Ein theologischer Spaziergang über die d(13)

4 - Die Neue Galerie

Andreas Mertin

Bevor man den Parcours über die dOCUMENTA(13) in der Neuen Galerie fortsetzt, kann man im Erdgeschoß einen Blick auf die Exponate aus früheren documenta-Zeiten werfen. Denn selbstverständlich zerstreuen sich nicht alle ausgestellten Werke wieder in alle Welt, einige werden angekauft und – soweit sie nicht im öffentlichen Raum Platz finden – der Neuen Galerie zugeführt. Und so lässt sich ein Stück documenta-Geschichte studieren – vom Modell der Spitzhacke über die „Rudel“-Installation von Beuys bis zum ikonenhaft präsentierten Werk von Ruprecht Geiger. Die documenta ist ohne Zweifel kunstgeschichtsbildend.

Die Neue Galerie hat in der Geschichte der documenta-Ausstellungen sicher schon provozierendere Bespielungen gesehen als die aktuelle. Man denke nur an die spektakuläre KonzeptKunst-Präsentation von Joseph Kosuth mit dem Titel „Passagenwerk“ auf der documenta IX unter Jan Hoet. Während jener documenta waren überhaupt zahlreiche Eingriffe in den Sammlungsbestand der Neuen Galerie zu beobachten. Und das war in vielerlei Hinsicht lehrreich. Nun aber ist die Neue Galerie umgebaut und präsentiert sich im großzügigen White-Cube-Format und fordert so die künstlerische Leitung der documenta 13 heraus. Ich finde nicht, dass diese Herausforderung wirklich angenommen wurde. Was im Fridericianum zur großen Geste wurde, wird in der Neuen Galerie verspielt.

01 – Das Buch der Könige

Das Konfliktfeld der Religionen kommt in dieser documenta nur am Rande oder indirekt vor, während weltweit um sie herum religiöse Fanatiker die Bild- und Kulturwelten anderer angreifen und zerstören. Zwar spielen die Buddhastatuen von Bamiyan immer wieder eine Rolle, aber nur in einem sehre distanzierten Verhältnis. Ich glaube aber nicht, dass das Schweigen in Fragen des Verhältnisses von Religion und Kultur diese Konflikte zu befrieden vermag. An der Arbeit von Michael Rakowitz im Fridericianum kann man gut studieren, wie schnell es zu Konflikten kommen kann und wie dünn die Kruste der Zivilisation ist.  

Eine der wenigen Arbeiten, die sich direkt mit diesem Konflikt beschäftigt, ist die von Khadim Ali (*1978). Er zeichnet das Ganze ein in das Buch der Könige, ein ethnische wie religiöse Grenzen überschreitendes Werk: „Schāhnāme ..., das Königsbuch (oder auch Buch der Könige), ist das Lebenswerk des persischen Dichters Abū ʾl-Qāsim Firdausī (940/41-1020) und gleichzeitig das Nationalepos der persischsprachigen Welt, für das der Dichter nach eigenen Angaben 35 Jahre benötigte. Es ist eines der berühmtesten Werke der persischen Literatur und der Weltliteratur. Mit nahezu 60.000 Versen in Form von Distichen ist es mehr als doppelt so umfangreich wie Homers Epen und mehr als sechsmal so lang wie das Nibelungenlied.“ [wikipedia] Im Begleitbuch zur documenta erfahren wir: „Alis Großvater las ihm das Shahnameh vor; die Illustrationen dazu bildeten seine erste Einführung in die Kunstgeschichte. In einer 2007 begonnenen Serie von Miniaturgemälden unternimmt Ali eine bildliche Umsetzung und Aktualisierung des Epos. Der Held, Rostam, ist ein mächtiger Krieger, der durch ruhmreiche Taten Tugend und Ehre verteidigt; ironischerweise vereinnahmten die Taliban seinen Namen für ihren fundamentalistischen Krieg. In Alis grazilen vergoldeten Miniaturen im Stil der Malerei des indischen Mogulreichs verwandelt sich Rostam in einen zweideutigen Dämon, gehörnt und mit einem langen Bart, der an die Barte der Talibankämpfer erinnert. Mittels einer eklektischen Vielfalt traditioneller und moderner Motive sowie Verweisen auf die Kunstgeschichte des Ostens wie des Westens erzählen Alis Gemälde Geschichten vom Verlust (des kulturellen Erbes und menschlicher Werte) und davon, wie sich Bedeutungen verschieben und Worte durch Ihre ideologische Indienstnahme pervertiert werden.“[1] Und so blicken wir in der Neuen Galerie auf ein Pentaptychon bzw. Polyptichon, auf dem Taliban-ähnliche Engelsdämonen vor einer gefallenen und gefesselten Buddhastatue versammelt sind.

