75 Jahre danach: Kunst und Kirche


Heft 74 | Home | Heft 1-73 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Gottbegnadet oder Künstlergenie?

Zur Geschichte einer Sprachfloskel

Andreas Mertin

„Gottbegnadet“ – wer auch nur einmal kurz über dieses Wort nachzudenken beginnt, dem wird schnell klar, wie sehr sein Gebrauch von bestimmten religiösen und gesellschaftlichen Grundannahmen abhängt. Wer „gottbegnadet“ sagt, muss ein Weltbild voraussetzen, in dem Gott als aktiv handelnde und in die Geschichte eingreifende Größe verstanden wird. In einer Art Prädestination wählt Gott aus den in Frage kommenden Menschen einige aus und begnadet sie – womit auch immer. Andere wiederum werden von Gott in dieser Frage zumindest nicht begnadet. Wenn man das Wort „gottbegnadet“ nun in kulturellen Kontexten (Schriftsteller, Maler, Bildhauer, Schauspieler, Komponisten, Musiker …) verwendet, dann wird schnell deutlich, dass es eine modifizierte Form der Genieästhetik beschreibt, bei der der geniale Funke, der den Künstler von anderen unterscheidet, mit Gott begründet wird. Eine wie auch immer geartete kulturelle Differenzierung (und damit auch Hierarchisierung) der Begabungen wird auf Gott zurückgeführt. Damit wird zugleich der ideologische Kern der Rede von den „Gottbegnadeten“ deutlich -  ihre zugeschriebene Dignität wird der rationalen Kontrolle entzogen. Gottbegnadet – dieses Wort funktioniert nämlich nur, wenn man in einer Welt lebt, in der in der Bevölkerung noch ein unbefragter Gottesbegriff virulent ist, und in der dieses Modell auf Menschen übertragen werden kann und in der dieser Anspruch der humanistischen Legitimierungsanforderung entzogen werden soll. Gleichzeitig muss die Kontrolle der religiösen Sprache bereits von der Kirche auf bürgerliche Kreise übergegangen sein, denn die Rede vom gottbegnadeten Künstler gehört nicht zur kircheneigenen Sprache.

Nun aber zur Sache selbst. 

Die Gottbegnadeten-Liste war eine 1944, in der Endphase des Zweiten Weltkrieges, vom Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und Adolf Hitler zusammengestellte, 36 Seiten umfassende Liste, in der die wichtigsten Künstler des NS-Regimes aufgeführt waren. Der Name beruht auf dem Aktentitel der Liste und ist folglich der offizielle, vom Reichsministerium verwendete Ausdruck. …

Als Auswirkung des 1943 verkündeten totalen Krieges wurden in der Endphase des Zweiten Weltkriegs zum 1. September 1944 die Theater geschlossen. Viele Künstler wurden zum Kriegsdienst eingezogen oder an der Heimatfront in der Rüstungsindustrie beschäftigt. Nur eine Minderheit von 1.041 Personen unter den etwa 140.000 Mitgliedern der Reichskulturkammer war davon ausgenommen und wurde auf der Gottbegnadeten-Liste genannt. Diese ausgewählten „Gottbegnadeten“ galten zwar trotzdem als dienstverpflichtet, wurden aber nur zu Veranstaltungen im Sinne der Kulturpropaganda und zur Truppenbetreuung herangezogen. Hiervon völlig ausgenommen waren die Personen, die „überragendes nationales Kapital“ darstellten und auf Sonderlisten genannt wurden. …

Hitler wählte für seine „Führerliste“ die in seinen Augen unverzichtbaren Schriftsteller, Komponisten, Musiker, bildenden Künstler und weitere Schauspieler. Darauf aufbauend erstellte Hitler mehrere Sonderlisten, in denen er die unverzichtbaren und in seinen Augen bedeutendsten Künstler unter den „Gottbegnadeten“ nannte.

