Zur politischen Theologie des Blasphemievorwurfs

Notizen

Andreas Mertin

Es gehört inzwischen zum bundesdeutschen Alltag, im Feuilleton bestimmte Krawallchristen nach einem Verhalten schreien zu sehen, dass dem der Taliban oder der Salafisten analog ist. Seit den Auseinandersetzungen um die Mohammed-Karikaturen taucht auf konservativer christlicher Seite wiederholt die Drohung auf, so wie die Islamisten könne man auch mit Andersdenkenden und Blasphemikern umgehen. Mit klammheimlicher Freude beobachte man, wenn Islamisten Andersdenkende so einzuschüchtern trachteten, dass denen die unterstellten Blasphemien im Halse stecken blieben. Wer Blasphemien – was immer das auch sein soll – äußere, der müsse eben auch mit dem entsprechenden Risiko leben. Und nur wer sich dem Risiko aussetze, sei auch ein ernstzunehmender Religionskritiker. Sonst sei die Blasphemie bloß billig und müsse daher konsequent bekämpft werden.

Nun dürfte allen Vernünftigen klar sein, dass es hier in aller Regel nicht um Blasphemie und auch nicht um dadurch bewirkte verletzte religiöse Gefühle oder gar um den Schutz von Religion geht. Es geht vielmehr um Politik, genauer: um die Durchsetzung der eigenen Politik mit Hilfe einer religiösen Unterfütterung bzw. Begründung. Dazu soll zunehmend der Blasphemie-Paragraph (am Besten in einer verschärften Fassung) dienen. Andersdenkende sollen ausgeschaltet werden, sie sollen ihre eigenen Überzeugungen nicht publizieren dürfen, ja sie sollen für dieses „anders Denken“ bestraft werden.

Im Kern geht es um die intellektuelle, wenn nicht gar physische Vernichtung nicht genehmen Denkens. Dazu wird zunächst dem Anders Denkenden unterstellt, er meine gar nicht, was er sage, sondern ziele direkt auf die mentale Verletzung des Gegenübers. Er wird also als Gesprächspartner gar nicht ernst genommen, sondern vorab als Feind deklariert. Wer sich über die Idee, ein Mensch könne Teil einer göttlichen Trinität sein, kritisch Gedanken macht, wird so als Gotteslästerer bezeichnet. Dass aber, wer zum Beispiel Jesus Christus als Sohn Gottes und Teil der Trinität bezeichnet, notwendig selbst blasphemisch sein muss, weil er Gott eine Eigenschaft zuschreibt, die eine andere Religion (wie das Judentum oder der Islam) so nicht teilen kann, ohne sich selbst aufzugeben, wird dabei einfach vernachlässigt, weil implizit die andere Religion als nicht im Besitz der Wahrheit gedacht wird.

Wollten wir alles Blasphemische aus unseren Religionen entfernen, gäbe es vermutlich keine Religionen mehr, weil das Spezifische von Religion - die aufs konkrete zielende, Geschichte erhellende Narratio - verloren ginge. Die Narratio von Religion differenziert sich in aller Regel gegenüber anderen Religionen.

Das ist so lange nicht dramatisch, wie man nicht versucht, eine spezifische Narratio gewaltsam oder totalitär durchzusetzen. Im öffentlichen Diskurs einer freien Gesellschaft bleibt uns nichts anders als zu sagen: Du siehst das so, ich sehe das aber anders. Und zwar, weil für mich ... Und dann können viele Argumente folgen. Im öffentlichen Diskurs kann es nicht heißen: Du darfst das nicht sagen, weil ich das anders sehe, und es mich verletzt, wenn Du sagst, was Du denkst. Wenn wir das zulassen, landen wir in einer Diktatur jener, die ihre Narratio durchsetzen können. Es wäre letztlich eine totalitäre Gesellschaft. Sie muss nicht mit der physischen Vernichtung des anders Denkenden enden, sie kann ihn tolerieren, aber er hätte letztlich kein Recht auf die Artikulation seiner abweichenden Meinung. Eine freie Gesellschaft aber gibt dem einzelnen das Recht auf seine Meinungsäußerung und begrenzt diese nur insoweit, als dass andere nicht dadurch beleidigt werden dürfen.