Das Faszinierende dieser vier Gouachen ist, dass sie die ganze Ambivalenz der Szenerie bis zum Ende aushalten. Vor dem Hintergrund von Jesaja 14, 12-14 (der Vorlage für die christliche Lucifer-Gestaltung) könnte man die Bildzusammenstellung eben auch ganz anders lesen, als Triumph des Sieges über die heidnischen Statuen: „Wie bist du vom Himmel gefallen, du Morgenstern, du Kind der Morgenröte, zu Boden geschmettert, du Sieger über die fremden Völker!“ Und doch atmen die Darstellungen der Taliban-ähnliche Engelsdämonen keinesfalls die Freude über einen religiösen Sieg, sondern blicken grimmig aus dem Bild heraus, so als ob der Triumph über die Buddhastatuen eben kein Erfolg, sondern de facto eine schreckliche Niederlage war. Die Angst vor der Macht der Bilder gibt den Bildern eben auch Macht. Und der Sturz der Bilder macht einen nicht mächtig.

Wie bei vielen Werken auf dieser documenta ist es auch bei der Arbeit von Khadim Ali so, dass man über ein Hintergrundwissen verfügen muss, um dem Ganzen auf die Spur zu kommen. Während meiner Besuche war der Raum vor seinem Bild fast immer leer, was sich nur so erklären lässt, dass die Besucher eben der im Bild zum Ausdruck kommenden Spannung nicht folgen konnten. Das ist schade. Denn unabhängig aller Tagespolitik (die zur Zeit, in der ich dies schreibe, von der Zerstörung des Weltkulturerbes durch radikale Islamisten in Timbuktu geprägt ist), ist die Frage, wie viel Toleranz wir von einer Religion erwarten müssen und erwarten können, und wie viel Konsequenz diese für ihr eigenes Überleben braucht, eine bedrängende Frage.

02 – Schande

Überhaupt nicht einverstanden bin ich mit der Arbeit von Sanja Ivekovic (*1949). Trotz aller Versuche und mit dem besten Willen, der Intention ihrer Arbeit auf die Spur zu kommen, ertrage ich dieser zynische Zusammenstellung nicht. Es geht nicht darum, dass Auschwitz nicht Thema einer künstlerischen Bearbeitung sein dürfte. Es gibt Arbeiten von Artur Žmijewski, die im Kontext des Holocaust bewusst Grenzen überschreiten, die unerträglich sind und doch ertragen werden müssen, weil sie den Horizont erweitern. Das sehe ich aber bei der Arbeit von Sanja Ivekovic nicht gegeben. Hier würde ich mit Saul Friedländer (Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus) von einer Trivialisierung des Geschehens sprechen.

Ausgangspunkt der Arbeit von Ivekovic ist ein Foto von Carl Eberth vom Kasseler Opernplatz aus dem Jahr 1933. Es zeigt einen provisorisch mit Stacheldraht eingezäunten Bereich in der Mitte des Platzes, in dem ein Esel steht. Rundherum stehen gaffende Kasselaner und ein Nazi-Offizier. Die Botschaft ist klar: Nur ein Esel widersetzt sich den Anordnungen der Nationalsozialisten und ist deshalb selbst schuld, wenn er ins Konzentrationslager kommt. Wer sich aber an die herrschenden Regeln hält, braucht keine Sorge zu haben. Man könnte das eine totalitäre Brachialpädagogik nennen. Sie hat in der Bundesrepublik Deutschland Wirkungen bis in die Gegenwart, wenn etwa auf Demonstrationen der NPD Demonstranten herumlaufen, die sich als Esel verkleiden und ein Plakat mit der Aufschrift „Ich Esel glaube, dass der Euro uns Deutschen nutzt“ tragen. Und implizit verkünden: Auch Du gehörst ins Lager der Volksschädlinge.

Ivekovic sieht aber offenkundig in der Haltung des Esels eine widerständige Aktion und verbindet diese mit zahlreichen Eselsplüschfiguren aus Privatsammlungen, die nun die Namen von Widerstandskämpfern und Oppositionellen bekommen. Dem kann ich nicht folgen. Ich sehe hier eine Grenze der Humanität überschritten. Es ist eine lächerliche Kombination und gerade darin dem Tatbestand, zu dem sie sich verhält, unwürdig. Es wäre noch anders gewesen, wenn die Künstlerin symbolisch gezeigt hätte, wie die Gestalt des Esels historisch dann mit dem Schicksal von Menschen konkretisiert wurde. Genau das tut sie aber nicht. Sie betreibt letztlich die Banalisierung des Bösen. Und auch auf der Ebene der symbolischen Kommunikation stimmt ihr Bild nicht. Der Esel auf dem Bild ist eben nicht widerständig, nicht einmal Symbol des Widerstands, sondern zeigt den Herumstehenden allzu deutlich auf, dass jeder – auch ein Esel - in den Augen der Nationalsozialisten zum Opfer werden und in ‚Schutzhaft’ geraten kann. Man kann Opfer aufgrund ihres Opferstatus nicht zu Widerständlern deklarieren. Es bedurfte damals eben gerade nicht des Widerstands, sondern einer bloßen Existenz, die den Nationalsozialisten im Wege war, um Opfer zu werden. Ich sehe nicht einmal ansatzweise, wie in dieser Arbeit die „Ästhetik des Widerstands“ zum Tragen kommt. Das nationalsozialistische System arbeitet nach einer anderen „Logik“, wie Christoph Menke in seinem einleitenden Beispiel in dem Bändchen „Ästhetik der Gleichheit“ aufweist. Die Faschisten sagen: „Man muss zwischen denen unterscheiden, die teilnehmen, weil sie wie wir sind, und denen die nicht teilnehmen, weil sie – kulturell, ethnisch, technologisch, ökonomisch oder sonst wie – nicht wie wir sind.“[2] Eine derartige Unterscheidung vornehmen zu können, heißt, so Hitler, Faschist zu sein. Und das macht das Foto deutlich. 