[wikipedia – Art Gottbegnadeten-Liste][1]

Wer dagegen heute das Wort „gottbegnadet“ oder „gottbegnadeter“ in das korpuslinguistische Wörterbuch der Universität Leipzig eingibt, bekommt die Meldung, dass das Lexikon keinen Treffer für dieses Wort ausgeben könne.[2] Es findet aktuell keine Verwendung mehr. Vermutlich ist „gottbegnadet“ ein Wort, dass es für etwa 100 Jahre in der deutschen Sprache gegeben hat und dann – aus vielfachen Gründen – aufgegeben wurde und aus dem deutschen Wortschatz verschwand.

Ich möchte im Folgenden den Spuren dieses Wortes nachgehen. In zwei vermutlich miteinander verwandten Kontexten bin ich in der letzten Zeit diesem Begriff begegnet: in der Dissertation des Paul-Althaus-Schülers Leo Fremgen zur Ethik der Kunst[3] aus dem Jahre 1940 und dann bei der oben zitierten Liste Adolf Hitlers aus dem Jahre 1944. Und die Fragen, die sich dann stellen, sind vielfältig: Gibt es einen Zusammenhang zwischen der einen und der anderen Fundstelle des Wortes? Warum verwendet eine an sich nicht genuin religiöse Ideologie wie der Nationalsozialismus am Ende des Krieges den Begriff des Gottesgnadentums, wenn doch auch andere Begriffe wie etwa der des künstlerischen Genies zur Verfügung stehen? Welche Ressourcen sollen abgerufen werden, die von anderen Begriffen nicht mobilisiert werden könnten?

Nun war der Nationalsozialismus häufiger religiös pathetisch. Hitler konnte ohne Probleme in den hohen Stil fallen und Gott um den Segen für sein Tun anschreien: „Herr, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn“. Auch hier ging es darum, für etwas, was erkennbar keine religiöse Bedeutung hatte, eine religiöse Konnotation zu erzeugen.

Das Wort von den „Gottbegnadeten“ ist jedenfalls so außergewöhnlich, dass es auf keinen Fall bloß zufällig gewählt worden sein kann, „gottbegnadet“ ist ein in der deutschen Sprache so selten verwendetes Wort, dass man schon mit einer gewissen Absicht darauf zurückgreift. Aber mit welcher? Vielleicht ist das Vorkommen des Begriffs „gottbegnadet“ in einer theologischen Dissertation noch mit einiger Mühe erklärbar, aber inwiefern taugt es als Titel eines staatlichen Verwaltungsakts? Ist hier der Zynismus schon eingebaut? Oder ist auch schon der theologische Gebrauch des Wortes fragwürdig? Oder ist die Wurzel des Wortes eher in der griechischen philosophischen Tradition des Daimonions zu suchen und von daher unproblematisch?

Schlagen wir zunächst im Grimmschen Deutschen Wörterbuch[4] nach:

gottbegnadet, part. adj., vereinzelt gottesbegnadet, 'von gott mit einem besonderen gut ausgezeichnet, begnadet'. das erst seit der mitte des 19. jhs. bezeugte kompositum setzt wohl den christlichen gottesbegriff voraus, wird aber gewöhnlich religiös unentschiedener, als starke auszeichnung überhaupt empfunden, vgl. auch synonymes gottbegnadigt und gottbegabt.

1)    vom menschen selten in eigentlich religiösem sinne: im gegensatz (zu den geistlichen) erhebt er (Rulman Merswin) die gottbegnadeten laien, die wahren gottesfreunde Scherer litt.-gesch. 240.
allgemeiner: wie jeder gottbegnadete, war er (Grillparzer) kühn und weise zugleich jahrb. d. Grillparzerges. (1890) 2, 328.
entlegener, im sinne von 'freimütig, unbekümmert': statt mit gesenkten augen und schambedeckter stirne tritt dann der sträfling heiter, ruhig, mit verklärtem lächeln auf, und schaut aller welt gottbegnadet ins antlitz Kürnberger nov. (1861) 1, 222.
wohl in assoziierender anknüpfung an den begriff gottesgnadentum: ein reichsregiment also in mehrfacher abstufung der obrigkeitlichen gewalt, so jedoch, dasz jedes mitglied desselben in seinem wirkungskreise die volle weihe des gottbegnadeten fürstenamts besäsze Sybel begründung d. dt. reiches (1889) 1, 101.
in dieser anwendung auch ironisch: zu einem einzigen verbrecherhaufen ist vor den augen des einzigen gerechten, unserer gottbegnadeten regierung, die ganze bevölkerung geworden Lassalle ausgew. reden u. schr. 3, 477.