Nun gibt es in der jüngeren Debatte einige, die meinen, unsere Gesellschaft sei in der Frage der freien Meinungsäußerung zu großzügig und man müsse daher für Verhältnisse sorgen, in denen man nicht einfach frei seine Meinung äußern darf. Und sie meinen dabei natürlich: sie wollen die eigenen Werte durchsetzen und die der anderen zum Schweigen bringen. Sie sagen es nur nicht laut, sondern berufen sich auf verletzte Gefühle und den Blasphemieparagrafen.

Ich will dazu ein persönliches Beispiel benennen, an dem auch die Konsequenzen deutlich werden: Ich hatte für eine ökumenische religionspädagogische Zeitschrift über das aktuelle Verhältnis von Kunst und Religion geschrieben: Warum es nicht mehr so öffentlich kontrovers ist wie noch vor 20 Jahren. Warum trotzdem eine bemerkenswerte Menge interessanter Werke in religiöser Perspektive ertragreich erscheinen. Und welche Künstler und Werke dabei besonders beachtenswert seien. Und ich hatte darauf verwiesen, dass zum Verständnis dieser Beziehung von Kunst und Religion es auch notwendig ist, sich mit den kritischen Punkten in der jüngsten Zeit auseinanderzusetzen. Dazu schilderte ich eine Auseinandersetzung um ein Werk der zeitgenössischen Kunst, das 1989 Amerika erregte, zu großen kulturellen und religiösen Debatten führte und erst im Jahr 2000 seinen Abschluss fand, als es ein amerikanischer Lyriker in den Kontext augustinischer Theologie einordnete. Wie gesagt: ich habe den Konflikt und seine Entwicklung nur dokumentiert und mir das Kunstwerk auch nicht zu eigen gemacht (auch wenn ich es persönlich für einen der bedeutsamsten Beiträge der jüngeren Zeit zum Thema halte). Aber an seinem Beispiel wird deutlich, dass Konflikte im Verhältnis von Kunst und Religion oft weniger etwas mit dem Kunstwerk als solchem, als vielmehr mit seiner theologischen Einordnung zu tun haben. Und dass einen selbst der Umstand, dass man frommer Katholik ist – wie in diesem Fall der Künstler – nicht davor schützt, zur Zielscheibe des Vernichtungswillens noch frömmerer Zeitgenossen zu werden, die das Werk dann auch im vergangenen Jahr zerstörten.

Nach der Veröffentlichung meines Textes fühlte sich nun ein konservativer Katholik durch die bloße Dokumentation der Geschehnisse in seinen Gefühlen verletzt und protestierte bei der Schriftleitung. Das ist sein gutes Recht, wir leben schließlich in einer Demokratie, die unterschiedliche Perspektiven zu kontroversen Tatbeständen goutiert und fördert. Der Protestierende mochte es freilich nicht beim Protest und der Darstellung seiner eigenen Ansichten belassen, sondern forderte, man hätte weder meinen Artikel publizieren, noch das Gedicht des Poeten abdrucken, geschweige denn das inkriminierte Kunstwerk zeigen dürfen. Wenn ich wolle, könne ich ja Werbeanzeigen für meine Ansichten in Auftrag geben, aber man dürfe mich mit meinen Ansichten (als evangelischer Theologe und Kulturwissenschaftler) nicht in dieser Zeitschrift schreiben lassen. Ihn aber, darauf wies er explizit hin, natürlich schon. Er sei schließlich ein Wertekonservativer mit positivem Gestaltungswillen für die katholische Religion. Und er meinte das Ernst. Der performative Selbstwiderspruch, die freie Meinungsäußerung für sich selbst zu reklamieren, sie anderen aber nicht gewähren zu wollen, fiel ihm gar nicht auf.

