Paradigmen theologischen Denkens


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Videoclips XXXI

Die ewige Wiederkehr oder eine Echternacher Springprozession

Andreas Mertin

Lana del Rey: Born to die

Es gibt einen popkulturellen Positivismus, der sagt, egal ob ein Lied Kitsch oder Avantgarde ist, Hauptsache es ist erfolgreich. Was immer Kritiker sagen und schreiben, es reicht der Hinweis darauf, dass das aktuelle Album unter den Top Ten ist, um alle Kritik  zum Schweigen zu bringen. Das ist aber so, als würde man die totalitäre Bewegung der ungarischen Regierung damit rechtfertigen zu suchen, dass die Mehrheit des Volkes sie gewollt habe. Quantität schlägt nicht automatisch ab einem bestimmten Prozentsatz oder ab einer bestimmten Platzierung in Qualität um. Ein Beispiel, an dem man das gut studieren kann, ist der gegenwärtige Hype um Lana del Rey. Schwer erträglich ist diese Performance, an der aber auch nichts stimmt - außer dem unbedingten Willen zur Regression.

Wer sich den 2011 bzw. 2012 erschienenen Videoclip zu "Born to die" unter der Regie von Yoann Lemoine anschaut, trifft auf eine überaus pathetische und durchaus zur Musik passenden Inszenierung. Sie beginnt mit einem Liebespaar vor dem amerikanischen Sternenbanner und setzt sich dann fort mit dem Inneren einer barocken Kirche bzw. Kapelle und dem Inneren eines Schlosses. Es handelt sich dabei nicht um irgendeine Kirche, sondern um die Chapelle de la Trinité des Schlosses Fontainebleau in Frankreich, dessen Räume dann im Clip auch vorkommen.

Die Story des Clips ist einfach, ein Roadmovie eines jungen Paares, das sich trifft, mit einem Auto eine Reise unternimmt und schließlich in einen Autounfall verwickelt wird, bei dem die Frau stirbt. Konterkariert ist diese Geschichte von einem Setting in fürstlichen Gemächern und einer Kapelle.

Der Clip hat insgesamt sechs Bildebenen, (1) das Paar vor der Flagge (Prolog/Epilog), (2) die Sängerin in der Kapelle, (3) das Paar beim/im Auto, (4) das Paar in einem der Schlafzimmer von Fontainebleau, (5) die Sängerin in den Räumen von Fontainebleau und schließlich (6) das Paar nach dem Autounfall als invertiertes Vesperbild. Die Bildebenen 1, 3 und 6 verbinden sich mit den anderen Bildebenen über die Bildebene 4, der gemeinsamen Nacht in den Schlafräumen von Fontainebleau. Abgesehen von der etwas schwarz-romantischen Grundstimmung fehlt eigentlich jede weitere Aussage. Es ist alles bloß Staffage.

Madonna: Give me all your Luvin'

Ach ja, wie oft wurde Madonna schon für popkulturell tot erklärt und wie viele "Auferstehungen" hat sie danach gefeiert? Die Häme, die noch vor kurzem über Madonna ausgegossen wurde, ist wirklich billig: "Zeit ihrer Karriere hat die inzwischen abgewirtschaftete Madonna immer neue Inszenierungen gelebt, oft genug dem Vorwurf der kalten Geschäftsfrau ausgesetzt. Bis sich irgendwann Kinder, Kabbala und Karriere wirklich nicht mehr unter eine Discokugel bringen ließen" schreibt Christian Jooß-Bernau in der Zeit. Man konnte Michael Jackson im wahrsten Sinne des Wortes als "abgewirtschaftet" bezeichnen, aber welchen Sinn macht das Wort bei Madonna? Noch ist sie bei jedem öffentlichen Event der Pop-Branche präsent, sei es in Person oder als simples Vorbild. In kaum einem Jahr sind so viele Hommagen an Madonna erschienen wie im vergangenen Jahr 2011. Noch infamer ist die Darstellung von Thomas Winker in der taz: Madonnas Auftritt "offenbarte doch auch, dass die 53-Jährige es versäumt hat, Image und Klangbild zu entwickeln, die ihrem Alter angemessen wären. Viele Tanzschritte wirkten steif, obwohl die Choreografie offensichtlich gewissen geriatrischen Bedürfnissen angepasst war ... Zu sehen war eine ältere Frau, die von Botox und ausgiebigem Training zwar noch in Form gehalten wird, der es aber auch nicht gelingt, die Zeit anzuhalten." Das ist eine durch und durch menschenverachtende Sprache. Manche mögen so etwas für chic halten, aber es ist doch nur dumm und überaus peinlich. Madonna kann es egal sein, der taz mit einem Abo-Publikum, dessen Alter knapp über dem von Madonna liegen dürfte, nicht. Vielleicht kann man den Text umformulieren und als Werbeslogan für die taz verwenden: eine inzwischen in die Jahre gekommene Zeitung, die von der Ideologie zwar noch in Form gehalten wird, der aber es nicht mehr gelingt, die Welt zu verändern.