2)   auch unmittelbar als attribut des verliehenen gutes: einem monarchen, der so die ersten pflichten eines gottbegnadeten amtes verkannte Spielhagen s. w. (1877) 2, 343;
alle diese dichter lebten mit sich selbst im reinen, glücklich in dem bewusztsein gottbegnadeter künstlerschaft Treitschke dt. gesch. (1897) 3, 692.
gern als attribut fruchtbarer, schöner landschaften, vgl. hierzu synonymes gottgesegnet: in wolkenloser bläue lachte der himmel herab auf das schöne, gottesbegnadete stück land vor der Hardt didaskalia v. 4. 4. 1871 in: teil 10, 1, sp. 1687; A. Steinitzer a. d. unbekannt. Italien (neue folge 1914) 52. —

Wir kommen mit dem Artikel aus dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm der Sache nicht sehr viel näher. Am hilfreichsten ist vielleicht noch die summarische Zusammenfassung: „Das erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bezeugte Kompositum setzt wohl den christlichen Gottesbegriff voraus, wird aber gewöhnlich religiös unentschiedener, als starke Auszeichnung überhaupt empfunden“. Danach wäre „gottbegnadet“ eine Sprachfloskel, die sich aus den Resten einer ursprünglich religiösen Idee bildet.

Deutlich wird aus dem Artikel des Deutschen Wörterbuchs, dass „gottbegnadet“ der Versuch einer Übertragung der Wendung „von Gottes Gnaden“ (Dei Gratia) vom Monarchischen auf andere Bereiche des Lebens sein könnte. So wie der Herrscher durch den Willen Gottes eingesetzt und legitimiert ist, so soll nun auch anderes legitimiert werden. Das könnte noch hilfreich sein, wenn man der Frage nachgeht, was die ideologische Spitze der Wortverwendung im Gegenüber zur zeitgenössischen Verwendung des Wortes „Genie“ ist. Abweisen können wir somit aber auch die Vermutung, der Begriff des Gottbegnadeten leite sich von der Vorstellung des Daimonion in der Tradition des Sokrates ab, denn letztlich ähnelt dieses eher der christlichen Vorstellung des Schutzengels als der spezifischen von den Göttern ausgehenden Begabung.

Recherchiert man in den philosophischen Textdatenbanken, dann taucht das Wort „gottbegnadet“ überhaupt nicht auf.[5] Nur in Vorländers Geschichte der Philosophie aus dem Jahr 1903 heißt es an einer Stelle:

Mit einem geläuterten Monotheismus, einer Verehrung Gottes als reinen Geistes durch wortloses Gebet und tugendhaftes Leben verbindet sich die phantastische Annahme einer Reihe von Dämonen oder niederen Göttern, bei denen der schwache und sündhafte Mensch in der Erfüllung seiner Aufgabe, Unterdrückung der Sinnlichkeit durch den reinen Geist, Beistand findet, sei es durch unmittelbare Erleuchtung oder durch Orakel oder durch die Vermittlung besonders gottbegnadeter, göttliche Offenbarung spendender Weisen, wie des Pythagoras selbst, über den sich jetzt zahlreiche neue Legenden bilden, und des Apollonius von Tyana.

Vorländer rekurriert ohne Zweifel auf das nach der Jahrhundertwende zum Modewort gewordene „gottbegnadet“, füllt es aber so, wie man es mit einiger sprachlicher Vernunft fassen würde.

