Erlösung und Gerechtigkeit – allein in mir, allein im Hier

Religionskritisches und Medienreligiöses in den Filmen Clint Eastwoods

Harald Weiß

Einleitung

Pfarrer, Kreuze, Bibelzitate, Schuld, Gerechtigkeit und Sühne – all das wird in Clint Eastwoods Filmen thematisiert, kann man sehen, hören und vielleicht auch spüren. Dass diese Elemente nicht zufällig oder beliebig in die Filme gekommen sind, sondern irgendeine Funktion haben müssen, ist so sicher wie das Amen, das in Eastwoods Film Pale Rider das Tischgebet beschließt[1].

Die Frage ist nur, welche Funktion das Tischgebet in Pale Rider und all die anderen Elemente in Eastwoods Filme haben, die der christlich-religiös sozialisierte Zuschauer als explizite oder implizite Bezugnahmen auf das Christentum, seine Symbole, seine Ethik, seine Textgrundlagen und seine institutionalisierten Erscheinungsformen und Repräsentanten identifizieren kann. Eine andere Frage ist, welche Wirkung diese Elemente bei Rezipienten haben, die nicht christlich-religiös sozialisiert sind, für die ein weißer Stehkragen nicht als Bekleidungselement eines Pfarrers identifiziert wird, ein im Film gelesener Text nicht als Bibelzitat?[2] Wer den Film Pale Rider, der diese beiden Elemente enthält, 1985 im Kino sah, konnte den sprachlichen und inhaltlichen Duktus des gelesenen Textes wahrscheinlich noch als biblisch identifizieren und den Kragen als Pfarrerhabit. Wie aber sieht es mit dem Wissen um christliche Symbole und Traditionen derer aus, die erst nach der Veröffentlichung des Filmes geboren wurden? Vielleicht erkennen sie noch einen Text als Bibeltext und wissen noch um die christliche Bedeutung des Kreuzes. Aber ein weißer Stehkragen? In Gran Torino von 2008 wird die Hauptfigur Walt Kowalski am Ende des Films ähnlich wie Jesus am Kreuz gezeigt: getötet, die Beine zusammen, die Arme im rechten Winkel vom Körper gestreckt, Blut in der Hand[3]. Die Bezugnahme auf das zentrale christliche Symbol dürfte auch noch 2008 für viele Zuschauer offensichtlich sein. Da es aber 2008 vermutlich weniger Zuschauer gibt, die einen Stehkragen als Bekleidungselement eines Pfarrers erkennen können als 1985, erhält der Stehkragenträger in Gran Torino mehrere Identifikationshilfen: er wird nicht nur mit Stehkragen, sondern in Pfarrergewand in einer Kirche bei der Gottesdienstfeier gezeigt. Eastwood passt sich also gewissermaßen in dem, was er an christlich-religiösen Symbolen, Traditionen und Inhalten in seinen Filmen zeigt, und wie er es zeigt, dem Wissensstand seiner Rezipienten an: je weniger diese Elemente verstanden werden mit desto mehr Verständnishilfen werden sie ausgestattet.

Warum aber beinhalten viele der Filme Eastwoods überhaupt solche Elemente? Wozu Pfarrer und Kreuze, wenn es weder darum geht, für den Beruf des Pfarrers zu werben, noch die frohe Botschaft des Christentums, für die das Kreuz steht, zu verkündigen? Die formale Analyse dieser Filmelemente ergibt, dass es sich bei vielen der expliziten Bezugnahmen um intermediale Einzelreferenzen oder um transmediale Referenzen handelt. Als intermediale Einzelreferenz werden Elemente in einem Medienprodukt bezeichnet, die aus einem anderen Medienprodukt übernommen werden; das Referenzobjekt ist dabei ein bestimmte einzelnes Produkt und gehört einer anderen Mediengattung an als das Bezug nehmende Produkt. In Pale Rider ist die Lesung des Bibeltextes eine intermediale Einzelreferenz. Um eine transmediale Referenz handelt es sich dann, wenn das Element, auf das Bezug genommen wird, nicht ein bestimmtes Medium oder Medienprodukt, sondern etwas Medienunspezifisches oder etwas ‚Nicht-‚ oder ‚Übermediales’ ist, wie beispielsweise das Kreuzsymbol.[4] Mit der Bezugnahme wird nicht nur das ‚referierte’ Element aktiviert, sondern auch der Kontext, in dem dieses Element (für den Rezipienten) seinen ‚originären Platz’ hat. Dieser Kontext wird zwar mit aktiviert, aber nicht in das Bezug nehmende Medienprodukt übernommen. Im Bezug nehmenden Medienprodukt erhält das Element einen neuen, einen (inhaltlich und medial) anderen Kontext. Der Bibeltext, der in Pale Rider hörbar als gesprochener Text von einem sichtbaren Mädchen gelesen wird, ist im ‚Original’ nicht hörbar, ohne Mädchen, ausschließlich sicht- und lesbar als Schrifttext (auf Papier). Im ‚originären’ Bibeltext gibt es auch keinen Clint Eastwood, den im Film das laut lesende Mädchen durch ein Fenster blickend sieht. Der in dieser Szene mit einem apokalyptischen Reiter aus der Johannesoffenbarung identifizierte, von Clint Eastwood gespielte namenlose Reiter wird später im Film einen Revolver in die Hand nehmen und damit Gerechtigkeit herbei schießen.

Sind in den Filmen Eastwoods die Bezugnahmen auf christlich-religiöse Elemente explizit, z. B. wenn christliche Texte zitiert oder christliche Symbole gezeigt werden, dann ist ihr Wert im Film im Vergleich zum ‚originären Platz’ der Texte und Symbole häufig umgewertet. Was christlich aussieht oder sich christlich anhört, erscheint durch den Kontext, den es im Film erhält, in anderem, meistens ‚negativeren’ Licht. Auch die Pfarrerfiguren, die in einigen Filmen Eastwoods auftreten, werden, wenn sie institutionalisierte religiöse Gemeinschaften (z. B. Kirchen) repräsentieren, fast immer negativ charakterisiert.[5] Außer diesen meistens auf einzelne Einstellungen oder Szenen beschränkten expliziten intermedialen oder transmedialen Bezügen auf Christlich-Religiöses in einigen Filmen Eastwoods, enthalten fast alle seine Filme existentielle Fragen, die nicht nur in einzelnen Szenen thematisiert werden, sondern Kernthema des gesamten Filmes sind. Indem die Filme Eastwoods – wie auch Filme anderer Regisseure – existentielle „Fragen nach Gerechtigkeit, Verantwortung, Leiden und Schuld, Sühne und Buße, Opfer und Versöhnung [...] oder einem möglichen Leben nach dem Tode“[6] thematisieren, enthalten sie „Vorbilder und Sinndeutungsangebote“, die für den Rezipienten „zur Identitätsbildung und zur weltanschaulichen Orientierung“ beitragen können[7]. In dieser Funktion treten die Filme Eastwoods – und auch die Filme anderer Regisseure mit solchen Inhalten – quasi in Konkurrenz zu den Religionen – zumindest dann, wenn ‚Religion’ funktional und nicht substantiell definiert wird[8]. Übernehmen einzelne Medienprodukte oder auch die Medien insgesamt Funktionen, die traditionell Religionen übernehmen, wird dies – z. B. von Luckmann religionssoziologisch – als „unsichtbare Religion“[9] oder – z. B. in der Theologie – als „Medienreligion“ bezeichnet[10]. „Der Begriff der ‚Medienreligion’ hat“, nach Wilhelm Gräb und Jörg Herrmann, „vor allem diese Dimension funktionaler Äquivalenz [von Medien und Religion] im Blick.“[11] Ob bestimmte einzelne Filme mit den in ihnen thematisierten existentiellen Fragen, mit ihren Sinndeutungsangeboten bei den Rezipienten auch wirklich eine religionsäquivalente Funktion erfüllen, lässt sich nur empirisch nachweisen. Für die Filme Eastwoods wird im Folgenden nur die Angebotsseite analysiert, nur die Filmprodukte werden danach untersucht, ob sie explizite Bezugnahmen auf christlich-religiöse Texte, Symbole, Traditionen enthalten oder implizit existentielle Fragen behandeln[12]. Wie das Angebot der Filme auf Rezipientenseite angenommen wird, ob Eastwoods Filme eine religionsäquivalente Funktion erfüllen, ist nicht Thema dieses Aufsatzes.

Bei den Angeboten, beispielsweise zum Umgang mit Schuld oder Ungerechtigkeit, die in den Filmen Eastwoods gemacht werden, zeigt sich, dass sie andere Lösungen enthalten als äquivalente Angebote in den Religionen, insbesondere das Christentum. Für Clint Eastwood, Sohn christlicher Eltern[13], geboren und aufgewachsen in den christlich geprägten USA, sind es in erster Linie die Traditionen des Christentums, nicht einer anderen Religion, die referentiell in seinen Filmen verarbeitet werden, sei es explizit oder implizit. Und so wie in Eastwoods Filmen christliche Symbole, christliche Texte, christliche Traditionen, wenn explizit auf sie Bezug genommen wird, durch ihre Kontextualisierung kritisch bewertet werden und in einem gewissen Widerspruch zu ihrem ‚originären’ Wert stehen, so stehen auch die impliziten Antworten auf existentielle Fragen, wie die nach Gerechtigkeit oder dem Umgang mit Schuld, in einem gewissen Widerspruch zu den Antworten, die das Christentum auf diese Fragen gibt.

In den Filmen Eastwoods kann Schuld nur dann gesühnt werden, wenn zum einen die ‚Gleichartigkeit’ von Schuld(tat) und Sühne(tat), zum anderen die Identität von Schuldverursachendem und Sühneschaffendem gegeben ist. Ein ausgestochenes Auge ist durch ein ausgestochenes Auge, eine Tötung durch eine Tötung auszugleichen. Die Möglichkeit der stellvertretenden Sühnetat, wie sie beispielsweise das Christentum anbietet, gibt es in Eastwoods Filmen nicht; wer Schuld auf sich geladen hat, kann sie auf niemand anderes abladen, muss selbst die Sühneleistung erbringen.

Das Gerechtigkeitsverständnis in den Filmen Clint Eastwoods ist vorstaatlich, anti-institutionell und individualistisch, das Erlösungsverständnis individualistisch, unreligiös und innerweltlich. Wo das Christentum den endlosen Kreislauf des ius talionis (‚Auge um Auge, Zahn um Zahn’) durch Vergebung zu durchbrechen versucht, beharren die Filme Eastwoods auf dem Prinzip der Vergeltung[14]; wo das Christentum den Menschen von der Last der Selbsterlösung durch die Stellvertretung Christi befreien will, ist der Mensch in den Filmen Eastwoods auf sich selbst geworfen; wo das Christentum Hoffnung durch Transzendenz schafft, ist der Mensch in den Filmen Eastwoods gefangen im Hier. In allen Filmen Eastwoods gibt es Gerechtigkeit nur im Hier und nur durch die Tat einzelner Individuen; die Existenz einer außerweltlichen transzendenten Hilfe, wie sie das Christentum in Aussicht stellt, wird negiert, indem christliche Symbole, Bezüge zu christlichen Überlieferungen und Pfarrerfiguren mit unchristlichen, meist negativen Konnotationen versehen werden. Die Sinnangebote des „modernen Heiligen Kosmos“[15] der Filme Eastwoods sind gekennzeichnet durch Diesseitigkeit[16] und Individualismus.

Analysiert werden im Folgenden nur einige der Eastwood Filmen, in denen sich Religionskritisches und/oder Medienreligiöses nachweisen lässt. Der Schwerpunkt der Auswahl liegt bei den neueren Filmen Eastwoods. Außer den mit Erbarmungslos (1992) beginnenden neueren Filmen werden nur zwei ältere Filme (Der Texaner (1976) und Pale Rider (1985)) in die Analyse aufgenommen. In allen in die Auswahl aufgenommenen Filmen führte Clint Eastwood Regie, in den meisten spielte er auch eine der Hauptrollen.

Der Texaner (1976)

Der englische Originaltitel ‚The Outlaw Josey Wales’ weist darauf hin, dass es in diesem Film um Recht und Gesetz und damit letztlich auch um Gerechtigkeit geht. Josey Wales wird zum Outlaw, und steht als solcher (in Rechten wie in Pflichten) außerhalb der Rechtsordnung.

