegt hat, „das Einnehmen einer anderen Perspektive in einem Zusammenhang zu Fragen (steht), die für uns von zentraler Bedeutung sind und im weiten Sinn etwas mit dem guten Leben zu tun haben, zum Beispiel Liebe und Erotik, Endlichkeit und Tod, Freiheit oder bestimmte gesellschaftliche und historische Entwicklungen sowie die religiöse Sphäre. Um diese Fragen geht es auf der symbolischen Ebene ästhetischer Erfahrung. Die Simulation einzelner Charaktere ist diesen umfassenden Fragestellungen untergeordnet. Letztlich wird die existentielle Dimension ästhetischer Erfahrung als durch das Zusammenspiel von Gehalt und affektivem Charakter hervorgebracht“. Ich folge einer Medienerzählung zwar einerseits nur „als ob“ sie wirklich wäre, weiß aber zugleich, dass diese symbolische Welt auch Probleme und Lösungen enthält, die auch mich betreffen oder jedenfalls betreffen könnten. Misselhorn (2005, 434) unterscheidet darum zwei Gefühlsebenen (vgl. dazu auch das Konzept der Meta-Emotionen, Bartsch 2003) in der Rezeption narrativer Kunstwerke: „die Gefühlsebene erster Ordnung, auf der die Gefühle eines bestimmten Charakters in einer bestimmten Situation simuliert werden, und die Ebene zweiter Ordnung, auf der die Gefühle sich auf den Gehalt der umfassenden Fragestellung (die Ebene des symbolischen Gehalts) beziehen, in deren Dienst die Simulation steht. Erst auf der zweiten Ebene erreichen die Gefühle die existenzielle Relevanz in Bezug auf die Bewertung des eigenen Lebens“. Misselhorn (2005, 435) folgert aus dieser Überlegung, dass jede ästhetische Erfahrung, die existenziell relevant werden soll, auch eine symbolische Dimension haben müsse. Diese Schlussfolgerung ist interessant, aber sicher diskussionswürdig. Denn sie würde wohl bedeuten, dass ästhetische Erfahrungen, die sich nicht auf den Begriff bringen oder in irgendeiner Weise symbolisieren lassen auch keine existenzielle Relevanz erlangen könnten. In einer Spannung zu dieser auf narrative Symbolisierungen abhebenden Ästhetik stehen die am Begriff der Atmosphäre orientierten Überlegungen von Gernot Böhme (2001). Ästhetische Wahrnehmung beginnt aisthetisch als Wahrnehmung von Atmosphären. Diese Wahrnehmung ist affektiv bestimmt: „Atmosphären werden gespürt, indem man affektiv von ihnen betroffen ist“ (a.a.O., 46). Dieses Betroffensein ist als eine emotionale Resonanzerfahrung gedacht, in der Subjekte die Erfahrung des Mitschwingens in einer im Raum ergossenen Atmosphäre machen. Gefühle vermitteln sich hier über räumlich-leibliche Konstellationen, die gespürt werden und sich offenbar ohne Mitwirkung deutender Komponenten im Mitschwingen aufbauen. Mit dem Konzept einer imaginativen Rollenübernahme bzw. Simulation verbindet die Idee eines emotionalen Mitschwingens die Vorstellung von Partizipation. Gefühle werden durch Wahrnehmungen von Alteritäten ausgelöst. Gleichwohl bleibt auch hier die Struktur des Wechselspiels von Wahrnehmung und Deutung unklar. 4. Emotionale und interpretative Komponenten im Prozess gelebter ReligionEs hatte sich im Kontext der Skizzierung des Diskussionsstandes in den verschiedenen Disziplinen wiederholt gezeigt, dass das Gefühl im Zusammenhang des Begriffes der Erfahrung thematisiert wird. Erfahrung zeigt sich dabei m.E. als der umfassendere Begriff, der emotionale und kognitive Komponenten ausdrücklich umfasst und im Modus der Artikulation miteinander verbindet (Jung 2005). Erfahrung, so kann als Konsens aktueller religionstheoretischer wie kulturwissenschaftlicher Konzeptionen und nicht zuletzt im Anschluss an die Arbeiten Diltheys (vgl. Jung 1999) festgehalten werden, konstituiert sich im Wechselspiel von Wahrnehmung und Symbolisierung, von Erlebnisqualitäten und Artikulationsschemata. Strittig ist jedoch in den verschiedenen Theoriefelder, wie der Zusammenhang von Gefühl und Interpretation bzw. von Erleben und Deuten genauer bestimmt und beschrieben werden kann. Der Trend geht dahin, eine starke Verschränkung dieser beiden Pole anzunehmen. Ulrich Barth (2003, 44) betont in seinen religionstheoretische Überlegungen die Gleichzeitigkeit von „Gegenstandserfassung“ und „Gegenstandsbewertung“, Matthias Jung (2005, 137) rechnet im Anschluss an Dewey damit, „dass die bewertende Explikation auf die qualitative Gegebenheit emotionaler Zustände zurückwirkt, ‚first’- und ‚second-order’-Phänomene also wohl sachlogisch-rekonstruktiv, aber nicht phänomenal trennscharf unterschieden werden können“. Er erläutert (ebd.): „Weil Emotionen bereits über ihren spontanen Ausdruck, überzeugungsbildend aber durch ihre reflexive Artikulation mit dem normativen Gewebe übergreifender Sinndeutungen verbunden sind, muss die Lebenswelt qualitativer Erfahrung nicht in einen basalen Bereich motivierender affektiver Betroffenheit und ein Obergeschoss sprachlicher Reflexion zerteilt werden.