Auch in der engeren Fachliteratur zur Musik selbst ist der Begriff nicht so häufig, wie man es vermuten könnte (was nicht heißt, dass er auf Musiker nicht angewendet wurde, sondern dass die Anwendung auf Musiker eher literarischen als fachlichen Kontexten entspringt).

Richard Strauss schrieb zur 100-jährigen Geburtstagsfeier von Johann Strauß: Er »ist von allen Gottbegnadeten für mich der liebenswürdigste Freudenspender. Er gilt mir als einer der Letzten, die primäre Einfälle hatten. Ja, das Primäre, das Ursprüngliche, das Urmelodische, das ist's!«[6]

Wenn ich es recht sehe, dann ist auch hier die Rede vom Gottbegnadeten eher Floskel und wird im Sinne des Originären gefüllt. Allenfalls schwach taucht der Gedanke des Künstlers als Alter Deus in der Charakterisierung von Strauss auf.

Bei der Suche in der Datenbank Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky[7], die immerhin rund 600.000 Textseiten umfasst, ergeben sich 40 Fundstellen von insgesamt 23 Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Zeitlich lässt sich das in den auch schon im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm angegeben Zeitraum einordnen: Frühestes Beispiel ist eine Fundstelle in der Selbstbiographie der Gräfin Ida Hahn-Hahn aus dem Jahr 1846, ein zeitlicher Schwerpunkt liegt dann vor allem in der Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts. Sachlich stehen 17 der 40 Fundstellen in einem engeren Kontext mit Künstlern, Dichtern, Musikern.

In einem gewissen Sinne gehörte die Rede von den „gottbegnadeten“ Künstlern offenkundig zum Jargon der Kulturschickeria am Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Wort wurde als verstärkendes Adjektiv verwendet (in etwa im Sinne des heutigen ‚ein ausgezeichneter Bildhauer bzw. Schriftsteller’).

Hahn-Hahn

1846

Sibylle

Gottbegn. Individuum

Gutzkow

1850/59

Die Ritter vom Geiste

Gottbegn. Berufung

Gutzkow

1858

Der Zauberer von Rom

Gottbegn. Zustand

Hahn-Hahn

1860

Maria Regina

Gottbegn. Geschöpf

Heyse

n. 1860

Gedichte

Gottbegn. Tragöde

Spielhagen

1862

Problematische Naturen

Gottbegn. Amtes

Geibel

1864

Gedichte und Gedenkblätter

Gottbegn. Natur

Otto

1866

Das Recht der Frauen auf Erwerb

Gottbegn. Familie

Marlitt

1867

Das Geheimnis der alten Mamsell

Die „Gottbegnadeten“

Marlitt

1867

Das Geheimnis der alten Mamsell

Gottbegn. Meister

Meyer

1874

Jürg Jenatsch

Gottbegn. Traum

Büchner

1875

Deutsche Geschichte 1815-1870

Gottbegn, Höhe

Dohm

1876

Der Frauen Natur und Recht

Gottbegnadeten

Franzos

1877

Die Juden von Barnow

Gottbegn. Maler

Rosegger

1877

Waldheimat.

Gottbegn. Geschlecht

Rosegger

1877

Waldheimat.

Gottbegn. Sinn

Rosegger

1877

Waldheimat.

Gottbegn. Künstler

Ebner-Eschenbach

1881

Nach dem Tode

Die Gottbegnadeten

Ebner-Eschenbach

1887

Ihr Traum

Gottbegn. Jünger

Bleibtreu

1888

Größenwahn

Gottbegn. Poet

Dehmel

1897

Die Verwandlungen der Venus

Gottbegn. Getier

Spielhagen

1897

Zum Zeitvertreib

Gottbegn. Künstler

Ebner-Eschenbach

1898

Der Vorzugsschüler

Gottbegn. Kamerad

Panizza

1898

Nero

Gottbegn. Künstler

Panizza

1898

Psichopatia criminalis

Gottbegn. Blut

Altenberg

1902

Was der Tag mir zuträgt

Gottbegn. Hände

Suttner

1902

Martha's Kinder

gottbegn. Genius

Suttner

1902

Martha's Kinder

Gottbegn. Literat

Ebner-Eschenbach

1903

Agave

Gottbegn. Künstler

May

1903

Im Reiche des silbernen Löwen III

Gottbegn. Seele

Rilke

1903

Worpswede

Gottbegn. Flötenspieler

Ebner-Eschenbach

1904

Meine Kinderjahre

Gottbegn. Wesen

Ebner-Eschenbach

1904

Meine Kinderjahre

Gottbegn. Kind

May

1904

Und Friede auf Erden!

