Paradigmen theologischen Denkens


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Luther als Nerd. Oder: die ultimative Verschwörung

Zur aktuellen Ikonographie des Religiösen VII

Andreas Mertin

Den Kopfhörer habe ich mir gleich gekauft, so etwas kann man sich nicht entgehen lassen. Dann habe ich ihn an mein Smartphone angeschlossen und schnell im Internet Ein feste Burg ist unser Gott gesucht und als mp3-Datei herunter geladen und dann mit voller Lautstärke angehört. Ich wollte einfach mal wissen, wie so ein echt zeitgenössisches lutherisches Gefühl ist.

Wovon ich spreche? Nun, dieses Jahr ist das Jahr der Reformationsdekade, in dem wir uns der Musik widmen. Und unbestreitbar ist Luther auch ein wichtiger Vermittler musikalischer Traditionen.

Ich selbst bin freilich noch mit Intonationen seiner Musik groß geworden, die eher so klangen:

Das waren Klänge, bei denen man schnell einschlief und die somit keine Werbung für ein zeitgenössisches Musikgefühl machten. Heute gibt es natürlich andere Intonationen desselben Liedes, die wenigstens etwas aufgeweckter wirken:


Weil dieses Jahr also dem Thema Reformation und Musik gewidmet ist, hat die EKD auch wieder einmal eine passende Kampagne entwickelt und öffentlichkeitswirksam inszeniert:

Ein echter Hingucker - wie der Vizepräsident der EKD bei der Vorstellung formulierte. Da hat er recht, man muss schon mehrmals hingucken, um den vollen Gehalt der Bilderbotschaft zu entschlüsseln. Denn auch dieses Bild ist wieder ein schlagendes Beispiel für die lange Geschichte unglücklicher Bilderstrategien im heutigen Protestantismus.

Meine erste Frage, als ich dieses Bild sah, war, welches Cranach-Bild wohl als Vorlage gedient hatte. Das ist gar nicht so einfach zu beantworten. Denn bei allen Cranachbildern von Luther, die ich kenne, weichen bestimmte Details ab. Manchmal ist Luthers schwarze Schaube anders geschnitten (wie bei dem Logo der Lutherdekade), manchmal trägt er kein Barett, vor allem aber sind die widerspenstigen Haarsträhnen in aller Regel anders angeordnet. Kurz, mir war zunächst kein Bild von Cranach bekannt, das wie das abgebildete aussieht.

Also habe ich mich an die EKD gewandt und um Auskunft gebeten, welches Kunstwerk denn als Vorlage für die Montage gedient hat. Die postwendende Antwort war eine Wiederholung der Angabe auf den EKD-Materialien: wir nutzen das Bild mit folgendem Vermerk: 'Lucas Cranach d. Ä. (Werkstatt), Öl auf Holz, 1528 / © Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt'." Das half mir nicht wirklich weiter. Die weitere Recherche ergab, dass es sich um ein Gemälde aus dem Lutherhaus Wittenberg handeln muss, welches der Werkstatt Cranachs zugeschrieben wird. Die einzige im Internet einigermaßen passabel reproduzierbare Vorlage sieht so aus:

Das heißt, dieses Bild aus dem Jahr 1528 wurde zunächst rechts und links, oben und unten etwas beschnitten und dann als Vorlage verwendet. Denkbar wären als Vorlage ja auch andere Bilder gewesen, selbstverständlich die bekannten Werke aus Cranachs eigener Hand, die normalerweise verwendet werden. Gepasst hätte vielleicht auch ein Bild des jüngeren Luther als Augustiner-Mönch.

Unverzichtbar war denen, die mit dem Bild für das Lutherjahr gearbeitet haben, offenkundig auch das Barett, obwohl es ja im Blick auf den jugendlichen Gebrauchsgegenstand, der in das Bild hineinmontiert wurde, etwas sperrig wirkt. Aber auf den Bildern ohne Barett schaut Luther den Betrachter allerdings nicht an. Das aber dürfte den Veranstaltern ein Anliegen gewesen zu ein. Direkte Ansprache ist elementar in einer Mediengesellschaft.

Wichtig war ihnen vielleicht auch, dass das Gemälde alt und im Farbauftrag rissig wirkt, damit der Kontrast zum glatten und edlen einmontierten modernen Gegenstand um so dramatischer wirkt. Wir sehen ja nicht das Bild, das in der Werkstatt von Cranach gemalt wurde, sondern ein Bild, das inzwischen 484 Jahre alt ist und einem entsprechenden Alterungsprozess unterlag. Das Bild ist nicht restauriert, sondern so, wie es die Zeit hat werden lassen. Die unterschiedlichen Farbgebungen des Bildhintergrunds kann ich mir noch nicht recht erklären, an sich wird es als Werk mit blaugrünem Hintergrund beschrieben.