Der Film spielt zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs. Frau und Sohn des Farmers Josey Wales werden von einem Mann mit Namen Terrill, der mit einer Gruppe marodierender Nordstaatensoldaten die Farm von Josey Wales überfällt, ermordet. Josey Wales verlässt seine nieder gebrannte Farm, um den Mörder seiner Familie zu finden und den Mord zu rächen. Auf seiner Suche nach Terrill schließt sich Josey Wales einer Gruppe von Südstaatensoldaten an, die sich unter ihrem Führer Fletcher nicht weniger unrecht verhalten als die Gruppe um Terrill. Der Gruppe, der sich Josey Wales angeschlossen hat, wird von Seiten der Nordstaatler ein Friedensangebot gemacht, auf das sich alle bis auf Josey Wales einlassen. Das Friedensangebot entpuppt sich als Täuschungsmanöver. Die Nordstaatler, die die Südstaatler auf die Verfassung schwören lassen, schießen auf die entwaffneten Südstaatler. Die Person, die die ungerechte Ermordung im Auftrag des anwesenden verfassungsmäßigen Senators ausführt, ist niemand anderes als Terrill. Josey Wales, der die Täuschung entdeckt, kommt seinen Kameraden zu Hilfe und schießt auf die Nordstaatler, kann jedoch nur einen seiner Kameraden retten und mit diesem fliehen. Fletcher, der inzwischen die Seite gewechselt hat, wird vom Senator beauftragt, Josey Wales für seinen Angriff auf die Nordstaaten-Soldaten zu töten. Was nun bis zum Ende des Filmes gezeigt wird, ist ein doppeltes Katz-und-Maus-Spiel: Josey Wales sucht und verfolgt Terrill, um ihn zu bestrafen, Fletcher sucht und verfolgt Josey Wales, um ihn zu bestrafen. Am Ende des Films hat Josey Wales sein Ziel erreicht: Er tötet Terrill und sühnt dadurch die Ermordung seiner Familie.[17]

Der Hauptfigur Josey Wales kommt in diesem Film die Funktion des Gerechtigkeit schaffenden Richters zu. In die zu Beginn des Films gezeigte Unrechtstat, deren Sühnung die dramaturgische Aufgabe des Films darstellt, ist die Hauptfigur nur als Betroffener involviert, nicht auch als Täter, wie in einigen jüngeren Filmen Eastwoods. Für die Unrechtstaten, die im Verlauf des Films Josey Wales selbst begeht, gibt es, anders als für die Unrechtstat an Josey Wales’ Familie, keine ausgleichende Strafgerechtigkeit.[18]

Josey Wales’ kurze Trauer über den Verlust von Frau und Kind wird mit christlichen Symbolen und Traditionen verbunden: Josey Wales spricht am Grab, auf das er ein Kreuz gesetzt hat, die Worte „Asche zu Asche“, vollendet den Satz aber nicht, sondern wirft sich vor Trauer und Wut auf den Boden und reißt das Kreuz dabei um.[19] Anschließend findet Josey Wales auf dem Boden, in der Asche seines verbrannten Hauses einen Revolver. Das abgebrochene Zitat aus den christlichen Beerdigungsworten „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Stab“ und das Umwerfen des Kreuzes, dem zentralem Symbol des Christentums, stellen deutlich die christliche Heilsbotschaft in Frage. Verworfen wird die Bedeutung des Kreuzes als einer Verbindung mit Gott; negiert wird damit die Existenz einer außerweltlichen transzendenten Macht, von der Hilfe kommen und die Gerechtigkeit schaffen kann. Verworfen wird die Bedeutung des Kreuzes als Erlösung des Menschen von der ‚Notwendigkeit’, Sühne zu leisten und Sühne schaffen zu müssen. Josey Wales verwirft die stellvertretende Sühne Christi, da er zum einen keine Vergebung für den Täter, sondern Vergeltung will, und da er zum andern selbst derjenige sein will, der (sich) Gerechtigkeit schafft, und nicht von einem Stellvertreter (Jesus Christus) um die Gerechtigkeit schaffende eigene Tat gebracht werden will. Der Revolver, den Josey Wales in die Hand nimmt, nachdem der das Kreuz umgekippt hat, ist das Gegensymbol zum friedlich und gewaltlos Gerechtigkeit schaffenden Kreuz. Das Kreuz und die Bedeutungen, die es trägt, Gewaltlosigkeit, Vergebung, Verzicht auf Vergeltung und stellvertretende Sühne werden negiert und dagegen der Revolver als Symbol für Gewalt und Vergeltung gesetzt.

Pale Rider (1985)[20]

Wie in Der Texaner gibt es auch am Anfang von Pale Rider[21] eine Begräbnisszene, in der ein Grabkreuz gezeigt und Begräbnisworte gesprochen werden. Das Grabkreuz wird nicht umgekippt wie in Der Texaner, sondern ist unvollständig, da der Querbalken größtenteils fehlt. Das Mädchen Megan begräbt seinen Hund und spricht dazu aus Psalm 23 die Worte: „Der Herr ist mein Hirte [...]“.  Der Hund ist wie Josey Wales’ Familie in Der Texaner Opfer einer Unrechtstat, die es als dramaturgische Aufgabe des Films zu sühnen gilt. Anders als in Der Texaner ist es allerdings nicht die Unrechtstat allein, die bestraft werden muss, sondern ein ungerechter Zustand, der geändert werden muss. Die Unrechtstat war nur eine Folge dieses ungerechten Zustands. Anders als in Der Texaner ist auch der für Gerechtigkeit sorgende Richter, der Pale Rider (gespielt von Clint Eastwood) nicht von der Unrechtstat betroffen. Er schafft nicht wie Josey Wales Gerechtigkeit für sich, sondern für andere. Die Besonderheit in diesem Film besteht darin, dass diesen Richter der Nimbus des mysteriösen Gottesboten umgibt. Er kommt nicht nur von außerhalb der Gruppe der Goldsucher, denen Unrecht widerfahren ist und denen er Gerechtigkeit verschafft, sondern aus einer Welt des Nirgendwo, wohin er am Ende des Films auch wieder zurückkehrt. Der Pale Rider trägt in seiner Herkunft, in seiner Fremd- und Eigencharakterisierung, und in seiner Funktion Züge des Mysteriösen, des Transzendenten und Wunderhaften, was diese Figur und diesen Film zu einer Ausnahme in den sonst alle Transzendenz verneinenden Werken Eastwoods[22] macht. Das Geheimnisvolle, Ungewisse und Undurchschaubare, das die Figur des Pale Rider umgibt, wird im Film nicht aufgelöst. Die Religion, mit der der mysteriöse Pale Rider verbunden wird, ist das Christentum. Die Bezüge zum Christentum werden durch christliche Ikonographik, durch die Zitierung biblischer Texte und durch Szenen, die in der Bibel erzählten Ereignissen nachempfunden sind, hergestellt. In den Bezugnahmen auf christliche Symbole und Überlieferungen wird allerdings die Bedeutung dessen, auf das Bezug genommen wird, nicht unverändert übernommen, sondern häufig verändert und in der Veränderung kritisiert. Schon in der Szene, in der Megan ihren Hund beerdigt, wird die Allmacht, die im Christentum Gott zugeschrieben wird, in Frage gestellt. Megan verändert durch Ergänzungen die Bedeutung von Psalm 23 dahin gehend, dass aus dem bedingungslosen und angstfreien Vertrauen auf Bewahrung und Lebenserhaltung durch den göttlichen Hirten ein ängstliches Infragestellen der Allmacht des göttlichen Hirten wird; aus der Hoffnung auf ein schönes Leben in einer jenseitigen Welt wird die Forderung eines schönen Lebens in der diesseitigen Welt – „aber zuerst möchte ich dieses Leben leben“ – und die Forderung eines Wunders – „Wir brauchen ein Wunder“. Dass die im Psalm geschilderten paradiesischen Zuständen der Realität widersprechen, formuliert Megan in den Worten: „Der Herr ist mein Hirte [...], aber sie haben meinen Hund getötet“. Ihr geschwächtes Vertrauen in Gott spricht aus den Worten, „aber ich habe Angst“. Nicht nur die Allmacht, sondern sogar die Existenz Gottes stellt Megan in Frage, wenn sie sagt, „wenn es dich gibt“. Ihre Ergänzungen des biblischen Psalms leitet Megan mehrmals mit einem „aber“ ein. Beim Wort ‚Wunder’, das Megan zweimal spricht, wird zu einem näher kommenden Reiter (gespielt von Clint Eastwood) überblendet. Die Wort-Bild-Verbindung im Schnitt identifiziert das von Megan erhoffte Wunder mit dem gezeigten Reiter.[23] Der Reiter, der im Film ohne Namen bleibt, bringt das Erhoffte, indem er der Gruppe der Goldsucher, zu der auch Megans Familie gehört, gegen den Minenbesitzer LaHood, dem die Gruppe der Goldsucher im Wege steht, Gerechtigkeit verschafft. Megan interpretiert die am Grab ihres Hundes erhoffte, Gerechtigkeit schaffende Tat des Pale Rider als Wunder, und der Film tut wenig, um dieser Interpretation zu widersprechen. Im Gegenteil, der namenlose Reiter, der oft als ‚Prediger’ bezeichnet wird, ist in seinem Verhalten und in seiner Bekleidung so gestaltet, dass man in ihm leicht den Heilsbringer vermuten kann. Durch eine Vielzahl von Elementen wird er als das von Megan erbetete (göttliche) Wunder gekennzeichnet. Dem heilsbringenden Pale Rider werden mehrmals christliche Konnotationen unterlegt. Die Verbindung des Wortes ‚Wunder’ mit dem ersten Auftreten des namenlosen Reiters wurde bereits genannt. Eine ähnlich gestaltete Wort-Bild-Verbindung gibt es, als Megan ihrer Mutter laut aus dem sechsten Kapitel der Johannesoffenbarung vorliest[24]. Als sie den achten Vers liest, in dem der vierte von vier Unheil über die Menschen bringenden apokalyptischen Reitern beschrieben wird – „und ich hielt inne und sah ein fahles Pferd, und der darauf saß, dessen Name war ‚Tod’“ –, sieht ihre Mutter durch das Fenster den Pale Rider auf einem fahlen Pferd vorbei reiten.[25] Megan stellt sich zu ihrer Mutter ans Fenster, sieht den Reiter und spricht auswendig, „und die Hölle folgte ihm nach“. So vieldeutig an vielen Stellen die Bildersprache der Johannesoffenbarung ist, so wenig eindeutig wird in diesem Film die Frage beantwortet, ob und wie der namenlose Reiter mit dem im biblischen Text angekündigten apokalyptischen Reiter in Verbindung steht. Dass dem namenlosen Reiter wie im biblischen Text ‚die Hölle nachfolgen’ wird, trifft insofern zu, als mit seinem Erscheinen die Zahl der gewaltsam Sterbenden zunimmt.

Hull Barrett, der mit Megans Mutter zusammenlebt, bringt den Pale Rider mit ins Haus. Als dieser sich in einem Nebenraum den Oberkörper wäscht, sind auf seinem Rücken sechs Wundmale (in Kreisanordnung) zu sehen, die verheilte Schusswunden sein können aber auch eine Bezugnahme auf die kurz zuvor zitierte Johannesoffenbarung. Dort ist im dreizehnten Kapitel, Vers 18, von einem Tier mit dem Namen ‚666’ und von Malzeichen mit dieser Zahl die Rede.[26] Das mit der Zahl 666 benamte Tier wird gemeinhin mit dem Antichristen, dem Gegenspieler des wiederkommenden Christus, bzw. mit dem Satan identifiziert. Wie der in der Johannesoffenbarung beschriebene Reiter auf dem fahlen Pferd – und mit ihm auch die anderen drei apokalyptischen Reiter – bringt auch das Tier mit dem Namen 666 nichts Gutes.[27] Als der namenlose Reiter aus dem Nebenzimmer heraus zu Hull Barrett, Megan und deren Mutter Sarah tritt, um mit ihnen zu speisen, trägt er eine schwarze Weste und einen weißen Pfarrerkragen.[28] Etwas später, als der Pale Rider mit Hull Barrett in einem ausgetrockneten Bachbett steht mit dem unlösbar scheinenden Problem, einen Felsklotz zerschlagen zu müssen, unter dem Hull eine Goldader vermutet, gibt es eine Parallele zum Kampf Davids gegen Goliath im Alten Testament (1. Samuel, Kapitel 17).[29] Eine kleine Abordnung von LaHoods Leuten, bestehend aus LaHoods Sohn und dem Riesen Club,[30] kommt angeritten. Der große Club (Goliath) greift den im Vergleich zu ihm kleinen Pale Rider (David) an, der den Angriff trickreich kontert und Club außer Gefecht setzt.

Nach etwa drei Fünfteln des Films gibt es einen Wendepunkt in der Charakterisierung des Pale Rider. Von einem bis dahin durch Pfarrertracht und Waffenlosigkeit charakterisierten, sich eher friedvoll für Gerechtigkeit einsetzenden Heilsbringer, wandelt er sich zu einem düsteren und gewalttätigen Rächer. Ab jetzt zeigt der fahle apokalyptische Reiter nicht mehr die schöne, sondern die unschöne Seite seiner Janusköpfigkeit, nicht mehr das Heil und das Wunder der Gerechtigkeit, das er im Auftrag Gottes bringt, sondern die Brutalität und den Tod, die mit der Erringung der Gerechtigkeit mitunter einhergehen. Er legt seine Pfarrerkleidung ab und legt sich dafür einen Revolvergürtel um.[31] Mit dem Eintauschen des Pfarrergewandes gegen die Pistole beginnt der Pale Rider zu morden, extensiv im Showdown des Films, und schläft mit Sarah, der zukünftigen Ehefrau Hull Barretts. Mit seiner Kleidung legt der Pale Rider gleichsam das von dieser Kleidung erwartete moralische Verhalten ab. Bald wird auch deutlich, dass das primäre Interesse des namenlosen Reiters darin besteht, sich selbst, und nicht den Goldgräbern gegenüber LaHood Gerechtigkeit zu verschaffen. Wie sich erst jetzt herausstellt, stammen die Schusswunden auf seinem Rücken von einem Marshal Stockburn, der von LaHood beauftragt wird, den Pale Rider zu töten. Am Ende des Showdown vergilt der Pale Rider die sechs Schusswunden auf seinem Rücken damit, dass er Stockburn die gleichen Schusswunden zufügt, gemäß dem Grundsatz ‚Auge um Auge’. Der Pale Rider tritt primär nicht friedfertig für die Gerechtigkeit anderer ein, wie es zu Anfang des Films scheint, sondern verschafft sich gewalttätig Gerechtigkeit für sich selbst, indem er selbst ein an ihm begangenes Unrecht bestraft.[32]

Erbarmungslos (1992)

Die religionskritische Komponente im Titel zu erfassen, fällt im englischen Original Unforgiven leichter als in der deutschen Übersetzung. Der deutsche Titel spricht stärker die Handlungsweise, der englische stärker den aus der Handlungsweise resultierenden soteriologischen Status der Hauptfiguren an: ‚Erbarmungslos’ ist das, was sie tun und getan haben, keine Vergebung und keine Erlösung (‚Unforgiven’) ist das Urteil, das über ihre Taten und damit über sie gefällt wird. Vergebung und Erlösung aber ist die zentrale Botschaft des Christentums.