“ Diese enge Verschränkung und Wechselbeziehung von Emotion und Kognition bzw. Gefühl und Interpretation war im übrigen schon in Schleiermachers Religionstheorie in der gleichermaßen affektiv wie reflexiv konnotierten Bestimmung der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ deutlich geworden. Sie gilt es, genauer zu erforschen. Offene Fragen stellen sich vor diesem Hintergrund in dreierlei Hinsicht: im Blick auf die Theorie des religiösen Gefühls ginge es darum, den skizzierten Zusammenhang von Gefühl und Interpretation noch besser zu verstehen und präziser beschreiben zu können. Eine Voraussetzung dafür wäre m.E., die Theorie des religiösen Gefühls im interdisziplinären Dialog mit den verschiedenen Gefühlsdiskursen weiter zu entwickeln. Die so gewonnenen theoretischen Konzepte wären in empirische Prozesse einzuspeisen und auf diese Weise zu validieren und voranzutreiben. Methodisch müsste dabei auf Vorgehensweisen der qualitativen Sozialforschung zurückgegriffen werden, die es ermöglichen, subjektive Erfahrungen und Sichtweisen wissenschaftlich zu dokumentieren, zu rekonstruieren und zu analysieren. 4.1. Empirische Studien Vorüberlegungen und FelderDie offenen Fragen der gesichteten und diskutierten Theorieentwürfe müssten in Prozesse qualitativ-empirischer Forschung eingebracht werden. Ziel wäre die Konkretisierung, Überprüfung und Weiterentwicklung der theoretischen Beschreibung des Zusammenhangs von Gefühl und Religion. Dabei liegt es nahe, drei Bereiche des religiösen Feldes besonders in den Blick zu nehmen: den Bereich der Pfingstbewegung, des religiösen Terrorismus und der individuellen Patchwork-Religiosität. Dieser Vorschlag orientiert sich an schon benannten aktuellen Entwicklungen innerhalb des religiösen Feldes, die durch Pluralisierung und Individualisierung auf der einen Seite und eine Konjunktur fundamentalistischer Orientierungen auf der anderen Seite gekennzeichnet sind. Die stärkere Aufmerksamkeit für den fundamentalistisch orientierten Bereich ist durch die Überlegung begründet, dass die in diesem Bereich erwartbaren prägnanteren Strukturen die Erforschung der fraglichen Zusammenhänge erleichtern könnten. Ähnlich begründete im übrigen William James (1902/1997, 42), warum er sich in seinen Studien über religiöse Erfahrung vor allem den Erfahrungsbeschreibungen von Individuen zuwandte, deren Religion „einem heftigen Fieber gleicht“. Ein weiteres Argument ist die Tatsache, dass sich die bis zum Terrorismus reichende fundamentalistische Religiosität zu einem ernsten Gegenwartsproblem entwickelt hat und ein besseres Verständnis dieser Phänomene nicht zuletzt auch von aktueller gesellschaftskultureller und gesellschaftspolitischer Relevanz ist. Qualitative Empirie im engeren Sinne ist dabei allerdings nur bei den Pfingstchristen und den Patchwork-Religiösen leistbar. Ein direkter qualitativ-empirische Zugang zum Feld des religiösen Terrorismus ist nicht möglich. Dieser Thematik könnte man sich jedoch anhand von Publikationen nähern, die Selbstäußerungen religiöser Terroristen enthalten. 4.1.1. Gefühl und Interpretation in den Erfahrungen religiöser TerroristenSelbstzeugnisse religiöser Terroristen, etwas Abschiedsbriefe an die Familie, finden sich in vielen Publikationen zum islamistisch motivierten Terror (u. a. Reuter 2003). Auch das Theaterstück „Talking To Terrorists“ des englischen Autors Robin Soans, das zu einem Gutteil auf Selbstäußerungen islamistischer Terroristen beruht, käme als Material für derartige Analysen in Frage. 