Gottbegn. Herrscher

May

1904

Und Friede auf Erden!

Gottbegn. Wesen

Altenberg

1906

Pròdromos

Gottbegn. Dichter

Spitteler

1906

Imago

Gottbegn. Künstler

Altenberg

1908

Märchen des Lebens

Gottbegn. Dichter

Christ

1920

Madam Bäurin

Gottbegn. Wesen

Klabund

1928

XYZ

Gottbegn. Leib

Wenn man sich einzelne Fundstellen noch einmal genauer anschaut, lassen sich einige Schlussfolgerungen ziehen.

Bei der ersten Fundstelle, den autobiographischen Erzählungen „Sybille“ von Ida Hahn-Hahn (1805-1880) heißt es: „Es kam mir Alles so mittelmäßig vor! ich kannte manche gute Menschen – doch sie hatten große Fehler! manche kluge – doch sie hatten große Schwächen! Ich sah wol daß recht viel und mitunter auch recht Tüchtiges gethan wurde; aber es wurde nichts Großes geleistet wie ich mir das Große dachte: im gottbegnadeten Individuum als eine neue Sonne aufgehend zu der die Menschheit betet.“ Hier hat das Wort noch ganz den romantischen Bedeutungsgehalt, es ist der Genieästhetik noch nicht entgegengesetzt, sondern drückt fast Analoges aus. Es ist eher eine religiöse Aufladung des Geniebegriffes. Das „gottbegnadete Individuum“ leistet mehr als nur Mittelmäßiges, mehr als nur Gutes, mehr as nur Kluges. Es leistet – und hier wird dann die Verbindung zu späteren Adaptionen deutlich – Großartiges. 

In der zweiten Fundstelle, „Die Juden von Barnow“ von Karl Emil Franzos (1848-1904) aus dem Jahr 1877, lautet der Kontext: „Ein merkwürdiges Bild! Ist's ein Porträt, oder ein Genrebild, oder die heilige Jungfrau mit dem Kinde? Ein junges Weib in dunklem Gewande blickt auf den Säugling in ihrem Schoße. Das Weib ist unsäglich schön – wenn Raphael sich in das Hohe Lied vertieft hätte, er würde vielleicht, berauscht von allen Zaubern des Orients, ein ähnliches Antlitz erträumt haben – aber nicht diese Schönheit macht das Bild herzergreifend, sondern das Lächeln, mit dem sich die junge Mutter über ihr Kind beugt, das gütige, stolze und doch süß verschämte Lächeln! Der dies Bild gemalt hat, war kein Gottbegnadeter; er hat nur, so gut er's konnte, wiedergegeben, was er schauen durfte, aber ihm ist gelungen, ein Gefühl greifbar klar zu verkörpern, das sonst der Dichter vergeblich in Worte, der Maler in Farben zu fassen sucht, so unendlich reich und tief ist dieses Gefühl – die Mutterliebe.“ Gottbegnadet ist auch hier die Differenz von durchschnittlicher künstlerischer Begabung und dem entscheidenden Mehr. Wer nicht gottbegnadet ist, kann dennoch ein anrührendes Bild malen. Was ihm fehlt, ist die Fähigkeit, in seiner Kunst mehr als nur die Wirklichkeit einzufangen und zu verdoppeln.