Der Prolog des Films zeigt einen Mann (William Munny, gespielt von Clint Eastwood), der ein Grab aushebt. Über das Bild läuft ein Rolltext, der William Munny als Mörder und Dieb charakterisiert. Der Text sagt auch, dass die Person, die beerdigt wird, William Munnys Frau war. Explizit wird William Munny eine Mitschuld an ihrem Tod abgesprochen („Als sie 1887 starb, war es nicht seine Schuld, sondern die der Pocken“), implizit trifft ihn eine Mitschuld (indem sie ihn heiratete, brachte sie sich um eine aussichtsreiche Zukunft). Der Texaner und Erbarmungslos gleichen sich darin, dass jeweils zu Beginn des Films die männliche Hauptfigur ihre Frau beerdigt; ungleich sind Setting und Involviertheit der Hauptfigur in den Tod der beerdigten Ehefrau. Die Szene am Grab in Erbarmungslos ist friedlich, ruhig, ohne diegetischen Ton: William Munnny, das Grab, ein Baum und eine einfache Hütte werden nur als Silhouette vor einem farbenprächtigen Himmel zwischen Tag und Nacht gezeigt. Das Sterben der Ehefrau wird nur im Text erwähnt. Josey Wales hingegen kniet verbittert und zornig am Grab, nachdem zuvor in aktionsreichen Aufnahmen die Tötung seiner Familie und das Niederbrennen seiner Farm gezeigt wurde. Josey Wales ist gänzlich unbeteiligt am Tod seiner Frau, William Munny trifft mittelbar eine Schuld. Die Schuld, die William Munny trifft, ist keine juristische, sondern eine moralische und emotionale. Die moralische wird im Rolltext aus der Perspektive der Schwiegermutter formuliert: Hätte Munny diese Frau nicht geheiratet, hätte sie nicht in solch ärmlichen Verhältnissen leben müssen[33], die letztlich dazu führten, dass sie an Pocken starb. Die emotionale Schuld, die William Munny für den Tod seiner Frau empfindet, wird an seinem Verhalten während des Films deutlich. In Der Texaner gibt es nur die ‚äußere’ Unrechtstat – die Ermordung von Frau und Kind –, die eine ‚äußere’ Ausgleichstat – die Bestrafung des Mörders – erfordert. Die Dramaturgie des Films folgt diesem einfachen Schema von der Tat zur Vergeltung. Komplizierter strukturiert ist Erbarmungslos, wo es nicht nur ein Problem, sondern zwei Probleme, ein äußeres Handlungsproblem und ein inneres emotionales Problem der Hauptfigur gibt. Beide Probleme sind ineinander verwoben, wobei das äußere Problem an der Oberfläche der Erzählung deutlicher wahrnehmbar ist. Das innere Problem der Hauptfigur William Munny, seine Mitschuld am Tod seiner Frau, werden nur im Prolog und im Epilog des Films thematisiert. Mit dem inneren Problem William Munnys beginnt und endet in visuell ähnlicher Gestaltung (Setting und Rolltext) der Film. Prolog und Epilog sind deutlich von der Haupterzählung und dem äußeren Problem des Films abgetrennt. Das äußere Problem besteht darin, dass eine Prostituierte von einem Freier verunstaltet wird. Diese Unrechtstat gilt es im Verlauf des Films zu bestrafen. Strafgerechtigkeit als zentrales Thema des Plot. Gäbe es nur dieses Thema, wäre Erbarmungslos wenig anders als die anderen, die älteren Filme Eastwoods. Das neue und andere in diesem Eastwood-Film ist die Verbindung einer ‚äußeren’ Unrechtstat mit einem inneren Schuldgefühl, die Verbindung eines Vergehens vor dem Gesetz mit dem Gefühl, ein (moralisches) Vergehen begangen zu haben, das vor dem Gesetz kein Vergehen ist. Für die Figur, die das Gefühl von Schuld in sich trägt, ist in diesem Film die Beseitigung des Schuldgefühls genauso eine (innerliche) Aufgabe, die es zu lösen gilt, wie die (äußerliche) Aufgabe der Bestrafung der Unrechtstat. In Erbarmungslos hat die Lösung der strafgerechtlichen Aufgabe – die Verfolgung und Bestrafung des Mannes, der die Prostituierte misshandelt und verunstaltet hat – die Funktion, William Munny bei der Lösung seiner emotionalen Aufgabe zu helfen. Das Unrecht, seiner eigenen Frau eine schöne und gute Zukunft genommen zu haben, versucht William Munny dadurch auszugleichen, dass er das Unrecht an der Prostituierten, der man ihre Zukunft zerstört hat, ahndet.[34] In diesem Film geht es nicht nur um die Lösung eines inneren Konflikts durch die Lösung eines äußeren, sondern auch um das Unrecht, das Frauen von Männern widerfährt, und um das Leiden, das dadurch (insbesondere bei den Frauen) erzeugt wird. Indem William Munny seine Frau heiratete, hat er sie um ihre aussichtsreiche Zukunft gebracht, der Freier zerstört die Zukunft der Prostituierten, indem er ihr Gesicht verunstaltet, der Sheriff Little Bill diskriminiert Frauen, indem er die Prostituierten nicht als rechtsfähige Personen, sondern wie Sachen behandelt: er interpretiert die Tat nicht als Körperverletzung, sondern als Sachbeschädigung; er verschafft nicht den Prostituierten Gerechtigkeit, sondern dem Zuhälter Skinny, indem dieser als Ausgleich für die Beschädigung seiner Prostituierten Pferde erhalten soll. Dass der Sheriff kein juristisches Verfahren gegen den Freier, der die Prostituierte misshandelt, einleitet, ist wider das Gesetz. Er verhält sich damit so, wie man es von einem Repräsentanten staatlicher Gewalt in einem Eastwood-Film erwartet: Widergesetzlich behandelt er die Prostituierten, den Revolverhelden English Bob, den er grundlos zusammen schlägt, und William Munnys Partner Nad, den er auspeitschen und dessen Leichnam er öffentlich ausstellen lässt. Für den Sheriff Little Bill und den Zuhälter Skinny sind Prostituierte keine Menschen, sondern Sachen; für Skinny  sind sie Mittel, um Geld zu verdienen. Ein weiterer Mann, der sich Frauen gegenüber schlecht verhält, ist Munnys Freund Nad. Als Munny Nad aufsucht, um ihn als Partner bei der Verfolgung der Unrechtstäter und für das ausgesetzte Kopfgeld zu gewinnen, begleitet Nad Munny und ignoriert die Interessen seiner Frau.

Anders als in den älteren Filmen Eastwoods wird in Erbarmungslos das Prinzip der Vergeltung nicht mehr positiv als guter und zufrieden stellender Ausgleich für eine Straftat beurteilt, sondern als ein zerstörerisches Verfahren, das einer Unrechtstat nur weitere Unrechtstaten hinzufügt. Der Western Erbarmungslos führt die Grundmuster des Genres Western ad absurdum: Selbstjustiz und Vergeltung bringen kein Happy-End, sondern das Chaos; die männlichen Figuren sind keine Helden, sondern emotionale Krüppel und zum Scheitern verurteilt; bis auf einen: William Munny. Fast alle werden Opfer des Prinzips der Vergeltung, das sie selbst anwenden, und für ihre Unrechtstaten nach dem ius talionis bestraft, nur die von Eastwood gespielte Hauptfigur William Munny nicht. Er darf morden, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Strafe für die Morde, die er begeht, gibt es für ihn nicht, nur das Gefühl von Schuld. Doch vom Gefühl von Schuld für das, was er seiner Frau angetan hat, ist er am Ende des Films erlöst, wie der Epilog suggeriert. Am Grab seiner Frau vor einem Himmel zwischen Tag und Nacht steht nicht mehr er, wie im Prolog des Films, sondern seine Schwiegermutter. William Munny hat den Ort von Verbrechen und Strafe, von Schuld und Erlösung verlassen, hat mit seiner inneren Veränderung und Heilung auch den Raum seiner äußeren Existenz verändert.

Ein wahres Verbrechen (1999)[35]

In Ein wahres Verbrechen ist das Thema Gerechtigkeit mit keinem Schuldgefühl der Hauptfigur verbunden. Darin ist dieser Film keine Fortführung dessen, was mit Erbarmungslos begonnen hat. Die Gerechtigkeitsproblematik bezieht sich hier nur auf eine Unrechtstat, die nach einer Ausgleichstat verlangt. Die Gerechtigkeit schaffende Tat erwirkt der Journalist Steve Everett (gespielt von Clint Eastwood). Everett verschafft einem anderen  Gerechtigkeit, für sich selbst muss er keine Gerechtigkeit schaffen, da er weder ein Unrechtstat begangen, noch von Schulgefühlen geplagt wird.[36] Everetts Kampf um Gerechtigkeit für einen anderen ist allerdings kein Altruismus, kein selbstloser Dienst um der Gerechtigkeit Willen und für den, dem Ungerechtigkeit widerfuhr. Everett nutzt seine Bemühungen, die Unschuld des zum Tode verurteilten Frank Beechum zu beweisen und die Hinrichtung des fälschlich Verurteilten zu verhindern, um seinen zweifelhaften Ruf als Journalist zu korrigieren. Dieses Anliegen zielt auf eine Äußerlichkeit, darauf, wie andere ihn wahrnehmen und beurteilen, nicht auf eine innere Veränderung. Das Problem, das Everett mit seiner Familie hat, mit seiner Frau, die er ständig betrügt, und mit seiner Tochter, für die er keine Zeit hat, scheint ihn kaum emotional zu bewegen und ist nur schwach mit Everetts Aufgabe verbunden, die Unschuld Beechums zu beweisen.

Wenn Everett die Vollstreckung der Todesstrafe an Beechum verhindert, dann nicht, weil er die Todesstrafe grundsätzlich, sondern nur, weil er sie in diesem speziellen Fall für Unrecht hält. Für Everett ist die Todesstrafe nicht an sich ungerecht, sondern nur dann, wenn sie den falschen trifft, was bei Frank Beechum der Fall ist. Die Kritik am Staat richtet sich in diesem Film nicht gegen dessen Gesetze –, die auch die Todesstrafe vorsehen –, sondern gegen die Verfahrensungerechtigkeit[37] der verantwortlichen staatlichen Institutionen. Ungerecht ist nicht die Todesstrafe, die gegen Beechum verhängt wurde, sondern das Verfahren, das zu diesem Urteil geführt hat. Ein fehlerhaftes und ungerechtes Verhalten zeigen nahezu alle, die zur Verurteilung Beechums beigetragen haben: Polizei, Staatsanwältin, Zeugen; und alle weisen jegliches Fehlverhalten von sich. Erst in letzter Sekunde siegt die Gerechtigkeit über die Ungerechtigkeit, indem Everett den Gouverneur von der Unschuld Beechums überzeugen kann und Beechum, dem schon die Giftspritze gesetzt wurde, vor der Hinrichtung gerettet wird.

Die Institutionenkritik trifft in diesem Film auch die Kirche, und zwar in Gestalt des staatlich autorisierten Gefängnispfarrers, der versucht, seine obrigkeitsgläubige Interpretation der christlichen Lehre Frank Beechum aufzuzwingen, aber keinerlei Interesse an Beechums eigener Interpretation der christlichen Lehre hat und auch keine Zweifel daran, dass Beechum das Verbrechen begangen hat, für das er zum Tode verurteilt wurde. Der von der Kirche an diese Stelle gesetzte und vom Staat akzeptierte Pfarrer spricht, anstatt zuzuhören, legt mehr Wert auf den Schein als auf das Sein, predigt nicht Liebe, Vergebung und Erlösung, sondern Strafe und ewige Verdammnis.[38] Sinnbild für die Betonung des Scheins gegenüber dem Sein ist der Lichtkreis, der um den Kopf des Pfarrers zu sehen ist, nachdem dieser die Presse mit einer Falschinformation über Beechum beliefert hat.[39] Das Licht, das den Pfarrer umgibt, ist kein Heiligen-, sondern ein Scheinheiligenschein. Gegen das Negativbild des Amtspfarrers wird der Pfarrer aus Beechums (freikirchlicher) Glaubensgemeinschaft gestellt. Ihn hat sich Beechum selbst ausgesucht, der Gefängnispfarrer wurde ihm von Amts wegen zugeteilt. Zu seinem Gemeindepfarrer hat Beechum Vertrauen. Beechums selbst gewählter Seelsorger spricht nicht, wie der amtliche Gefängnispfarrer, sondern schweigt und hört Beechum zu,[40] spendet Hoffnung, wohingegen der Gefängnispfarrer jegliche Hoffnung fürs Diesseits und fürs Jenseits zerstört. In Beechums Gemeindepfarrer zeigt sich, welche positiven Seiten das Christentum haben kann, wenn es nicht in institutionalisierter Gestalt erscheint. Dennoch spricht sich der Film deutlich gegen die jenseitsorientierte und auf eine transzendente Macht vertrauende christliche Vorstellung aus, dass es im Hier und Jetzt keine Gerechtigkeit und keine Erlösung geben kann, und wenn, dann nur durch Gottes Hilfe, aber nicht durch menschliche Bemühungen allein. Ein wahres Verbrechen ist, wie die anderen Eastwood-Filme, diesseitsorientiert und antitranszendental. Eine andere Welt als die, in der der Mensch seine Leben lebt, gibt es nicht. Erlösung und Gerechtigkeit kann es nur im Hier und Jetzt geben. Als Everett Beechum im Gefängnis besucht, spricht Beechum von seinem Glauben und von seiner Hoffnung auf Gerechtigkeit im Reich Gottes, aber Everett hört nicht zu. Das, wovon Beechum spricht, liegt außerhalb Everetts Welt und Weltverständnis. Für Everett kann es, wenn überhaupt, Gerechtigkeit nur in dieser Welt geben, da es eine andere für ihn nicht gibt. Everett interessiert sich nicht für den Glauben Beechums und letztlich auch nicht für die Person Beechum. Beechum ist für ihn nur als Fall wichtig, da er mittels dieses Falls den Staat der Verfahrensungerechtigkeit überführen und die Öffentlichkeit von seinen eigenen journalistischen Fähigkeiten überzeugen kann.

