Krankheit und Gesundheit


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Next Eminem

Ein Blick auf ‚Space Bound’

Andreas Mertin

Screenshot Eminem "Space Bound"

Im Juni 2011 erschien Eminems Space Bound als Single-Auskopplung aus dem bereits 2010 erschienenen Album Recovery. Der unter der Regie von Joseph Kahn entstandene Videoclip zu Space Bound sorgte – zumindest in Amerika – im Vorfeld für Aufregung, weil er zu „offensiv“ geraten sei, insbesondere weil er die Selbsttötung Eminems zu detailliert zeige. Nun gehören derartige Proteste inzwischen schon zum Standard der Inszenierungspraxis mancher Musikvideos, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Das hat sich seit den Zeiten von Madonnas „Like a prayer“ nicht geändert.

Trotzdem lohnt sich ein Blick auf das Video, das sich ganz gut in die Tradition der letzten Videos von Eminem einzeichnet, die sich in existentieller Zuspitzung an Beziehungsfragen abgearbeitet hatten (z.B. Love the way you lie mit Rihanna). Und auch dieses Mal geht es um den finalen Beziehungsschnitt, das Alles oder Nichts des Miteinander oder Gegeneinander.

Die Story des Clips

Am Anfang sehe wir Eminem zu später Stunde eine etwas vernebelte Straße hinunterlaufen. Am Wegesrand erscheint kurz ein Wolf, dann taucht ein Wagen auf, in dem seine Freundin (gespielt von Sasha Grey) sitzt. Eminem setzt sich gleich zwei Mal in den Wagen, auf den Rücksitz und den Beifahrerplatz. Während der Eminen auf dem Beifahrersitz den ‚normalen’ Eminem repräsentiert, verhält sich der auf dem Rücksitz deutlich aggressiver. Während der Fahrt holt sich Sasha Grey eine Zigarette aus dem Handschuhfach und man sieht dort eine Pistole liegen. Nach kurzer Fahrt halten sie an einem Motel mit einem zur Bar umgebauten Bus, steigen aus und betreten die Bar, wobei Sasha Grey zunächst vorausgeht.

Screenshot Eminem "Space Bound"

Als Eminem die Bar betritt, sieht man Grey schon an einem der Tische sitzen. Eminem aber teilt sich nach einem kurzen Moment des Zögerns in zwei Gestalten auf, eine die sich an die Bar setzt, und eine die zu Grey geht. Kurz darauf bekommt Grey einen Anruf, lächelt, steht auf und geht zu den Toiletten, während man in ihrem Hosenbund den Revolver sieht. Eminem ist irritiert und kontrolliert, von wem sie den Anruf bekommen hat. Nach ihrer Rückkehr gehen sie in ein Zimmer des Motels. Kurz nach Betreten des Zimmers meint Eminem, jemand habe an der Tür geklopft, er öffnet sie … aber es ist niemand da. Dann spitzen sich die Dinge zu, Eminem erinnert sich an die Pistole, den Anruf des Unbekannten und er realisiert, dass ein Dritter im Spiel zu sein scheint. Er versucht Grey zu erwürgen, aber sie löst sich ins Nichts auf. Plötzlich hat Eminem die Pistole in der Hand, setzt sie an den Hals und jagt sich eine Kugel in den Kopf. Das gleiche passiert zeitgleich mit dem Eminem, der an der Bar sitzen geblieben war. Von der Gewalt des Schusses angetrieben, fliegt er durch das Fenster der Bar. Und dann spult sich der Film in atemberaubender Geschwindigkeit zurück (zeigt dabei aber auch Szenen, die wir vorher noch nicht gesehen hatten) bis zu der Stelle, an der Eminem auf seine Freundin trifft. Wieder steigt er in den Wagen und fährt zusammen mit ihr in die Nacht hinaus.