Bei der dritten zu nennenden Fundstelle, Peter Roseggers (1843-1913) „Waldheimat“ ebenfalls von 1877, ist die Verwendung schon gebrochener und ironischer: „Ganz und gar verrückt, dachte ich, habe aber meine Meinung ein wenig ändern müssen. Denn es kam heraus, daß ich die Ehre hatte, mit einem Philosophen zu sprechen, mit einem Dichter und Künstler, kurz mit einem gottbegnadeten Narren.“ Hier ist das Wort gottbegnadet als bekannte Sprachfloskel bereits vorausgesetzt und wird mit den „Narren“, die bekanntermaßen die Wahrheit sagen, ironisch näher erläutert. 

Bei Oskar Panizza (1853-1921) ist es ironischerweise Nero, der in der gleichnamigen Tragödie von 1898 sich in der Schlussszene als „gottbegnadeten Künstler“ bezeichnet.

Bei Bertha von Suttner (1843-1914) kommt es 1902 in ihrem Stück „Martha’s Kinder“ zu folgender Charakterisierung: „Daß sie die große Dame, er ein eigentlich noch unbekannter Literat und gesellschaftlich unbedeutender Mensch war, kam ihr gar nicht zum Bewußtsein – er war der Gottbegnadete, der Anwärter auf die Strahlenkrone des Ruhms – sie eine einfache, unbedeutende Frau.“ Die außerordentliche Begabung des Künstlers vermag – und sei sie wie im vorliegenden Falle auch nur imaginiert – Standesunterschiede umzukehren, setzte aber auch den so Etikettierten unter Druck, „Großartiges“ zu leisten.

Bei Carl Spitteler (1845-1924) kommt das Wort fast beiläufig in seinem Stück „Imago“ von 1906 vor und zwar im Rahmen eines bürgerlichen Bildungsprogramms: „Einstweilen möge er doch die mannigfachen Gelegenheiten benützen, die einem in hiesiger Stadt geboten würden; oder ob er denn für gar nichts Höheres Sinn habe? Am Donnerstag zum Beispiel wäre ein interessanter Vortrag über die Liebe bei den alten Germanen, am Sonntag gebe es einen siebenjährigen Geiger; wohlverstanden durchaus nicht etwa bloß so ein unnatürliches bedauernswürdiges Wunderkind, sie wären vielmehr die letzten, solch eine künstliche Treibhauspflanze zu begrüßen, sondern diesmal ein echter, gottbegnadeter Künstler.“ Hier sind die Oppositionen ganz interessant: der gottbegnadete Künstler steht im Gegenüber zum Wunderkind (das nur eine „künstliche Treibhauspflanze“ darstellt). Das „Wunderkind“ ist zu dieser Zeit offensichtlicch bereits eine so häufige Etikettierung, dass man damit keinen wirklichen Eindruck mehr schinden kann.

Bleibt als letztes Beispiel noch Peter Altenberg (1859-1919), bei dem sich der Aphorismus „Dichter“ aus dem Jahr 1908 findet, indem er die Gabe des Gottesgnadentums auf die Fähigkeit zur rechten Wahl reduziert: „Jemand schrieb über mich: »Und wenn man wirklich noch daran zweifeln könnte, dass man es hier mit einem gottbegnadeten Dichter zu tun hat, so lese man nur die kleine Geschichte von dem siebenjährigen Kind!« Aber gerade diese Geschichte hat mir die Mutter dieses Mäderls wörtlich mitgeteilt. »Aber diese einfache Sache für wert zu halten, sie den anderen mitzuteilen, mein Herr?!?« »Jawohl, das heißt ein Dichter sein!« Nicht die sprachliche Formulierung macht den (gottbegnadeten) Dichter aus, sondern ganz modern gesprochen, die gelungene Auswahl aus einer Reihe von Möglichkeiten. Fünf Jahre später wird Marcel Duchamp in der Bildenden Kunst diesen Gestus radikal als Bruch von der traditionellen Kunstgeschichte vollziehen, indem er den Alltagsgegenstand des Fahrrad-Rades auswählt und als Kunstwerk ausstellt. Das freilich dürfte dann nicht mehr unter die Kategorie des „gottbegnadeten Künstlers“ fallen.