Mystic River (2003)

Die Prinzipien der Vergeltung und der Selbstjustiz führen in Mystic River nicht zu einem gerechten und guten Ende, sondern wie in Erbarmungslos zu einer Zunahme der Gewalt und des Leids. Zu einem guten Ende führt es weder, wenn William Munny und seine Partner in Erbarmungslos die Verstümmelung der Prostituierten Delilah durch Mord vergelten, noch wenn Jimmy in Mystic River den Tod seiner Tochter mit der eigenhändigen Ermordung seines Freundes Dave zu sühnen versucht. Dem geschehenen Leid wird durch den eigenmächtigen Versuch, Gerechtigkeit durch Vergeltung herzustellen, nur noch mehr Leid hinzu gefügt – so ist es in Erbarmungslos, so ist es in Mystic River. Bedrückend in Mystic River ist die Undurchbrechbarkeit der Spirale des Leids und die Gefangenheit des Menschen in seinem Schicksal.[41] Dies wird besonders deutlich an der Figur Dave, der als Junge misshandelt und als Mann gelyncht wird.[42] Nicht weniger seinem Schicksal ausgeliefert ist Daves Oppositionsfigur Jimmy. Beide müssen unter ihrem Schicksal leiden, Jimmy als Agierender, Aktiver und Handelnder, Dave als Reagierender, Passiver und behandelt Werdender. Der Unterschied zwischen dem aktiven Jimmy und dem passiven Dave zeigt sich schon in der ersten Szene des Films, an deren Ende Dave sich dazu überreden lässt, in das Auto zweier Entführer einzusteigen, Jimmy nicht. Von den drei schon als Kinder befreundeten Dave, Jimmy und Sean ist Sean der einzige, der aus der Spirale des Leids auszubrechen scheint und bei dem es zum Ende des Films eine Wende zum Besseren gibt. Sean ist Polizist geworden und lebt in einem emotional zermürbenden Verhältnis zu seiner Frau, die ihn verlassen hat. Die beiden telefonieren zwar regelmäßig, sprechen aber während der Telefonate nicht miteinander. Erst am Ende des Films sprechen Sean und seine Frau wieder miteinander.[43] Die beiden sind das einzige Paar in diesem Film, das in der Lage ist, das Problem gestörter Kommunikation zu lösen. Ansonsten ist diesem Film kein Verhältnis zwischen Menschen intakt, niemand versteht den anderen, alle sind gefangen in ihrer Beziehungs- und Kommunikationsunfähigkeit: Dave und seine Frau verstehen einander nicht, mit der Konsequenz, dass Dave seiner Frau den Mord, den er begangen hat, verschweigt, mit der Konsequenz, dass seine Frau ihn für den Mörder von Jimmys Tochter hält, mit der Konsequenz, dass Jimmy Dave ermordet. Jimmy hat sich weder mit seiner ersten Frau verstanden, noch versteht er sich mit seiner zweiten Frau: von seiner ersten Frau ist er geschieden, lobt diese aber seiner zweiten Frau gegenüber in den höchsten Tönen.[44] Niemand sagt dem anderen die Wahrheit, alle lügen einander an: Dave seine Frau Celeste und Jimmy, Celeste den Polizisten Sean, Jimmys Tochter Katie ihren Vater. Dadurch, das jeder jedem misstraut und niemand dem anderen die Wahrheit sagt, entstehen Missverständnisse und falsche Vermutungen, die ein Übel nach dem anderen auslösen. Die eigene Unfähigkeit, den andern zu verstehen, und das Nicht-Verstanden-Werden vom anderen, sind das Leid und der Konflikt, den die Hauptfiguren dieses Films in sich tragen. Dazu kommt das aufgrund der gestörten Kommunikation immer scheiternde Bemühen, sich selbst und dem anderen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Jimmy scheitert mit seiner vergeltenden Selbstjustiz, indem er in Dave einen am Tod seiner Tochter Unschuldigen[45] ermordet; Sean scheitert als Vertreter der staatlichen Rechtsinstanz, indem er die ungerechte Ermordung Daves nicht verhindert und den Mörder Jimmy nicht verfolgt.[46] Das Verhalten staatlicher Institutionen und Repräsentanten wird in Mystic River allerdings weniger kritisch beurteilt als in anderen Eastwood-Filmen. Sean und den andere auftretenden Polizisten ist kein widergesetzliches Verhalten vorzuwerfen, höchstens, dass sie nicht schnell genug agieren[47] bzw. dass sie mit ihren rechtmäßigen Methoden den unrechtmäßigen Methoden Jimmys unterlegen sind. Der Polizist Sean wird darüber hinaus positiv charakterisiert: Er schafft als einziger in der Beziehung zu seiner Frau eine Veränderung zum Guten hin.

Kein gutes Licht fällt in diesem Film auf das Christentum. Dessen wichtigstes und prominentestes Symbol, das Kreuz, ist mehrmals zu sehen und immer tragen es Menschen, die sich nicht christlich, sondern teuflisch verhalten. Die Träger des Kreuzzeichens misshandeln und töten. Nicht das Erlösende und Befreiende des Kreuzes wird hier gezeigt, nicht die im Kreuzestod Jesu inhärente frohe und Leben spendende Botschaft, sondern die Qualen und der Tod, die mit der Kreuzigung als einer besonders grausamen (römisch-antiken) Form der Bestrafung einhergehen. Als der junge Dave zu seinen Entführern ins Auto steigt, dreht sich der eine Entführer zu Dave um; an einem Finger trägt er einen Ring mit einem Kreuz darauf[48]. Ein weiteres Kreuz trägt er an einer Kette um den Hals.[49]Dieses Kreuz ist nicht verbunden mit Leben, sondern mit Kindesmisshandlung und Tod. Was Dave bei seinen Entführern erlebt, zeichnet ihn fürs Leben und führt letztlich zu seinem Tod. Als Erwachsener soll Dave noch einmal zu zwei Männern in ein Auto steigen[50], wieder auf die Rückbank. Wie bei seiner Entführung ist es düster im Wagen, wieder dreht sich einer der beiden zu ihm um und greift mit der Hand nach hinten, hat aber keinen Ring mit Kreuz am Finger, sondern eine Zigarette in der Hand; wieder wird der abfahrende Wagen von hinten gezeigt und Dave, wie er herausschaut. Die Männer, zu denen Dave in den Wagen steigt, sind die Savage-Brüder. Dave kennt sie. Sie stehen im Dienste Jimmys und werden Jimmy dabei helfen, Dave zu töten.[51] Während der Mann, der Dave als Kind misshandelt, das Kreuz nur als Ring am Finger trägt, ist es mit dem Mörder Daves wesentlich fester verbunden, da der es als Tätowierung auf seinem Rücken trägt.[52] Wie Jesus Christus trägt Daves Mörder Jimmy ein Kreuz; die Schuld, die auf diesem Kreuz lastet, ist allerdings bei Christus die Schuld anderer, bei Jimmy seine eigene. Was hier filmisch hergestellt wird, ist eine Funktionsübertragung von Jesus Christus, dem prominentesten Kreuzträger, auf die Figur Jimmy. Die Funktion, die übertragen wird, ist die, Gerechtigkeit zu schaffen. Nicht übertragen wird allerdings das Gerechtigkeitsverständnis des Kreuzträgers Jesus; es wird statt dessen persifliert: An die Stelle der Gerechtigkeit schaffenden Vergebung durch Jesus tritt die Gerechtigkeit schaffende Vergeltung durch Jimmy. Dass es sich hier um eine intendierte ikonographische Parallelisierung zwischen dem Kreuz, an das Jesus genagelt wurde, und dem Bild eines Kreuzes, das sich Jimmy hat eintätowieren lassen, handelt, wird dadurch unterstrichen, dass Jimmys Frau Annabeth ihrem Mann dieselbe Motivation für sein Handeln zuspricht, die Jesus für sein Sterben am Kreuz zugesprochen wird[53], und sie damit gleichsam das Kreuz auf Jimmys Rücken rechtfertigt. Als Jimmy am Anfang dieser Szene von seiner Schuld spricht, davon, dass er einen Unschuldigen getötet hat, unterbricht ihn Annabeth und sagt, dass er das, was er getan hat, habe tun musste [wie Jesus], und dass er das, was er getan hat, aus Liebe zu den Menschen getan habe [wie Jesus] und dass er ein König sei [die Tafel am Kreuz Jesu bezeichnet Jesus als ‚König der Juden’]. Wenn Annabeth Jimmy in seinem Schuldgeständnis unterbricht und Jimmy und seine Tat mit jesuanischen Attributen versieht, dann geht es ihr auch darum, der Ermordung Daves durch Jimmy eine andere Interpretation zu geben, als die, die Jimmy gibt, und Jimmy von ihrer eigenen Interpretation der Tat zu überzeugen.[54]

 Million Dollar Baby (2004)

Wie William Munny in Erbarmungslos versucht Frank Dunn in Million Dollar Baby eine emotional nicht verarbeitete eigene Schuld, deren Wurzeln in der Vergangenheit liegen[55], durch ein gegenwärtiges, im Verlauf des Filmes gezeigtes Verhalten, zu verarbeiten und auszugleichen. Die eigene Schuld besteht in beiden Filmen im lieblosen und zu egoistischen Verhalten einem Familienangehörigen gegenüber – in Erbarmungslos ist es die eigene Frau, in Million Dollar Baby die eigene Tochter. Da in Erbarmungslos die Frau bereits verstorben, in Million Dollar Baby die Tochter nicht erreichbar ist, kann die ausgleichende Sühnetat in beiden Fällen nur an einer Stellvertreterin geleistet werden. In Erbarmungslos ist diese Stellvertreterin die Prostituierte Delilah, in Million Dollar Baby die Boxerin Maggie[56]. In beiden Filmen handelt die Sühne suchende Hauptfigur zwar so, dass ihr Sühne zuteil werden könnte, aber in beiden Filme bleibt es mehr oder weniger offen, ob dieses Verhalten wirklich zu einer Befreiung vom Gefühl der Schuld führt. In beiden Filmen erfordert  die Erlösung vom Gefühl der Schuld die Gleichartigkeit von Unrechtshandeln – bzw. dem Verhalten, das das Schuldgefühl verursacht hat – und Sühnehandeln. Erbarmungslos und Million Dollar Baby unterscheiden sich in darin wenig von Eastwoods älteren Filmen, in denen (äußere) Gerechtigkeit auch nur durch die Gleichartigkeit von Verbrechen und Strafe, im Sinne des ‚Auge um Auge’ hergestellt werden kann. Der Unterschied zwischen vielen älteren Filmen und Million Dollar Baby besteht darin, dass das auszugleichende Schuldgefühl nicht durch aggressives Handeln hervor gerufen wurde, sondern durch ‚unterlassene Liebesleitung’, und dass der Ausgleich dementsprechend nicht durch aggressives, sondern durch liebevolles Verhalten geschaffen wird: vorenthaltene Liebe wird durch Liebe gesühnt. Die Liebe, die Frank in Million Dollar Baby Maggie gegenüber empfindet – aber seiner Tochter gegenüber versäumt hat zu fühlen oder zu zeigen – geht so weit, dass er Maggie sogar um ihretwillen tötet.

Während in den älteren Filmen Eastwoods die Taten, die einen Ausgleich erfordern, aus juristischer Perspektive Unrechtstaten darstellen[57], sind in den jüngeren Filmen die Taten, die einen Ausgleich erfordern, aus juristischer Perspektive häufig keine Straftaten: dass William Dunn in Erbarmungslos seiner Frau eine schöne Zukunft verbaut hat, stellt aus juristischer Perspektive genauso wenig eine Straftat dar, wie vermutlich das Verhalten Frank Dunns in Million Dollar Baby seiner Tochter gegenüber.[58] Ob etwas Unrecht ist oder nicht und ob es etwas zu sühnen gibt oder nicht, ist in den jüngeren Filmen Eastwoods weniger eine Frage einer etwaigen objektiven Tat, sondern eine Frage der Subjekts, das das Gefühl hat, eine zu sühnende Tat begangen zu haben.