4.1.2. Gefühl und Interpretation im Glaubensleben „wiedergeborener“ PfingstchristenNach Anfängen im 19. und im frühen 20. Jahrhundert erlebt die Pfingstbewegung gegenwärtig eine neue Konjunktur und gilt als die am schnellsten wachsende Religionsform der Gegenwart (Anderson 2005, Hollenweger 2002). Ihre Domäne ist das religiöse Gefühl. Ihr Christentumsverständnis ist fundamentalistisch und bekehrungsorientiert. Die Bekehrung bildet dabei eine biographische Zäsur, die das Leben in ein altes und eine neues, in ein sündiges und ein wiedergeborenes Leben einteilt. Zu untersuchen wären vor allem Bekehrungserzählungen deutscher Pfingstgläubiger. An ihren Erzählungen müsste sich der Zusammenhang von narrativ explizierten Wandlungen des Selbstverständnisses (vgl. Hartmann 2005, 160ff.) und starken religiösen Gefühlen besonders deutlich zeigen. Durch qualitative Interviews müsste analysierbar werden, wie Wandlungen des Selbstverständnisses im spezifischen religionskulturellen Kontext von Pfingstgemeinden Gefühle formen und allererst hervorbringen, die vorher in dieser Form noch nicht existierten. Das konkrete Vorgehen könnte so aussehen: Auf der Grundlage der theoretischen Vorarbeit wird ein Leitfaden für die qualitativen Interviews erarbeitet. Dabei wären zwei Bereiche in den Blick zu nehmen: die Bekehrungserfahrungen und der religionsbiographische Gesamtkontext. Die angezielte Interviewform lässt sich als narrativ-thematisch charakterisieren: es werden zum einen bestimmte Fragestellungen verfolgt, zum anderen soll aber auch Anreiz und Raum für Erzählungen gegeben werden. Die Interviews werden sukzessive geführt, aufgezeichnet, transkribiert und kategorisierend mit Hilfe des einschlägigen Computerprogramms „Maxqda“ ausgewertet. Dieser Arbeitsschritt orientiert sich methodisch an der Vorgehensweise der Grounded Theory (Strauss, Corbin 1996): durch kategorisierende und vergleichende Arbeitsschritte (offenes, axiales und selektives Kodieren) sollen typische Muster des Wechselspiels von Gefühlen und Interpretationen im Prozess religiöser Erfahrungen herausgearbeitet und dargestellt werden. Bei der Auswahl der Interviewpartner wäre nach der Methode des Theoretical Sampling vorzugehen, das heißt, dass die Stichprobe der InterviewpartnerInnen nicht von vornherein festgelegt ist, sondern dass die InterviewpartnerInnen nacheinander vor dem Hintergrund der jeweils schon gewonnenen empirischen Erkenntnisse ausgewählt werden. Insgesamt ist von etwa 25 Interviews bei so einem Forschungsdesign auszugehen. 4.1.3. Gefühl und Interpretation im Bereich individueller Patchwork-ReligiositätDie hybride Individuenreligion der Gegenwart (Spiritualtiätstrend) ist ein extrem weites Feld. Hier wäre ein Ausschnitt zu wählen. Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen scheint sich mir ein konkretes religionskulturelles Phänomen an der Schnittstelle von expliziter und impliziter, von kirchlicher und außerkirchlicher Religion als Forschungsfeld anzubieten: die stark emotional getönten religiösen Erfahrungen mit einer bronzenen Engelskulptur, die der kirchennahe Verein „Andere Zeiten e.V.“ (vgl. www.anderezeiten.de) seit einigen Jahren mit großem Erfolg vertreibt. Ziel der zu führenden Interviews (um die 25) wäre die Herausarbeitung eines durch die Erfahrung mit der Bronzeskulptur vermittelten Bildes spätmoderner Religiosität und darin besonders das diese charakterisierende Wechselspiel emotionaler und interpretativer Komponenten. Die Interviews müssten darum einen doppelten Fokus haben: sie sollten zum einen den Gefühlen und Erfahrungen mit der konkreten Engelsskulptur nachspüren und sie sollten zum anderen und darüber hinaus auch die je individuelle Religiosität der Befragten insgesamt in den Blick nehmen. So wird es möglich, die Engelserfahrungen in einem größeren Zusammenhang individueller Religiosität zu verorten und das Verhältnis von Gefühl und Interpretation im Umgang mit der Bronzeskulptur im Rahmen eines individuellen Selbstverständnisse ganzheitlich zu beschreiben. Als Ergebnis dieses Vorgehens entstehen Beschreibungen typischer Züge gelebter Religion, wie sie sich unter Bezugnahme auf die Engelsskulptur emotional und interpretativ artikuliert. Nach dem Abschluss einer so oder ähnlich aussehenden empirischen Phase und der Auswertung der Interviews ginge es schließlich darum, die gewonnenen Ergebnisse und Einsichten für die Weiterentwicklung der Theorie fruchtbar zu machen. Literatur
Anmerkungen[1] Die Entdeckung der sogenannten Spiegelneuronen hat die kulturwissenschaftliche Simulationstheorie naturwissenschaftlich bestätigt (vgl. Bauer 2005). |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/70/jh22.htm
|