Als Hitler und seine Schergen das Wort „gottbegnadet“ zur Bezeichnung der vom Kriegsdienst befreiten verwendet, gehört die Rede von den Gottbegnadeten längst zum herabgesunkenen Sprachgut und war kaum noch in Verwendung. Sein Gebrauch ist also ideologisch motiviert.

Vor dem Hintergrund der Verwendung des Wortes beim unserem letzten zitierten Beispiel, Peter Altenbergs Aphorismus vom Dichter, könnte man natürlich auch auf die Idee kommen, die Gottbegnadeten-Liste beziehe sich weniger auf die gottbegnadeten Künstler, sondern auf den Gestus der Auswahl freizustellender Künstler.

Warum fand aber nicht der in der Kultur, in Literatur und Philosophie und auch in der Bevölkerung viel mehr verbreitete Begriff des Genies Verwendung? Sprachlich wäre eien Liste der Genies natürlich schon etwas komisch. Aber auch gibt es inhaltliche Gründe, der Geniebegriff steht für etwas anderes. In Peter Altenbergs „Was der Tag mir zuträgt“ heißt es, Piróska lebe, „wie der Stern auf seiner ihm selbst mysteriösen Bahn, wie das Genie, welches sich verlässt auf einen Gott in ihm!“ Der Geniebegriff kennt zwar das Außerordentliche, kennt das Ingenium, aber er impliziert letztlich, dass dieses letztlich im Künstler begründet liegt und nicht von außen auf ihn zukommt, es kennt keine Vorsehung oder Ähnliches. Der Geniebegriff setzt auf die Natur, die der Kunst die Regel gibt, wie Kant schreibt. Aber er lässt wenig Raum für metaphyische Aufladungen, sondern ist eng mit dem Programm der Aufklärung verbunden und in der Sache von Kant schon so bestimmt worden, dass die nationalsozialistischen Urteile über die so genannte „entartete Kunst“ sich der Widerlegung ausgesetzt sähen: „Die schöne Kunst zeigt darin eben ihre Vorzüglichkeit, dass sie Dinge, die in der Natur hässlich oder missfällig sein würden, schön beschreibt.“ Insofern ist der Geniebegriff für einen Staat, der einen Gutteil der Künstler seiner Zeit verjagt und ausgeschlossen hat, weil sie hässliche Dinge darstellen, von einer gefährlichen Konnotation begleitet.

Mit der Etikettierung als Gottbegnadeten-Liste geht es letztlich darum, den totalitären Gestus zu rechtfertigen, der dekretiert, wer von Gott begnadet ist (und dehalb geschützt werden soll) und wer nicht. Genies müsste man anerkennen, Gottbegnadete kann man offenkundig benennen – und wenn nicht von Gottes, dann doch von Führers Gnaden. Es geht also um die Erklärung des künstlerischen Ausnahmezustands und das Recht diesen zu erklären. Was Kunst ist, darüber entscheidet nicht die Kunst, darüber entscheiden nicht die Künstler, sondern darüber entscheidet die Partei und der Führer.

Anmerkungen

[1]    http://de.wikipedia.org/wiki/Gottbegnadeten-Liste

[2]    http://wortschatz.uni-leipzig.de/

[3]    Fremgen, Leo (1942): Kunst und Schöpfung. Ethik der Kunst. Gütersloh: Bertelsmann.

[4]    http://urts55.uni-trier.de:8080/Projekte/WBB2009/DWB/displayLinkInfo?lemid=GG23437

[5]    Digitale Bibliothek: Philosophie von Platon bis Nietzsche. Berlin 2004

[6]    Die Musik in Geschichte und Gegenwart: Art. Strauß (Familie). MGG 1986, Bd. 12, S. 1468

[7]    Deutsche Literatur von Luther bis Tucholsky (2005). Berlin: Directmedia Publ. (Digitale Bibliothek, 125).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/74/am371.htm
© Andreas Mertin, 2011