Die seelische Wunde Frank Dunns in Million Dollar Baby, die er im Verlauf des Films zu heilen versucht, wird das erste Mal nach dem am Beginn des Filmes gezeigten Boxkampf thematisiert: Der Boxtrainer Frank Dunn ist alleine in seiner Wohnung, bekreuzigt und sich und betet für seine Tochter[59]. Die folgende Szene präzisiert die Beziehung zwischen dem Vater und seiner Tochter: Die Briefe, die Frank seiner Tochter schrieb und immer noch schreibt, bleiben unbeantwortet.[60] Eine weitere Präzisierung erfährt das Verhältnis von Vater zu Tochter in einem Gespräch zwischen Frank und dem Pfarrer seiner Kirchengemeinde. Der an der Seele wunde Frank erhofft sich von seinem Seelsorger Hilfe.[61] Der Gemeindepfarrer als Repräsentant der Institution Kirche tritt mit dem Anspruch auf, für das Seelenheil der Menschen zu sorgen und den Menschen Erlösung zu verschaffen, wird aber diesem Anspruch nicht gerecht. Frank wird von der Kirche, vom institutionalisierten Christentum, worauf er seine Hoffnung auf Hilfe und Erlösung setzt, enttäuscht. Sein Seelsorger hilft ihm nicht und verschafft ihm keine Erlösung. Der Pfarrer wird in seinem Verhalten Frank gegenüber als wenig empathisch charakterisiert. Am deutlichsten wird dies, als Frank seinen Seelsorger um Hilfe bei der Entscheidung bittet, Maggie Sterbehilfe zu gewähren oder nicht[62]. Der Pfarrer unterlässt es nicht nur, Frank die Last der Entscheidung leichter zu machen, er erschwert Franks Last sogar noch zusätzlich, indem er ihm die Schuld vorhält, die er auf sich lädt, wenn er Maggies Leben beenden hilft.[63] Die christliche Kirche in Personifikation des Gemeindepfarrers erhält auch in diesem Film Eastwoods kein positives Urteil. Die Kirche und ihre Repräsentanten, die Hilfe und Erlösung versprechen, und von denen man sich Hilfe und Erlösung erhofft, können die von ihnen gepredigte und die in sie gesetzte Hoffnung nicht erfüllen. Das institutionalisierte Christentum kann dem Menschen weder helfen, noch ihn erlösen. Erlösen kann sich der Mensch, und so auch Frank, nur selbst; nicht durch einen Glauben, der auf eine zugesprochene Verheißung gründet, sondern nur durch die Tat. Franks Tat besteht darin, Maggie den letzten Liebesdienst zu erweisen und ihr sterben zu helfen. Ob er dadurch die Wunde der gestörten Beziehung zu seiner Tochter heilen kann, bleibt offen, ist aber wahrscheinlich: In der letzten Szene liest Scrap – Scrap ist eine Art Hausmeister in Franks Boxstudio und Franks Freund – aus dem Off einen Brief, den er an Franks Tochter schreibt[64]: „Ich hatte gehofft, er [Frank] würde zu Ihnen fahren und Sie einmal mehr um Vergebung bitten. Aber vielleicht war sein Herz zu leer. Ich hoffe nur, er hat einen Platz gefunden, an dem er seinen Frieden hat.“

Der fremde Sohn (2008)[65]

Am Ende von Million Dollar Baby sieht man durch eine trübe Fensterscheibe Frank, wie er allein an der Theke eines Restaurants sitzt und etwas, vermutlich Zitronenkuchen, isst.[66] Schon einmal war Frank in diesem Restaurant gewesen, mit Maggie, die ihn hier den besten Zitronenkuchen, den sie kannte, probieren lassen wollte. Dass Frank am Schluss des Films gezeigt wird, wie er etwas genießt, und das, obwohl er kurz zuvor Maggie, die für ihn zur Ersatztochter geworden war, eine Spritze gab, die ihr Leben beendete, ist kein richtiges Happy-End, aber ein Hoffnungsschimmer. Trotz des unsäglichen Leidens, das er hinter sich hat, kann er noch Zitronenkuchen genießen. Auch am Schluss von Der fremde Sohn gibt es anstelle eines Happy-Ends einen Hoffnungsschimmer: Christine Collins’ entführter Sohn Walter ist zwar noch immer nicht gefunden, aber Christines Zuversicht, dass er noch lebt, ist stärker als je zuvor. Diese Zuversicht resultiert aus der Stärke, die Christine im langen Kampf um die Suche nach ihrem Sohn gewonnen hat. Kämpfen musste sie gegen staatliche Institutionen, gegen eine unfähigen und korrupten Polizeiapparat. In Der fremde Sohn ist es nicht wie in vielen älteren Eastwood-Filmen ein gefühlloser Männerheld, der (sich selbst) Gerechtigkeit schafft, weil der Staat in dieser Aufgabe versagt, sondern eine Frau mit Gefühlen, die für Gerechtigkeit kämpft. Die Motivation für Christines Kampf um Gerechtigkeit ist zwar nicht weniger als die der Männerhelden in den älteren Eastwood-Filmen eine egoistische – sie fordert vom Staat eine rechtmäßige Untersuchung der Entführung ihres Kindes und eine gerechte Bestrafung des Täters – aber neben dem Eigeninteresse steht bei ihr das uneigennützige Interesse an der grundsätzlichen Einhaltung von Rechts- und Gerechtigkeitsprinzipien.[67] Christines Kampf nutzt letztlich anderen mehr als ihr selbst: ihr Sohn bleibt verschwunden, aber andere Kinder werden gefunden und die Stadt Los Angeles erhält durch Christines Kampf um ihren Sohn eine bessere Polizei. Einen solchen Einsatz nicht nur für sich, sondern quasi für eine universale Gerechtigkeit, findet man bei den für Gerechtigkeit kämpfenden Männerhelden der älteren Eastwood-Filme kaum. Dass es Christine nicht nur um sich und ihren Sohn geht, sondern auch um menschliche Verhaltensweisen, um Tugenden, zu denen neben der Gerechtigkeit auch beispielsweise die Verantwortung gehört, zeigt sich in einem Gespräch, das die allein erziehende Christine mit ihrem Sohn Walter führt. „Für manche ist Verantwortung die erschreckendste Sache der Welt“, sagt Christine im Hinblick auf Walters Vater.[68] Verantwortung ist etwas, das Christine von allen Menschen erwartet. Wer aber wenig Verantwortungsbewusstsein zeigt, das sind vor allem die Männer, Walters Vater und fast alle in der Polizei von Los Angeles arbeitenden. Christine dagegen wird in allem, was sie tut, privat und beruflich, als überaus verantwortungsbewusste Frau gezeigt. Zwischen ihrer Verantwortung für ihre Arbeit und ihrer Verantwortung für ihren Sohn kommt es schließlich zu einer Dilemmasituation, deren Konsequenz die Entführung Walters ist: Christine, die Walter versprochen hat, an ihrem freien Tag, mit ihm ins Kino zugehen, gibt der Bitte nach, an diesem Tag für eine erkrankte Arbeitskollegin einzuspringen. Nach der Arbeit verpasst sie, durch ein Gespräch mit ihrem Chef, der sie lobt, den Bus. Als Christine verspätet nach Hause kommt, ist ihr Sohn Walter nicht mehr da. An dieser Stelle beginnt der Hauptteil des Films: Christines Suche nach ihrem Sohn. Die Polizei von Los Angeles, deren Aufgabe es wäre, dem Fall nachzugehen, agiert dabei alles andere als zuverlässig. Christines Suche nach ihrem Sohn wird so zu einem Kampf gegen die Instanzen, gegen die korrupte und nicht für Recht und Gerechtigkeit sorgende Polizei. In ihrem Kampf gegen die Polizei wird Christine unterstützt von einem Presbyterianer-Pfarrer, Reverend Gustav Briegleb. Briegleb, der seine Lebensaufgabe darin sieht, die Missstände in der Polizei von Los Angeles öffentlich anzuprangern, nimmt sich gerne Christine Collins’ an. Obwohl der Fall ‚Walter Collins’ für Briegleb das perfekte Vehikel zur Umsetzung seine Lebensaufgabe ist, wird Briegleb nicht so charakterisiert, als wären für ihn Christine und ihr Sohn nur Mittel zum Zweck. Die Pfarrerfigur Briegleb in Der fremde Sohn ist anders als die Pfarrerfiguren in den meisten anderen Eastwood-Filmen positiv besetzt: er kümmert sich um Christine, fühlt mit ihr mit und unterstützt sie tatkräftig. Nachdem Briegleb sein Ziel erreicht hat, indem die Fehler der Polizei öffentlich vor Gericht verhandelt werden und der Tatverdächtige verurteilt ist, endet allerdings sein Einsatz für Christine. In ihrer Hoffnung, dass ihr Sohn doch noch gefunden wird, unterstützt Briegleb Christine nicht. Im Gegenteil, er äußert ihr gegenüber die Meinung, dass Walter tot sei. Mit der Aussage, „ es wird Zeit, nach vorne zu blicken“[69], zeigt sich seine christliche, auf eine außerweltliche Zukunft gerichtete Perspektive, die eine andere Perspektive ist als die innerweltliche Christines.

Reverend Briegleb ist eine positive Figur, aber Kritik am Christentum gibt in diesem Film dennoch: Als Christine den zum Tode verurteilten Täter Gordon in seiner Zelle besucht, um von ihm zu erfahren, was mit ihrem Sohn Walter geschehen ist, priorisiert Gordon zum einen die zehn Gebote gegenüber dem christlichen Liebesgebot und sieht sich zum anderen als unschuldig, da ihm von Seiten des Gefängnispfarrers die Sündenvergebung zugesprochen wurde, worauf in der Hinrichtungsszene das bestätigende Nicken des Pfarrers zu Gordons Worten ‚ich habe nichts Böses getan’ hindeutet[70]. Dass Gordon Christine über das Schicksal ihres Sohnes, den man in Gordons Haus nicht gefunden hat, letztlich im Unklaren lässt, und er seine Aussage, dass er Walter nicht getötet habe, damit rechtfertigt, dass ihm Gott vergeben habe und er durch eine Lüge keine neue Sünde auf sich laden wolle, bringt Christine (und den Zuschauer) gegen Gordon und gegen den Gott, auf den sich Gordon beruft, auf. Der Gott, auf den sich Gordon hier beruft, erscheint als gnädig dem Täter und rücksichtslos dem Opfer gegenüber. Wenn Gordon dann am Galgen stehend das christliche Weihnachtslied ‚Stille Nacht’ singt, so klingt daraus eine scharfe und verstörend wirkende Kritik an einem Christentum, in dem äußere Formen, Rituale wie das Singen eines Weihnachtsliedes möglicherweise wichtiger sind als Gerechtigkeit für die, denen Unrecht widerfahren ist.[71]

Gran Torino (2008)

Die feinfühlige Christine Collins in Der fremde Sohn sieht es nicht ungern, wenn auch andere von ihrem durch Eigeninteresse motivierten Einsatz für Gerechtigkeit profitieren; dem griesgrämigen Misanthropen Walt Kowalski (gespielt von Clint Eastwood) in Gran Torino ist es dagegen eher lästig, dass er in Probleme verwickelt wird, in denen ihm die Funktion zukommt, anderen Gerechtigkeit zu verschaffen. Mit der Charakterisierung der Hauptfigur Walt als eines alten griesgrämigen Misanthropen beginnt Gran Torino. Im Verlauf des Films wird er sich von jemandem, der fast alles und jeden zu hassen scheint – seine genetisch ihm nahen Söhne nicht weniger als kulturell ihm fern stehende Einwanderer, wie seine asiatischen Nachbarn –, zu einem Menschen verändern, der sich für Fremde einsetzt und für sie sogar sein Leben opfert. Das Verhältnis zwischen Walt und seiner Familie verändert sich im Verlauf des Films allerdings nicht zum Guten. In der Anfangsszene, dem Beerdigungsgottesdienst für Walts verstorbene Frau, tritt als Oppositionsfigur zu Walt der Priester Janovich auf. Janovich, der die Trauerpredigt hält, ist jung, freundlich, offen, kontaktfreudig – ein Menschenfreund. Wie Walt wird auch er sich im Verlauf des Films verändern. Seine Predigt über Leben und Tod missfällt Walt, da sie nicht auf eigener Erfahrung beruht, sondern auf Buchwissen[72], seine Predigt zur Beerdigung Walts am Ende des Films dagegen würde Walt gefallen, da sie auf eigenen Erfahrungen beruht, die Janovich mit dem Leben, mit dem Tod und mit Walt gemacht hat.[73] Dass eine Pfarrerfigur in der Klammer des Films erscheint – in den Begräbnisgottesdiensten am Anfang und am Ende – und auch während des Films immer wieder auftritt, ist ein Beleg dafür, dass in Gran Torino diese Pfarrerfigur und das, wofür sie steht, von Wichtigkeit ist. Dass hier ein katholischer Priester einmal nicht als Negativbild der Institution Kirche erscheint, ist eine Seltenheit im Werk Eastwoods. Wie der protestantische Pfarrer Briegleb in Der fremde Sohn ist auch der katholische Priester Janovich in Gran Torino positiv belegt, hat sympathische Charaktereigenschaften. Ausnahmsweise geht dieser Film Eastwoods einmal gnädig mit dem Repräsentanten einer christlichen Großkirche um.[74] Im Vergleich zum Pfarrer in Million Dollar Baby, der das Gesetz über das Evangelium stellt, wird der Priester in Gran Torino als ein Mensch gezeigt, der empathiefähig ist und dem die Menschen wichtiger sind der Buchstabe. Janovich wird allerdings auch als Vertreter einer Erlösungslehre gezeigt, die dem Erlösungsverständnis Walts widerspricht. Anhand der Figuren Janovich und Walt und deren Verhältnis zueinander werden zwei unterschiedliche Erlösungsgedanken und Erlösungswege gegenüber gestellt: Janovich vertritt den christlichen Erlösungsgedanken, der das Vergeltungsdenken der Talion überwinden will, indem er die Liebe über alles stellt und der auf der stellvertretenden versöhnenden Heilstat im Sterben Jesu beruht: im Sterben und Tod Jesu wird der Mensch von der Notwendigkeit, für die eigenen Taten Sühne zu leisten und dadurch Erlösung zu finden, befreit.[75] Auf der anderen Seite der Erlösungsgedanke, für den Walt steht und der, wie die bisherigen Analysen zeigen, typisch für die Filme Eastwoods ist: Begleichung von Schuld durch Vergeltung, Ablehnung von Gnade, Liebe und stellvertretender Sühneleistung. Wieder gut zu machen sind in Gran Torino zwei Vergehen, eine Schuld Walts, die in seiner Vergangenheit als Soldat im Koreakrieg liegt, und die Misshandlung der Geschwister Thao und Sue, insbesondere die Vergewaltigung Sues. Beide Vergehen sind inhaltlich und dramaturgisch miteinander verbunden und für beide Vergehen gilt es ausgleichende Gerechtigkeit zu schaffen. Das Gerechtigkeitsprinzip, das in Gran Torino befolgt wird, ist nicht das christliche, wofür der Priester steht, sondern das der Vergeltung, der Talion, wofür Walt steht. Die beiden zu unterschiedlichen Zeiten und von unterschiedlichen Personen verübten Straftaten werden in einer einzigen Vergeltungstat und von einer allein agierenden Person gesühnt. Gran Torino ist darin ein typischer Eastwood-Film, dass der für Gerechtigkeit Sorgende die von Eastwood selbst gespielte Hauptfigur (Walt) ist. Für den von Eastwood gespielten Helden kann es für eine selbst begangene Straftat keine stellvertretende Sühne, keine Vergebung geben. Das Vergehen, das Walt an einer anderen Person verübt hat, muss ihn selbst treffen, um Gerechtigkeit herzustellen. Da Walt einem Menschen das Leben genommen hat, muss er selbst sein Leben dafür geben. Da er im Koreakrieg einen Jungen getötet hat, der sich gerade ergeben hatte[76], begibt sich Walt zur Sühne dieser Tat in eine ähnliche und damit dem Vergehen gleichwertige Situation: schutzlos begibt er sich zu einer Gruppe bewaffneter Asiaten und lässt sich von ihnen erschießen.[77] Mit seinem eigenen Tod ist seine Ermordung eines jungen Asiaten im Koreakrieg gesühnt.[78] Dadurch dass sich Walt erschießen lässt, wird mittelbar ein zweites Vergehen gesühnt: die Vergewaltigung Sues. Diejenigen, die Walt erschießen, sind dieselben, die Sue vergewaltigt und Thao verprügelt haben. Walt lässt sich absichtlich von den Vergewaltigern Sues erschießen, damit sie für den Mord an ihm vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Der Eastwood-Held Walt schafft anderen Gerechtigkeit, und wo er selbst derjenige ist, der Unrecht schafft, muss er auch er selbst die Strafe dafür über sich ergehen lassen. Dabei gilt immer das Prinzip der Vergeltung: Menschenleben für Menschenleben – der Tod eines Jungen im Koreakrieg für den Tod Walts – , lebenslanges Leiden für lebenslanges Leiden – lebenslange Haft für Sues ein Leben lang nicht aus der Welt zu schaffende Vergewaltigung. Dass die Vergewaltiger Sues nicht für die Vergewaltigung, sondern nur für die Ermordung Walts bestraft werden und dass es die Privatperson Walt ist, die sich um die Bestrafung des an Sue begangenen Unrechts kümmert, ist eine dezente, aber für Eastwood typische Kritik an der Unfähigkeit des Staates, Unrecht zu ahnden und für Gerechtigkeit zu sorgen. Kritisiert wird jedoch nicht nur das aktuelle Verhalten des Staates, sondern auch dessen Gerechtigkeitsverständnis in den 1950er Jahren, in den Zeiten des Koreakrieges. Das, was Walt selbst als Unrecht interpretiert und als Schuld empfindet, seine Tötung eines Jungen, der sich gerade ergeben wollte, interpretierte der Staat damals als Recht und gerecht, indem er Walt für diese Tat einen Orden verlieh[79].