Dabei ist Madonna mit Give me all your Luvin' eigentlich ein Mediencoup gelungen, den ich wiederum für lustig halte. In der Halbzeit des amerikanischen Super-Bowl hatte sie eine Show, die nach Meinung vieler so genannter Popkultur-Journalisten den Schönheitsfehler hatte, dass ihr M.I.A. mit einem gestreckten Zeigefinger die Show gestohlen hatte. Madonna sei darüber sehr sauer gewesen. Nun ja, wenn es so wäre, dann müsste Madonna auch über das zuvor von ihr gedrehte Video sehr sauer gewesen sein, in dem M.I.A. selbstverständlich auch den Mittelfinger hebt (s. Screenshot). Die Szene gehört schlichtweg zur Performance des Stückes. Aber eine Meldung über einen scheinbaren Skandal mit einem scheinbaren anschließenden Zwist kommt natürlich besser.

Und ja, Madonna macht sich im Video zu "Give me all your luvin'" jünger als sie ist, aber sie thematisiert das im Video auch. Wenn Nicki Minaj und M.I.A. im Video erstmalig den Madonna-Schlachtruf intonieren, kommt Madonna mit Kinderwagen durch die Haustür gefahren und kurze Zeit später brechen alle Barrieren, die sich ihr in den Weg stellen weg. Es ist, als ob sie sich über alle lustig machte, die ihr "Kinder, Kabbala und Karriere" unter der Discokugel vorwerfen würden und sich doch nur fragen, wie sie das macht.

Und dass Madonna im Videoclip zusammen mit M.I.A. und Nicki Minaj alle amerikanischen Footballspieler zu frauenvergötternden Deppen erklärt und zugleich damit beim Super-Bowl auftritt, das hat schon etwas.

Musikalisch ist "Give me all your luvin'" keine Entwicklung, das ist aber vermutlich auch nicht intendiert. Es ist ein Retro-Stück, mit Anspielungen auf das Gesamtwerk von Madonna. Vor allem aber zielt dieses Lied und seine Inszenierung auf das einmalige Ereignis des Auftritts von Madonna beim amerikanischen Super-Bowl. Was ich jedoch interessant finde, ist, dass im Lied sehr bewusst und anspielungsreich die Stile der Mitsängerinnen integriert werden. Sie sind keinesfalls nur Staffage im Rahmen eines Madonna-Auftritts. Und in der sprachlichen wie körperlichen Dynamik gehen die beiden an einigen Stellen klar über Madonna hinaus und zeigen, wie sich der Stil weiterentwickelt hat. Insofern ist Madonna in einem gewissen Sinne zu einer Integrationsfigur der weltweiten Popmusik geworden. Das ist nichts Negatives und schon gar kein Grund zur Häme.

1000 Robota: Er sagt

Wer hat schon gerne eine lebende Weinbergschnecke auf der Haut, die ihm schleimbeladen in den Mund, in die Nase oder sonst wo hin kriecht? Auf dem Teller hat sie der eine oder andere Frankophile vielleicht gerne, aber am Körper? Glücklicherweise ist es aber nur eine Statue, auf der sich die Schnecken in dem Video zu "Er sagt" von 1000 Robota austoben. 

Robota ist eine junge Hamburger Band, die 2008 ihr erste Album herausbrachte und 2010 den Hamburger Musikpreis HANS für den Hamburger Nachwuchs des Jahres gewann. Das Video zu "Er sagt" wurde 2010 unter der Regie von Timo Schierhorn realisiert, der für seine minimalistischen Musikvideos bekannt ist.

Und minimalistisch ist auch dieses Video. Wir sehen die ganze Zeit nur Schnecken über eine weiße Oberfläche kriechen, die mit Worten bedeckt ist. Erst in der Schlussszene wird das Ganze dann als Porträtbüste erkennbar.