03 – Grashalme

Es gibt auf der documenta13 eine Filmarbeit, die am Eröffnungstag begonnen hat, rund um die Uhr läuft und am letzten Tag beendet wird. Kein Besucher kann also die Arbeit erfassen und betrachten, sondern immer nur Ausschnitte von ihr, kleine Erkenntnisschnipsel. Ähnlich ergeht es dem Betrachter mit der Arbeit von Geoffrey Farmer (*1967) mit dem Titel „Leaves of Grass“. Auf der Länge eines schmalen Flurs der Neuen Galerie hat er Tausende von Ausschnitten aus der Zeitschrift Life handpuppenartig nebeneinander gereiht, so dass sich immer wieder neue Konstellationen und Einsichten ergeben.

„Die Bilder stammen aus fünfzig Jahrgängen des Magazins, von 1935 bis 1985, einer Zeit, in der Millionen von Amerikanern ihre Sicht der Welt aus Life bezogen. Farmer führt dieses mittlerweile obsolete Nachrichtenformat ... durch Fotomontage, eine Technik, die viel Handarbeit verlangt, einem neuen Zweck zu. Wie der Titel bereits andeutet, verflüchtigt die Arbeit Zeit (das fotografische Archiv des 20. Jahrhunderts) wie Raum (durch die dreidimensionale und plastische Aktivierung der Collage).“[3] Tatsächlich ergibt sich eine Art humoristischer Effekt, denn in der Mehrzahl bestehen die präsentierten Fragmente aus Prominentenfotos, also einstmals scheinbar wichtiger, heute aber zur Geschichte gewordener Menschen.

04 – Kirchengeschichts-Theater

Wael Shawky (*1971) zeigt in seiner 40-minütigen Arbeit „Crusades: The Horror Show File“ die Geschichte des Ersten Kreuzzuges mit Hilfe von alten Marionettenfiguren. Die eingenommene Perspektive ist die des libanesischen Schriftstellers Amin Maalouf, also eine arabische Perspektive. Das produktive an der Arbeit sehe ich darin, dass durch den Einsatz der Marionettenfiguren die Konstruktivität von Geschichtserzählungen plastisch wird. Anders als etwa die bei uns so beliebten Historienfilme (bis hin zum Lutherfilm), wird hier nicht so getan, als ginge es um positivistische Geschichtsschreibung. Es geht vielmehr um Narratio, um die erzählerische Einordnung in eine übergreifende Perspektive. Das Oszillieren zwischen Distanz und Nähe, das durch die Figuren hervorgerufen wird, ist heilsam. In der eigenen Biografie waren die Kreuzzüge immer etwas, wofür man sich als Christ schämte (und noch immer versucht man, sie durch Argumentationsstrategien wie „eigentlich ging es nur um Geld und Einfluss und nicht um Religion“ zu verharmlosen). Shawkys Arbeit ermöglicht einem eine andere, distanziertere Haltung. Nicht dass das Geschehen dadurch harmloser würde, sondern es wird in seiner Moralität gebrochen und so dem Diskurs neu zugeführt.

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Auch die Neue Galerie hat noch eine Fülle weiterer Arbeiten, auf die aber an dieser Stelle nicht eingegangen werden kann. Weiter geht es mit einigen Arbeiten im Auepark.

Anmerkungen

[1]    documenta und Museum Fridericianum (2012): Documenta 13. Katalog 3/3, das Begleitbuch: Hatje Cantz Pub, S. 140.

[2]    Menke, Christoph (2011): Ästhetik der Gleichheit. Aethetics of equality. Ostfildern: Hatje Cantz. S. 18.

[3]    documenta und Museum Fridericianum (2012): Documenta 13. Katalog 3/3, das Begleitbuch: Hatje Cantz Pub, S. 150.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/am402.htm
© Andreas Mertin, 2012