Die doppelte Sühnetat Walts am Ende des Films – unmittelbare Sühne für Walt selbst, mittelbare Sühne für die Vergewaltigung Sues – wird mit christlich konnotierten Bildern versehen: der tote Walt liegt in Kreuzeshaltung auf dem Rücken, aus einer Hand rinnt Blut. Zwei christliche konnotierte und mit dem Tod Jesu am Kreuz verbundene Bilder: Wundmahl und Position. Die Aussage, die in diesem Bild steckt: Walt gibt wie Jesus sein Leben für andere hin; Walt verschafft wie Jesus anderen Gerechtigkeit; wie Jesus ist Walt das schuld- und wehrlose Opfer von Gewalt; Jesus lässt sich freiwillig verhaften und kreuzigen, Walt begibt sich freiwillig und ohne Waffen zu seinen Mördern. Das Bild suggeriert mehr Parallelen zwischen Jesus und Walt als wirklich vorhanden sind. Anders als Jesus ist Walt nämlich nicht sündlos, da er im Koreakrieg vermutlich nicht nur einen Jungen, sondern noch viele andere Menschen getötet hat. Anders als Jesus’ ist Walts Verhalten nicht gewaltfrei – als beispielsweise Thao nachts Walts Auto (einen Gran Torino) stehlen will, geht Walt mit dem Gewehr auf Thao los[80]. Anders als Jesus stirbt Walt nicht primär für andere, sondern für sich selbst, zur Sühne des von ihm selbst begangenen Vergehens. Die Jesuanisierung Walts im Bild seines Todes ist also nur sehr eingeschränkt gerechtfertigt.

Invictus – Unbezwungen (2009)[81]

Die Zurückstellung eigener Gerechtigkeitsforderungen zugunsten der Gerechtigkeit anderer, um nicht zu sagen aller, die im christlich konnotierten Bild des in Kreuzeshaltung auf der Erde liegenden toten Walt Kowalski am Ende von Gran Torino zum Ausdruck kommt, ist ein zentrales Thema in Invictus. Invictus erzählt, wie Nelson Mandela als Präsident von Südafrika die durch die Apartheid geschaffene Kluft zwischen Weißen und Schwarzen dadurch zu überwinden versucht, dass er die ganze Nation, Schwarze und Weiße, im Willen und im Kampf um den Sieg der südafrikanischen Rugby-Mannschaft bei der 1995 in Südafrika ausgetragenen Rugby-Weltmeisterschaft vereint. Mandela, der 27 Jahre lang als politischer Gefangener in Haft war, kämpft nicht für Wiedergutmachung des an ihm begangenen Unrechts, sondern für die Aussöhnung zwischen den verfeindeten Bevölkerungsgruppen. Sein eigenes Leiden stellt er gänzlich zurück und setzt sich mit aller Kraft für andere, für die Menschen seines Landes und ein friedliches und verständnisvolles Miteinander ein. Schon die Priorisierung altruistischer gegenüber egozentrischer Interessen ist für einen Eastwood-Film ungewöhnlich. Nicht weniger die Methode, mit denen Mandela in diesem Film sein Ziel verfolgt, und die dem für Eastwood-Filme sonst typischen Gerechtigkeitsprinzip der Vergeltung diametral entgegensteht. Nicht durch Vergeltung können die Probleme in Südafrika gelöst werden, sondern durch Vergebung und friedliche Versöhnung. ‚Werft eure Waffen in den Ozean’, sagt Mandela in der dokumentarisch inszenierten Einführung zu Beginn des Films[82], und zu seinem Leibwächter Jason sagt er an seinem ersten Arbeitstag als Präsident: „Die Versöhnung beginnt hier. [...] Auch die Vergebung beginnt hier. Vergebung befreit die Seele. Sie nimmt die Furcht. Deswegen ist sie eine derart mächtige Waffe“[83]. Mandela vertritt und lebt die ethischen Ideale des Christentums: Liebe und Vergebung. Der christliche Weg der Liebe und der Vergebung, dem in Gran Torino zwar keine Erfolgsaussichten eingeräumt werden, der aber immerhin als Utopie des positiv dargestellten Priesters Janovich akzeptiert wird – erfolgreich Gerechtigkeit schaffen kann auch in Gran Torino nur das Prinzip der Vergeltung, ist in Invictus der einzig mögliche Weg, der zum Erfolg führen und Gerechtigkeit schaffen kann. Dieser Weg wird in Invictus allerdings nicht mit der christlichen Religion oder deren Repräsentanten in Verbindung gebracht. Mandelas altruistisches Handeln ist nicht religiös motiviert, Christentum und Kirche spielen in diesem Film keine Rolle. Mandela nimmt die Kraft für sein Handeln nicht aus der Hoffnung auf eine transzendente Macht oder dem Glauben an ein Jenseits. Mandelas Handeln in Invictus ist allein auf das Diesseits ausgerichtet und die Quelle seiner Kraft liegt in ihm selbst. Deutlicher Hinweis darauf ist das mehrmals im Film erwähnte Gedicht ‚Invictus’ des Autors William Ernst Henley, das Mandelas Leben begleitet und seine Einstellung charakterisiert. Dieses Gedicht übergibt Mandela dem Kapitän der Rugby-Mannschaft Francois[84], dieses Gedicht ist am Ende des Films, nachdem die Rugby-Mannschaft die Weltmeisterschaft gewonnen und Mandela sein Ziel der Versöhnung erreicht hat, zu hören[85]; dieses Gedicht spricht aus dem Off die Stimme Mandelas, als Francois die Gefängniszelle besichtigt, in der Mandela inhaftiert war: „[...] Ich dank, welch Gott es geben mag[86], dass unbezwungen ist meine Seel’. [...] Mein Haupt voll Blut[87], doch stets erhoben [...], die Furcht an meinem Ich zerschellt [...]. Ich bin der Meister meines Los’, ich bin der Käpt’n meiner Seel“.[88]

Dass Mandelas Weg der Vergebung und der gewaltlosen Versöhnung in Invictus zum Ziel führt, hängt auch an der Perfektion der Heldenfigur Mandela. Mandela in Invictus predigt nicht bestimmte ethischen Ideale, wie viele Pfarrerfiguren in den Eastwood-Filmen, ohne diese selbst zu befolgen; was Mandela von anderen als Handlungsmaxime fordert, lebt er selbst.[89] Die Übereinstimmung von Sein und Tun, die in anderen Eastwood-Filmen die Helden der Vergeltung kennzeichnet, kennzeichnet in Invictus den Helden der Vergebung. In seiner Perfektion des guten Denkens und Handelns trägt Mandela in Invictus jesuanische Züge.[90]

Hereafter – Das Leben danach (2010)[91]

Der deutsche Titel Das Leben danach lässt vermuten, dass für Eastwood in diesem Film die Ausschließlichkeit der Faktizität des Diesseits fraglich geworden ist, dass er sich, wie in vielen Kritiken zu lesen, mit der eigenen Nähe zum Tod von der Ablehnung einer Hoffnung auf ein Jenseits verabschiedet hat. Der Begriff ‚Hereafter’ des Originaltitels hingegen beinhaltet mit dem ‚here’ eine weniger deutliche Jenseitsorientierung als der deutsche Titel.

Der Film besteht aus drei Erzählsträngen, die nach etwas mehr als zwei Dritteln des Films zusammen geführt werden. Erzählstrang 1: Die französische Journalistin Marie wird im Urlaub von einer Tsunamiwelle erfasst und dabei von einem Nahtoderlebnis traumatisiert. Erzählstrang 2: George, ein Amerikaner, hat die Gabe, Kontakt zu Verstorbenen herzustellen, hat mit dieser Fähigkeit Geld verdient, will aber keine so genannten Readings mehr abhalten, da, wie er sagt, „ein Leben, das sich nur um den Tod dreht, kein Leben ist“[92]. Erzählstrang 3: Von zwei jungen Zwillingsbrüdern wird der eine, Jason, bei einem Verkehrsunfall getötet. Der andere, Marcus, fühlt sich nach dem Tod seines Bruders hilflos und unfähig, sein Leben allein zu meistern. Indem sich die drei Erzählstränge kreuzen, können sich Marie, George und Marcus gegenseitig helfen: George hilft Marcus, Verbindung mit seinem verstorbenen Bruder aufzunehmen, Marcus hilft George, Verbindung mit Marie aufzunehmen, von der Marcus weiß, dass George in sie verliebt ist. George und Marie helfen sich gegenseitig, indem die beiden im jeweils anderen den Idealpartner finden, den Menschen, der sie versteht. Marie und George erleichtern einander die Last der Jenseitsbilder. Da die Lösung der Probleme der Hauptfiguren Marie, Marcus und George eben nicht im Jenseits liegt, das Jenseits, oder besser das dem Diesseits nahe Jenseits, nur das Mittel zur Lösung diesseitiger Probleme darstellt, geht es in diesem Film nicht wirklich um ‚Das Leben danach’ und verlässt Eastwood hier nur partiell die für seine Filme typische Ablehnung von Vorstellungen, die auf transzendente Hoffnung und Hilfe bauen. Erlösung und die Lösung von Problemen gibt es in diesem Film, nicht anders als in den anderen Eastwood-Filmen – wenn überhaupt – nur im Hier und Jetzt. Dies wird in mehreren Szenen des Films deutlich: Als George für Marcus zu dessen verstorbenem Bruder Jason Kontakt aufnimmt[93], übermittelt George von Jason folgende Nachricht an Marcus: Du kannst dich nicht mehr auf meine Hilfe verlassen, „du bist jetzt auf dich allein gestellt“. Für Marcus bedeutet dies, dass er für sein weiteres Leben nicht mehr wie früher, als sein Bruder noch lebte, auf dessen Hilfe bauen kann. Nach dem Reading, in dem er aus dem Jenseits das letzte Mal von seinem Bruder Hilfe erfährt, wird er seine Probleme im Diesseits, alleine und ohne Hilfe von außen lösen müssen. In der letzten Szene des Films geben sich Marie und George die Hand[94], ohne dass dies bei George oder Marie das Erscheinen geistiger Bilder – Nahtodbilder – auslöst, wie dies sonst, zumindest bei George, der Fall war, wenn er jemandem die Hand gab. Das voraussichtlich gemeinsame weitere Leben der beiden wird ganz diesseitig sein, alles Jenseitige wird mit dem angedeuteten zukünftigen Ausbleiben der Jenseitsstimmen (für George) und der Nahtodbilder (für Marie) keine Rolle mehr spielen. Das ‚Leben danach’ kann für manche Menschen durchaus ein bestimmendes Thema sein und ist es auch für die Hauptfiguren dieses Films; Priorität hat aber in diesem Film eindeutig das Leben im Hier und Jetzt. Zumal man durch die Kontakte von George zu erst kürzlich – nicht schon lange – Verstorbenen[95] nur wenig über ein etwaiges ‚Leben danach’ erfährt, und auch über Frau Dr. Rousseau, die Marie in der Schweiz aufsucht, nur über Nahtoderlebnisse, nicht aber darüber, was nach dem Nahtod geschehen könnte, Auskunft erhält. Über das, was sein könnte, wenn man Tod und Nahtod hinter sich hat, schweigt der Film. Nach dem Reading, das George für Marcus abhält, antwortet George auf Marcus’ Frage, was ‚danach’ kommt,: „Tut mir leid, Kleiner, ich weiß es nicht“.[96] Das Leben danach handelt nicht vom Leben danach, sondern vom Leben im Diesseits, da man über ein anderes als das diesseitige Leben nichts Genaues weiß. Hereafter ist darin ein typischer Eastwood-Film, dass die eigentlichen Probleme im Hier und Jetzt liegen und im Hier und Jetzt gelöst werden müssen. Hilfe zur Lösung kann zwar von anderen, von außen, auch von außerhalb der sinnlich wahrnehmbaren Welt kommen, die Hilfe umsetzen muss aber jeder selbst, und zwar durch eine diesseitige Tat oder ein diesseitiges Verhalten.