Man fühlte sich unwillkürlich an die ultramontanistische Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts erinnert, die meinte, der Staat habe die katholische Religion vor dem Protestantismus und allen abweichenden Gedanken zu schützen und diese Gedankenwelt auch zu begrenzen. In der Sache, um das an dieser Stelle festzuhalten, geht es nicht um Evangelisch vs. Katholisch, es geht vielmehr exakt um den Konflikt zwischen der Position Benedikt XVI. und der des Dogmatikers der Piusbrüder, P. Gaudron. Es geht darum, „ob und wie weit man die öffentliche Ausübung eines falschen Glaubens und die Werbung dafür einschränken darf“. Die Piusbrüder fordern dies explizit und erwarten es auch vom (von ihnen als katholisch gedachten) Staat. Benedikt der XVI. sieht diese Haltung durch das Zweite Vatikanische Konzil korrigiert und aufgehoben: Die Lehren des Zweiten Vatikanums „forderten keine staatliche Förderung der religiösen Wahrheit, sondern die Freiheit, ohne jegliche staatliche Behelligung ihren Glauben zu bekennen. Dies wird nun vom Zweiten Vatikanum als bürgerliches Grundrecht der Person, das heißt als Recht aller Menschen unbeschadet ihres religiösen Bekenntnisses gelehrt.“ (Martin Rhonheimer) Wer aber vom Staat und seinen Organen bzw. Institutionen verlangt, die religiöse Wahrheit (scil. des eigenen Katholizismus) zu fördern, stellt sich gegen die Position des II. Vatikanums und Benedikt XVI. und schließt sich der Dogmatik der Piusbrüder an.

Diese Dogmatik aber hat Folgen für die freie Kultur, wie sie vom Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert wird. Sie läuft unweigerlich auf die Beschneidung und Begrenzung von Kultur, ja die Ausgrenzung von allen anders Denkenden hinaus. Das zeigt sich auch an dem Brief dessen, der fordert, man dürfe meine Ansichten überhaupt nicht publizieren, weil ich anders denke als er.

Man kann das natürlich für die Wahnwelt einer Person halten, die nicht durchdacht hat, was sie da eigentlich fordert. Ich tue das nicht. Ich nehme das ernst, existenziell ernst. Es geht ja darum, dass es nach Meinung dieser Person schon ausreicht, über einen Blasphemie-Konflikt auch nur zu berichten, um sogleich ein Schreibverbot für den Berichtenden zu fordern. Hier ist ihm – pointiert gesprochen – eine zu lange Geschichte des Nihil obstat aufs Gehirn geschlagen.

Wenn wir – wie Martin Mosebach es gefordert hat – den Blasphemieparagrafen verschärfen, werden wir hunderte, wenn nicht tausende von Anzeigen bekommen, bei denen es dann letztlich überhaupt nicht darum geht, angebliche Blasphemie abzuwehren, sondern darum, anders Denkende zum Schweigen zu bringen. Es geht um politische Theologie. Es geht darum, mit dem Arm des Staates die eigene religiöse Wahrheit durchzusetzen. Das aber widerspricht unserer freiheitlichen Verfassung. Seit langem bin ich überzeugt, dass die wahren Gefahren für unsere Verfassung und unseren Staat nicht in ein paar Salafisten besteht, die den Staat und das Christentum bekämpfen. Die wahre Gefahr besteht in der Auflösung und Unterminierung demokratischer Grundwerte. Es ist die Stärke des II. Vatikanums, sich in dieser Sache für die Demokratie, für die Freiheit und die bürgerlichen Rechte entschieden zu haben. Wir sollten uns das nicht von ein paar Reaktionären am rechten Rand der christlichen Kirchen nehmen lassen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/am405.htm
© Andreas Mertin, 2012