Der Liedtext

Der Song schildert mit dramatischen Worten im Großen und Ganzen das, was auch im Videoclip geschieht – mit einer kleinen entscheidenden Ausnahme: im Text kommt auch die Freundin ums Leben, bevor Eminem sich erschießt. Nichts deutet darauf hin, dass es sich an dieser Stelle um eine Vision handelt:

                                               I’m tryna stop you from leavin’
You won’t even listen so fuck it, I’m tryna stop you from breathin’
I put both hands on your throat, I sit on top of you squeazin’
Til I snap your neck like a popsicle stick, ain’t no possible reason
I can think of to let you walk up out this house and let you live
Tears stream down both of my cheeks now I let you go and just give
And before I put that gun to my temple I told you this… (Gunshot)

Die Konstruktion des Clips

Das Interessante am Clip ist weniger die Besetzung der weiblichen Hauptrolle mit einem Porno-Starlet wie Sasha Grey, sondern eher der zur Verdreifachung der Handlung eingesetzte Split-Screen. Er erlaubt es dem Regisseur drei Ebenen vorzuführen: zum einen die des sein Liebesleid herausschreienden Eminem, der mit dem Gedanken spielt, sich zu erschießen, zum zweiten die voller Zweifel steckende Eminem-Figur, die erst auf dem Rücksitz des Wagens und dann an der Bar sitzt und dort das Schicksal ihres Doppels teilt. Und schließlich die Handlungsfigur des Eminem, die das Telefon kontrolliert, die Freundin umbringen will und sich dann scheinbar real erschießt.

Screenshot Eminem "Space Bound"

Da der Clip in der Dramaturgie weitgehend dem Liedtext folgt, bleibt das Geschehen letztlich von der ersten Handlungsebene des auf der Straße singenden Eminem abhängig (dem ebenso sprichwörlichen wie optisch präsentierten lone wolf: „Nobody knows me, I’m cold, walk down this road all alone“). Wie sich zeigt, werden dessen Gedanken, Ängste und Zweifel dann auf den anderen Ebenen umgesetzt („It sucks, but it’s exactly what I thought it would be like tryna start over“). Das bedeutet aber auch, dass die inkriminierten gewalttätigen Momente auf die Ebene der Imagination bzw. Virtualität verschoben werden.

Next - Eminem

Wenn ich es recht sehe, dann bedient sich Regisseur Joseph Kahn in der Logik und der Konstruktion der verschiedenen Handlungsebenen des Clips einer Idee, die sich schon im Kinofilm „Next“ aus dem Jahr 2007 (Regie Lee Tamahori) findet, der wiederum die literarische SF-Vorlage „Der goldene Mann“ umsetzt. Darin verfügt der Protagonist Cris Johnson (gespielt von Nicolas Cage) über die Fähigkeit, in einem knappen Zeitrahmen von zwei Minuten seine eigene Zukunft vorhersehen (und die Ereignisse korrigieren!) zu können. Das befähigt ihn, in diesem Zeitrahmen eine Situation wieder und wieder durchzuspielen, um die richtige Lösung zu finden. Auch in Next wird die richtige Entscheidung am Schluss des Films im Blick auf das Schicksal der Partnerin getroffen. Kurz vor Ende des Films ist der Protagonist wieder zurückgeworfen auf den Anfang seiner Beziehung zur Partnerin und kann eine alternative (und hoffentlich lebensrettende) Entscheidung treffen.

Plakat Kinofilm Next

Wenn diese Analogie zutrifft, dann öffnet sich auch der Ereignisbaum am Ende des Clips Space Bound für die Handlungsfiguren neu. Dann stellen die dramatischen Ereignisse im Clip nur eine unter vielen denkbaren Möglichkeiten dar. Und das gilt natürlich für beide Protagonisten. Wieder treffen sie auf der Landstraße aufeinander, wieder steigt Eminem zu Sasha Grey in den Wagen und nun können sie sich z.B. entscheiden, am Motel vorbeizufahren (das scheint die im Clip selbst angedeutete Lösung zu sein), sie könnten anhalten und aussteigen, sie könnten sich trennen usw. Aber sie könnten die Katastrophe natürlich auch unter anderen Vorzeichen wiederholen. Das ist bei Eminem das Wahrscheinlichste. 

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/72/am360.htm
© Andreas Mertin, 2011