Keine Hilfe erwartet Hereafter von den Religionen. Der Film zeigt zwei Religionen in ihrer Funktion, sich um das Jenseits von Verstorbenen und um das Diesseits von lebenden, mit dem Tod anderer konfrontierten, Menschen zu kümmern. Gezeigt wird die christliche Begräbnisfeier für Marcus’ Bruder Jason und der Anfang einer indischen Trauerfeier.[97] Die in beiden religiösen Trauerzeremonien präsentierten Jenseitsvorstellungen sind nicht in der Lage, die Probleme der mit dem Tod konfrontierten Menschen zu lösen. Auch darin ist Hereafter ein typischer Eastwood-Film. Die Religionen, die hier gezeigt werden, treten zwar mit dem Anspruch auf, Antworten auf die Frage nach dem Jenseits zu haben, ihrem Anspruch werden sie aber nicht gerecht, insbesondere die christliche Religion nicht. Der Pfarrer, der die Begräbnispredigt für Jason hält[98], ist, wie die Pfarrer in vielen anderen Eastwood-Filmen, mit negativen Charaktereigenschaften versehen. Das, was er sagt, klingt unglaubwürdig. Er sagt: Jason befindet sich im Himmel „und blickt umgeben von Engeln und Heiligen auf uns herab“. Die von diesem Pfarrer gelieferten stereotypen christlichen Jenseitsbilder erweisen sich an späterer Stelle des Films, wenn George mit dem verstorbenen Jason Kontakt aufnimmt und Jason das Jenseits ganz anders beschreibt als der Pfarrer, als falsch. Dieser Pfarrer  verhält sich wenig liebevoll, zeigt keine Empathie dem leidenden Marcus gegenüber. Von solchen Pfarrern, von einer Kirche, die solche Menschen in ihrem Dienst hat, kann man, so die Botschaft des Films, keine Hilfe erwarten.

J. Edgar (2011)

John Edgar Hoover ist keine Lichtgestalt wie Nelson Mandela, den Eastwood in Invictus portraitiert hat. Die filmische Biographie des in seinen Ansichten und Methoden umstrittenen Gründers und langjährigen Direktors des FBI erklärt dessen Denken und Handeln mit dessen familiärer Situation, mit Hoovers Verhältnis zu seiner Mutter. Hoovers Mutter, zu der er ein enges Verhältnis hat, sieht ihn nicht, wie er ist, sondern wie er sein soll. Daran, wie er für seine Mutter sein soll, orientiert er sich, seine eigenen Bedürfnisse unterdrückt er. Erst kurz vor Ende des Films, kurz vor seinem Tod, durchbricht Hoover das Sein-Sollen, bekennt sich zu sich selbst, erkennt, dass die Liebe des Einzelnen wichtiger ist als die Pflicht für die Gemeinschaft, für den Staat. Er hat damit sein dramaturgisches Entwicklungsziel erreicht. Das kritisierbare Verhalten des FBI-Direktors Hoover, seine eigenmächtige, teilweise gesetzeswidrige Auslegung des Gesetzes wird erklärt durch sein gestörtes Verhältnis zu sich selbst, das ein gestörtes Verhältnis zu seiner Umwelt nach sich zieht. Dieser Film ist eine Art Erklärfilm: Ausgehend vom bekannten Verhalten des realen John Edgar Hoover will der Film eine Erklärung für Hoovers Verhalten liefern. Hoover, der ein Leben lang für die Sicherheit der USA kämpfte, bekennt sich im emotionalisierend gestalteten Happy-End zu sich selbst und erkennt in der Liebe das höchste Gut.

In Eastwoods letzter Regiearbeit gibt es keine Pfarrer, keine religiösen Symbole, nichts Religionskritisches. Das zuweilen widergesetzliche, eigenmächtige, der Selbstjustiz älterer Eastwood-Helden teilweise vergleichbare Verhalten Hoovers wird in diesem Film ambivalent gesehen. Der Schutz des Rechtsstaates USA ist ein hehres, positiv besetztes Ziel, aber die Mittel, die Hoover einsetzt, um dieses Ziel zu erreichen, und die ideologischen Motivationen, die sein Handeln leiten, beurteilt der Film eher negativ.

Zusammenfassung: Religionsäquivalentes in Clint Eastwoods Filmen

Das religionsäquivalente Angebot der Eastwood-Filme ist eine „Diesseitsreligion“[99]. In manchen Filmen wird dieses Angebot quasi implizit vergleichend beworben durch die explizite negative Darstellung christlicher Symbole, Traditionen oder von Repräsentanten institutionalisierter Formen des Christentums. Die angebotene Diesseitsreligion wirkt im Vergleich zur negativ und unglaubwürdig dargestellten jenseitsorientierten christlichen Religion positiv und plausibel. Die Diesseitsreligion in Clint Eastwoods Filmen beruht auf dem Glauben an die Welt des Faktischen. Die existentiellen Probleme des Menschen sind irdisch-existentielle Probleme, die nur irdisch-existentiell gelöst werden können. Etwaige Fragen nach einem Jenseits sind für die irdische (und einzige) Existenz des Menschen ohne Bedeutung; wirksame transzendente Lösungen kann es für diesseitige Probleme nicht geben. Das christliche Angebot der stellvertretenden Sühne widerspricht dem in den Eastwood-Filmen vorherrschenden Primat der Selbstverantwortlichkeit des Individuums. Jeder Mensch ist für das, was er tut, verantwortlich und muss auch die Konsequenzen seines Tuns selbst tragen. Wer schuldig wird, muss für die begangene Schuld selbst Sühne leisten. In der Art der Schuld gibt es in den Filmen Eastwoods eine Entwicklung: in den älteren Filmen ist die Schuld meistens eine äußerliche (Straf)Tat, die durch eine äußerliche (Sühne)Tat ausgeglichen werden muss. In den jüngeren Filmen, beginnend mit Erbarmungslos, ist die Schuld häufig keine äußerliche (Straf)Tat, sondern ein innerliches Gefühl. Parallel zu dieser Entwicklung von der externen zur internen Schuld verläuft die Entwicklung von eher handlungsorientierten zu eher figurenorientierten Filmen. Die von ihren Schuldgefühlen geplagten Figuren der jüngeren Eastwood-Filme zeigen nicht mehr in dem Maße individualistische Züge wie die Männerhelden der älteren Filme.[100] Frank Dunn in Million Dollar Baby und Walt Kowalski in Gran Torino gehen zwar ihren individuellen Weg und haben eine individuelle Lösung für ihr individuelles Problem, aber beide leben in mehr oder weniger funktionierenden sozialen Netzwerken und beide bedürfen für die Lösung ihres Problem der sozialen Beziehung. Josey Wales in Der Texaner oder Inspektor Callahan in den Dirty-Harry-Filmen sind dagegen pure Einzelkämpfer. Die ‚Helden’ der älteren Eastwood-Filme sind nicht an gesellschaftliche Normen gebunden; die Regeln für ihre Kämpfe legen sie selbst fest. Das klingt nach Willkür. Wäre es Willkür, dann wäre es wenig erfreulich, wenn solchen Filmen eine religionsäquivalente sinnstiftende Funktion zukäme. Aber Willkür gibt es in den Filmen Eastwoods selten, zumindest nicht vonseiten der Hauptfiguren, die dem Rezipienten als Identifikations- oder Empathieobjekte angeboten werden.[101] Des Kosmos der Eastwood-Filme ist mitnichten norm- oder wertefrei. Es sind nur eben nicht dieselben Normen und Werte wie im Christentum oder in einem modernen Rechtsstaat, was nicht wundert, da Eastwood in seinen Filmen kein positives Bild von Staat und Kirche zeigt. Ein hoher Wert im Eastwood-Kosmos ist Verantwortung, z. B. Verantwortung gegenüber dem Staat in J. Edgar, oder Verantwortung des Staates gegenüber seinen Bürgern in, oder, auch in Der fremde Sohn, Verantwortung gegenüber der eigenen Familie. Ein weiterer hoher Wert im Eastwood-Kosmos ist Gerechtigkeit, wobei die Gerechtigkeit schaffende Norm der Vergeltung aus Perspektive eines modernen Rechtstaates wenig modern ist. Aber historisch gesehen ist das ius talionis immerhin ein Fortschritt im Vergleich zu älteren Normen. Was erst in den letzen Regiearbeiten Eastwoods Eingang in seine Filme gefunden hat, ist die Erkenntnis, dass ein Auge auszustechen nicht unbedingt die beste Sühneleistung für ein ausgestochenes Auge ist. Obwohl auch in den neueren Filmen Eastwoods das ‚Wesen’ der Strafe dem ‚Wesen’ der Schuld entsprechen muss, zeigt sich mitunter, dass auch Liebe oder, wie in Invictus, Vergebung der Weg zur Versöhnung sein kann.

Anmerkungen

[1]    Bei Timecode (=TC) 00:23:45.

[2]    „Christlich-religiöse Symbolwelten spielen explizit nur dann eine Rolle, wenn zumindest auf eine entsprechende Sozialisation zurückgegriffen werden kann, die diese überhaupt noch als solche identifizieren kann“ (Jörg Herrmann/Kristin Merle/Jörg Metelmann: Popularreligion – Selbstauslegung im Prozess visueller Kommunikation.. Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse. In: Wilhelm Gräb/Jörg Herrmann/Kristin Merle/Jörg Metelmann/Christian Nottmeier: „Irgendwie fühl ich mich wie Frodo ...!“ Eine empirische Studie zum Phänomen Medienreligion. Frankfurt/Main 2006, S. 287-298, hier S. 289).

[3]    Ab TC 01:41:45.

[4]    Zur intermedialen Einzelreferenz siehe Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen/Basel 2002, 149-150. Zur Transmedialität siehe ebd., S. 12-13.

[5]    Kennzeichnend für die meisten Eastwood-Filme ist eine kritische Haltung gegenüber Institutionen. Dass sich diese Kritik auch gegen institutionalisierte Kirchenstrukturen wendet, zeigen die Analysen in diesem Aufsatz. Da nach Luckmann (Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt/M. 1991) die Institutionalisierung von Religion, z. B. in Gestalt von Kirchenstrukturen, eine Ursache für die Entwicklung der „unsichtbaren Religion“ ist, lässt sich das Kirchenkritische in Eastwoods Filme quasi als inhärente Erklärung für die potentielle religionsäquivalente Funktionalität dieser Filme deuten. Zur Kritik an staatlichen Institutionen vgl. Ursula Vossen: Der Individualist. Selbstjustiz, Todesstrafe und Sterbehilfe. In: Roman Mauer (Hg.): Clint Eastwood (Film-Konzepte 8). München 2007, S. 27-42, hier S. 36: „Der Individualismus in Eastwoods Filmen geht Hand in Hand mit einem grundlegenden Misstrauen gegen Establishment und Systeme, seien es Institutionen oder Behörden, Legislative, Exekutive oder Jurisdiktion. Damit stellt Eastwood in seinen Filmen letztlich die Säulen des modernen Staates in Frage.“

[6]    Wilhelm Gräb/Jörg Herrmann: Gelebte Medienreligion. In: Wilhelm Gräb/Jörg Herrmann/Kristin Merle/Jörg Metelmann/Christian Nottmeier: „Irgendwie fühl ich mich wie Frodo ...!“ Eine empirische Studie zum Phänomen Medienreligion. Frankfurt/Main 2006, S. 17-33, hier S. 19.

[7]    Jörg Herrmann: Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film. Gütersloh 2001, S. 93.

[8]    Zur ‚funktionalen’ und ‚substantiellen’ Definition von ‚Religion’ siehe: Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt/Main 1991, S. 77-78. Zu den ‚Funktionen’, deren heutzutage von Christentum und christlicher Kirche erwartet werden [und die aufgrund der ‚Substanz’ dieser Funktionen auch von Medien erfüllt werden können, wenn auch nur medial, also mittelbar], vgl. Wilhelm Gräb: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft. Gütersloh 2002, S. 43: „Es sind die lebenspraktischen Sinndimensionen des individuellen Geschicks, der persönlichen Identität und der sozialen Beziehungen, die Fragen von Krankheit und Sterben, Glück und Unglück, nach dem Guten und dem Bösen, die Fragen nach Selbstverwirklichung und Verantwortung für andere, in denen Antworten von Kirche und Christentum erwartet werden.“

[9]    Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt/M. 1991.

[10]   Zur ‚Medienreligion’ siehe: Hans Norbert Janowski (Hrsg.): Die kanalisierte Botschaft. Religion in den Medien – Medienreligion. Gütersloh 1987. Arno Schilson: Medienreligion. Zur religiösen Signatur der Gegenwart. Tübingen/Basel 1997. Wilhelm Gräb: Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft. Gütersloh 2002. Wilhelm Gräb/Jörg Herrmann/Kristin Merle/Jörg Metelmann/Christian Nottmeier: „Irgendwie fühl ich mich wie Frodo ...!“ Eine empirische Studie zum Phänomen Medienreligion. Frankfurt/Main 2006.

[11]   Wilhelm Gräb/Jörg Herrmann: Gelebte Medienreligion. Motive lebensgeschichtlicher Sinndeutung und die Konturen einer zeitgenössischen Medienreligion in Kinofilmen. In: Wilhelm Gräb/Jörg Herrmann/Kristin Merle/Jörg Metelmann/Christian Nottmeier: „Irgendwie fühl ich mich wie Frodo ...!“ Eine empirische Studie zum Phänomen Medienreligion. Frankfurt/Main 2006, S. 17-33, hier S. 18.

[12] Zur Unterscheidung von expliziten und impliziten Bezugnahmen vgl. Jörg Herrmann: Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film. Gütersloh 2001, S. 75: Zu unterscheiden ist „zwischen  Filmen, die religiöse Motive explizit aufgreifen und solchen, die inhaltliche und funktionale Korrespondenzen mit religiösen Fragestellungen aufweisen, ohne daß diese ausdrücklich benannt werden.“

[13]   Vgl. Marc Eliot: American Rebel. The Life of Clint Eastwood. New York 2009, S. 13.