Das Wortcluster, das man sieht, enthält unter anderem die Worte KALKULATION - SPRACHE - ORDNUNG - FARBE - GEWICHT - GRÖSSE - FLÜSSIGKEIT - NACHAHMUNG - GLAUBE - ZEIT - FROHSINN - INDIVIDUALITÄT - TATSACHE - ORTSINN - ZEITSINN - VERGLEICHUNG - ERWERB - AUSFÜHRUNGSKRAFT - VERHEIMLICHUNG - GESCHLECHTSINN - LEBENSSINN - MUT - EHELEBEN - SORGLICHKEIT - FREUNDSCHAFT - KINDERLIEBE - FREUNDSCHAFT - ERHABENHEIT - HÄUSLICHKEIT - BESTÄNDIGKEIT - KONSTRUKTION - IDEAL - WOHLWOLLEN - VEREHRUNG - MENSCHLICHE NATUR - WILLENSKRAFT - GEWISSEN - TONSINN - NAHRUNG - SCHLUSSVERMÖGEN - BEIFALLSLIEBE - GEWISSENHAFTIGKEIT - SELBSTVERTRAUEN - HOFFNUNG -

Man kommt schnell darauf, dass es sich um ein Sinnbild für die Lokalisierung verschiedener Funktionen, die im Gehirn angesteuert werden, handelt. Tatsächlich stand im 19. Jahrhundert in vielen Arztpraxen ein so genannter phrenologischer Kopf und die Liste der zugeschriebenen Eigenschaften weist eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Begriffen auf dem Kopf im Clip von 1000 Robota auf. Allerdings kannte der Begründer, Franz Joseph Gall, nur 27 derart lokalisierbare Charaktereigenschaften.

Enigmatisch könnte man den Liedtext (wie die visuelle Umsetzung) nennen - und das ist wohl auch so intendiert. Der Kontrast bzw. das Zusammenspiel von Text und Bild ist aber doch sehr erkenntnisproduktiv.

St. Vincent: Cheerleader

Sage einer, es gäbe keine und guten Videoclips mehr. Der Regisseur Hiro Murai erzählt in seinem Video zum Clip Cheerleader von St. Vincent seine Variante des weiblichen Golem.

Zu Beginn fährt die Kamera an hochhackigen Schuhen und ausgestreckten Fingern entlang, um sich dann auf das Gesicht einer liegenden Frau zu fokussieren. Als die Kamera zurück fährt, erkennt man, das wir auf eine Art weiblichen Goliath im Land der Liliputaner-Museumsbesucher geblickt haben. Verstört und fasziniert schauen die Besucher und Beobachter auf das überdimensionierte (lebendige) Objekt. In der Situation erfährt der Kunstinteressierte ein Déjà-vu, denn die Installation und das Settiung erinnern unmittelbar an Installationen des australischen Bildhauers Ron Mueck, z.B. an seine Mixed Media Installation "In Bed" aus dem Jahr 2005. Die liegende Frau wird nun von Museumsmitarbeitern aufgerichtet, wobei das Ganze einen unstabilen Eindruck macht.

Die Figur löst sich von der Hängevorrichtung, richtet sich langsam auf und begibt sich vom Podest in den Raum hinein. Aber schon beim ersten Kontakt mit der Museumswand bricht ihr der Arm ab und fällt auf den Boden.

Die nächste Bewegung lässt die Figur nach vorne kippen und spektakulär in Einzelteile zerbrechen. Am Ende liegt sie fast halbiert auf dem Boden in einer Position, die sie auch schon am Beginn des Clips eingenommen hatte.

Diese letzte Phase des Clips erinnert wiederum sehr an das berühmte Video von Chris Cunningham zu "Africa shox" von Leftfield aus dem Jahr 1999, das auch in einer grotesken Zuspitzung von der Zersplitterung eines Menschen in der amerikanischen Kultur erzählt.

St. Vincent, das ist noch nachzutragen, ist der Künstlername von Annie Clark, die mit dieser Singleauskopplung von "Cheerleader" aus ihrem Album "Strange Mercy" sehr beeindruckt. Dabei ist die Inszenierung durch Regisseur Hiro Murai eher zurückhaltend, wir sehen vor allem den Kontrast zwischen dem Schicksal der überdimensionierten weiblichen Figur und dem Staunen und Entsetzen der Zuschauer.

Textlich spielt das Lied mit der Begriff des Cheerleaders als Metapher, genauer mit dem Unwillen, künftig weiter als Cheerleader aufzutreten:        
I don't know what good it serves
Pouring my purse in the dirt ...
But I-I-I-I-I don't wanna be your cheerleader no more

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/76/am383.htm
© Andreas Mertin, 2012