Kommen wir nun zum zweiten und entscheidenden Element des Werbeplakats für das Thema "Reformation und Musik".

Es sind ja schon sehr auffallende Kopfhörer, die Martin Luther hier verpasst werden, farblich gestaltet in weißen, schwarzen und roten Tönen. Niemand, wirklich niemand auf der Welt verwendet diese Kopfhörer zufällig. Jeder weiß, dass die heutige Welt aus einer komplexen Zeichenwelt besteht. Sage mir, welche Schuhe, Hemden, Brillen, Handys ... Du trägst und ich sage Dir, was für ein Mensch Du bist (oder doch wenigstens sein willst). In diesem Sinne gilt: Das Design bestimmt das Bewusstsein.

Zur direkten Ansprache des von der EKD bzw. dem Reformationsbüro der EKD ausgewählten Bildes gehört daher konsequenter Weise auch die Wahl des Kopfhörers. Auf den ersten Blick erkennbar ist (zumindest für jugendliche und jung gebliebene Zeitgenossen), dass es sich hier um einen Markenkopfhörer mit einem ganz bestimmten Design handelt. Es ist ja egal, dass das gestaltende Werbe- bzw. Designbüro das Markenlogo entfernt hat, trotzdem ist das Produkt selbst sofort identifizierbar. Und in unserer heutigen Welt sind Marken Botschaften. Und um welche Botschaft handelt es sich hier?

Die verwendeten Kopfhörer haben die Bezeichnung WeSC Bongo seasonal, hier in den Farben rot weiß schwarz. Je nach Modell handelt es sich um bloße Kopfhörer oder um ein Headphone für das iPhone bzw. ein Smartphone mit zusätzlichem Mikrophon.

Also lautet die erste Botschaft (oder der Hingucker wie der Vizepräsident sagt) simpel: Martin Luther ist nicht nur Reformator, nicht nur Musiker und Dichter, sondern ein geradezu zeitgenössischer Mensch mit Anbindung an die neuesten Technologien.

Wenn es stimmt, dass es heutzutage weniger darauf ankommt, dass man Kopfhörer oder Headphones trägt, sondern vielmehr welche, dann muss man auf das Image der Firma schauen, die die schönen schwarz-weiß-roten Kopfhörer produziert hat. Und da informiert der Lifestyleladen, in dem ich mir das Ding dann auch bestellt habe, den Kunden folgendermaßen:

"WeSC ist die Marke mit der Verschwörungstheorie im Slogan und kommt aus Schweden. We are the Superlative Conspiracy (gespr. wi-es-si) heißt dieses Label genau genommen, aber was sich hinter dieser Philosophie verbirgt, kann nur WeSC selber aufschlüsseln: WeSC ist ein Streetwear Label für intellektuelle Chaoten, a.k.a. Nerds:) Und für alle Anderen natürlich auch! Die Wurzeln hat das Label in der Skateboard Subkultur."

Na, das passt doch zu Martin Luther wie die Faust aufs Auge! Luther als Träger der ultimativen Verschwörung - darüber waren sich viele immer schon einig. Gut, das mit der Skateboardkultur passt jetzt nicht so ganz zum "sanft lebenden Fleisch zu Wittenberg", aber es geht ja auch um eine Imagekorrektur. Als intellektuellen Chaoten wird man Luther sicher bezeichnen dürfen, da braucht man am Image wenig zu korrigieren. Ob die Vertreter der EKD das so intendiert hatten? Die Leute der Werbeagentur werden sich sicher ins Fäustchen gelacht haben, ob der subkutanen Botschaft, denn die werden gewusst haben, welchen Kopfhörer sie Luther übergestülpt haben.

Und so lautet die Bildbotschaft: Auch Luther ist ein Nerd. Wenn das mal nicht eine ultimative Verschwörung ist.


Ich werde jetzt erst einmal die Kopfhörer ausprobieren und ihre klangliche Qualität prüfen. Sollten Sie mir nicht gefallen, setze ich sie Martin Luther auf. Ich habe im Wohnzimmer eine Lutherskulptur von Ottmar Hörl stehen, mal sehen wie die Kopfhörer direkt am Mann aussehen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/76/am386.htm
© Andreas Mertin, 2012