[14]   Nach dem sog. ius talionis soll „ein Übergriff durch eine gleichartige Verletzung vergolten werden“ (Elisabeth Holzleithner: Gerechtigkeit. Wien 2009, S. 97). Dieses Prinzip, das seit alters her Verwendung fand und im Alten Testament als ‚Auge um Auge’ formuliert wird, entspricht nicht den ‚modernen’ Vorstellungen von Strafgerechtigkeit und den in ‚modernen’ Staaten geltenden Strafgesetzen. Deren Prinzipien sind nicht die von Rache und Vergeltung, sondern die der (General- und Spezial-)Prävention und der „Reintegration  in die Gesellschaft“ (ebd.). Zum Thema ‚Gerechtigkeit’ siehe auch Otfried Höffe: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. München 2001. Bernd Ladewig: Gerechtigkeitstheorien. Hamburg 2011. Felix Heidenreich: Theorien der Gerechtigkeit. Leverkusen-Opladen 2011.

[15] Thomas Luckmann: Die unsichtbare Religion. Frankfurt/M. 1991, S. 153. Zu den „vorherrschenden Themen“ in diesem „Heiligen Kosmos“ zählen für Luckmann „Autonomie“, „Selbstverwirklichung“, „Selbstdarstellung“, „Mobilitätsethos“,, „Sexualität“, „Familialismus“ (ebd., 153-156).

[16]   Herrmann, Merle und Metelmann kommen zu dem Ergebnis, dass die „gelebte Medienreligion“ der von Ihnen befragten Rezipienten von Spielfilmen (Der Herr der Ringe, Die Truman Show u. a.), „als eine ‚Diesseitsreligion’“ erscheint (Jörg Herrmann/Kristin Merle/Jörg Metelmann: Popularreligion – Selbstauslegung im Prozess visueller Kommunikation. Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse. In: Wilhelm Gräb/Jörg Herrmann/Kristin Merle/Jörg Metelmann/Christian Nottmeier: „Irgendwie fühl ich mich wie Frodo ...!“ Eine empirische Studie zum Phänomen Medienreligion. Frankfurt/Main 2006, S. 287-298, hier S. 289).

[17]   Im Anschluss an die Sühnetat findet Fletcher Josey Wales und verzichtet – zumindest für den Augenblick – auf dessen Bestrafung und weitere Verfolgung.

[18]   Die Taten der Hauptfigur werden durch den Heldenstatus der Hauptfigur mit einem anderen Gerechtigkeitsmaß gemessen als die Taten anderer Figuren.

[19] Auch am Beginn von Pale Rider (1985) und Erbarmungslos (1992) gibt es eine Begräbnisszene, in der ein Kreuz gezeigt wird.

[20]   Zu christlich-religiösen Inhalten und Symbolen in Pale Rider siehe auch: Bergesen, Albert J.: Pale Rider. In: Bergesen, Albert J. / Greeley, Andrew M.: God in the Movies. New Brunswick 2000, S. 71-78. Bergesen sieht in der Figur des namenlosen Pale Rider den von Gott gesandten Racheengel, der den Guten das Leben, den Bösen den Tod bringt. Dass der Pale Rider im Film aber auch Verhaltensweisen zeigt, die nicht dem Bild des biblisch-christlichen Racheengels entsprechen, ignoriert Bergesen. Der Pale Rider ist eine ambivalente Figur, die nicht nur Züge des Gottgesandten trägt, sondern die biblisch-christliche Tradition modifiziert und in der Modifikation in einem kritischen Licht erscheinen lässt. Eine unkritische Übernahme biblisch-christlicher Inhalte und Symbole gibt es in den Filmen Eastwoods nicht; Christentums- und Religionskritik gehören zu den für Eastwoods Filme typischen Elementen.

[21]   Etwa bei TC (= Time Code) 00:08.05.

[22]   Auf den Film Hereafter und dessen Verhältnis zur Transzendenz wird unten eingegangen.

[23]   Bergesen, Albert J.: Pale Rider. In: Bergesen, Albert J. / Greeley, Andrew M.: God in the Movies. New Brunswick 2000, S. 71-78, hier S. 73: „the stream of light from the heavens appearing right after Megan’s prayer for a miracle, seems to signify that God has heard and is somehow answering. That answer comes in the next image where we see, way off in the distance, a lone rider coming to us. [...] This Pale Rider may very welll be metaphoric for an avenging angel sent by God in response to Megan Wheeler’s prayers to save the righteous and smite the wicked.“

[24]   Etwa ab TC 00:19:17. Ein wichtiger Unterschied zwischen diesen beiden vergleichbaren Szenen besteht darin, dass in der Szene, in der Megan den Psalm 23 betet und ihren Wunsch auf ein Wunder ausspricht ein Sprung zu einem anderen Ort stattfindet. Der Pale Rider, zu dem umgeschnitten wird, befindet sich an einem anderen Ort, als dem, an dem sich Megan bei ihrem Gebet befindet. Die Distanz zwischen der Hoffnung auf ein Wunder und dem etwaigen Wundertäter ist hier noch groß. Als Megan in der Johannesoffenbarung liest, befindet sich der Pale Rider am selben Ort wie Megan, wenn auch noch außerhalb des Hauses, von dem aus ihn Megan sieht. Die Distanz zwischen ihr und dem etwaigen Wundertäter ist hier nur noch gering.

[25]   Vgl. Bergesen, Albert J.: Pale Rider. In: Bergesen, Albert J. / Greeley, Andrew M.: God in the Movies. New Brunswick 2000, S. 71-78, hier S. 74.

[26]   Eine Bezugnahme auf den Text der Johannesoffenbarung würde erklären, warum der Pale Rider namenlos bleibt und auch sich selbst nie namentlich bezeichnet: Er hat keinen Namen bzw. sein Name ist eine Zahl, die ihm auf dem Rücken steht. Auch das Tier 666 im Bibeltext nennt seinen Namen nicht. „Wer Verstand hat“, heißt es in Vers 18, „berechne die Zahl des Tieres“.

[27]   Dass der Text, auf den die Wundmale auf dem Rücken des Pale Rider möglicherweise Bezug nehmen, im Detail anders ist, wenn z. B. die Nummer im Bibeltext nicht 6 ist wie die Anzahl der Wunden auf dem Rücken des Pale Rider, sondern 666, das Malzeichen nicht ein Mensch trägt, wie im Film, sondern das Tier bzw. der Satan selbst, und das Malzeichen nicht wie im Film auf dem Rücken erscheint, sondern auf der rechten Hand oder der Stirn, stellt die Möglichkeit der Bezugnahme nicht grundsätzlich in Frage, da es in der Bezugnahme um die Aktivierung des ‚Allgemein’wissens, nicht des Detailwissens des Rezipienten bezüglich des biblischen Textes, auf den Bezug genommen wird, geht.

[28] Etwa bei TC 00:20:20. Bergeson, Albert J.: Pale Rider. In: Bergesen, Albert J. / Greeley, Andrew M.: God in the Movies. New Brunswick 2000, S. 71-78, hier 74: „He wears a clerical collar, though, and the miners call him ‚the preacher’. He is certainly meant to signify some religious figure, and given the quotation from Relevation, he would seem to be a metaphor for the Messiah, who has returned for the last judgement“.

[29]   Etwa bei TC 00:30:00.

[30]   Club wird vom Schauspieler Richard Kiel gespielt, der in den James-Bond-Filmen den ‚Beißer’ spielt.

[31]   Etwa bei TC 01:02:00.

[32]   Dass sich ein Repräsentant des Staates, Marshal Stockburn, von LaHood bestechen lässt, um eine Unrechtstat zu verüben, fällt unter die für die Filme Eastwoods typische Negativcharakterisierung staatlicher Institutionen und Personen.

[33] Für die ärmlichen Verhältnisse steht in dieser Szene die einfache Hütte links im Bild.

[34] Ein bemerkenswertes, diese Verbindung bestätigendes Detail sind die Naben, die die Prostituierte durch die ihr zugefügten Schnittwunden hat, und die ähnlich vermutlich auch Williams Munnys Frau aufgrund der Pocken, an denen sie starb, hatte.

[35]   Originaltitel: True Crime.

[36]   Ausgenommen das Gefühl, ein schlechter Vater und Ehemann zu sein.

[37]   Nach Otfried Höffe: Gerechtigkeit. Eine philosophische Einführung. München 20104, S. 46-49, gehören zur Verfahrensgerechtigkeit die „Unparteilichkeit“ und „Unbefangenheit“ der für das Verfahren Verantwortlichen, ein „verfahrensunabhängiger Maßstab für das Ergebnis und ein Verfahren, dieses Ergebnis mit annähernder Sicherheit zustande zu bringen“, sowie „die Fairness im Umgang [mit den] Beteiligten“.

[38]   Z. B. bei TC 00:28:10.

[39]   Die Aufdeckung der Falschinformation an die Presse etwa bei TC 01:39:15, der Heiligenschein etwa bei TC 01:40:20.

[40]   Der Gemeindepfarrer Beechums etwa bei TC 01:44:20.

[41]   Bevor Dave von Jimmy ermordet wird, fragt er Jimmy bezüglich des Tages, an dem er als Junge entführt wurde: „Wenn du in den Wagen gestiegen wärst und nicht ich?“ Jimmy antwortet darauf: „Aber ich bin nicht eingestiegen“ (etwa ab TC 01:53:20). Etwa bei TC 00:53:10 sagt Jimmy zu Sean: „Wenn man einen Mörder ins Gefängnis schickt, ist er dort, wo er schon sein ganzes erbärmliches Leben lang hin gehört“.

[42]   Daves Schicksal, leiden zu müssen, wird zu Beginn des Films (etwa ab TC 00:08:50) dadurch visualisiert, dass sein Name nur zur Hälfte im Beton des Gehsteigs verewigt ist, während die Namen seiner Freunde Jimmy und Sean vollständig zu lesen sind. Als Kinder schreiben sie ihre Namen in den noch weichen Beton und sagen dazu „auf immer“. Dann wird Dave entführt. Bis zu seinem Tod bleibt Dave, wie sein halber Name, ein nur zur Hälfte existierender Mensch. Am Ende des Films (etwa ab TC 02:07:20) werden noch einmal die in den Beton gekritzelten Namen Jimmy und Sean und der nur halbe Name 'Da’ für Dave gezeigt.

[43]   Etwa bei TC 01:59:50.

[44]   Am Ende des Films kommt es zumindest zu einer äußerlichen Annäherung zwischen Jimmy und seiner Frau Annabeth.

[45]   Schuldig ist Dave nicht am Tod von Katie, aber am Tod eines Mannes. Dave ermordet diesen Mann, da er in ihm einen Kindesmisshandler vermutet und in diesem Mann seine eigene Vergangenheit sieht.

[46]   Es gibt einen Hinweis darauf, dass Sean Jimmy möglicherweise doch noch juristisch belangen wird: Am Ende des Films (etwa bei TC 02:06:55) zielt Sean, der um Jimmys Mord an Dave weiß, mit dem Finger, wie mit einer Pistole auf Jimmy.

[47]   Jimmy sagt, dass er den Mörder seiner Tochter finden wird, bevor ihn die Polizei findet, und ihn dann tötet (etwa ab TC 01:03:20).

[48]   Etwa bei TC 00:05:16.

[49]   Etwa bei TC 00:06:30.

[50]   Etwa ab TC 01:39:00.

[51]   Dieses der Entführung parallel gestaltete Einsteigen Daves zu zwei Männern in einen Wagen ist ein Hinweis darauf, dass Dave sterben wird. Allerdings wird dieses Sterben nur den Tod seines Körpers zur Folge haben, seelisch war er bereits gestorben, als er von den Männern misshandelt wurde, zu denen er als Kind ins Auto stieg. Mit seiner Ermordung wird nur das Wenige noch ausgelöscht, das von seinem halben Namen ‚Da’ noch übrig war. Dazu passt, dass Jimmy, nachdem er Dave ermordet hat, auf Seans Frage, wann er Dave zum letzen Mal gesehen habe, antwortet, „vor fünfundzwanzig Jahren“ (etwa bei TC 01:58:50).

[52]   Etwa ab TC 02:02:05.

[53]   Etwa ab TC 2:02:38.

[54] Wenn Annabeth, nachdem sie quasi das Kreuz auf dem Rücken ihres Mannes rechtfertigt hat, Jimmy umarmt, ihn aufs Bett zieht und sagt: ‚Alle anderen sind schwach’, ‚wir nicht’, „ du könntest diese Stadt regieren“, dann legt dies die Vermutung nah, dass sie so spricht und handelt, um Jimmy stärker an sich und ihre gemeinsamen Kinder zu binden.

[55]   Eine solches für die Dramaturgie des Films wichtiges Element bezeichnet man als Backstorywound. Zur Backstorywound siehe Michaela Krützen: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt. Frankfurt am Main 2004, 25-62.

[56]   Maggie ist aber nicht nur stellvertretendes ‚Sühneobjekt’; so wie Maggie für Frank zur Ersatztochter wird, wird Frank für Maggie zum Ersatzvater. Durch Frank bekommt Maggie das, was sie von ihrer Familie gerne gehabt hätte, aber nie bekommt: Zuneigung und Anerkennung; und durch Maggie kann Frank die Liebe und Zuneigung schenken, die er seiner leiblichen Tochter nicht geben kann. Die Beziehung Frank-Maggie ist eine ‚win-win-Beziehung’.

[57]   Aus juristischer Perspektive stellen auch die Sühnetaten Unrechtstaten dar, das sie nicht institutionell legalisiert sind.

[58]   Unausgesprochen bleibt in Million Dollar Baby worin Frank Dunns Fehlverhalten seiner Tochter gegenüber besteht; gezeigt wird nur das Resultat dieses Fehlverhaltens: die Tochter beantwortet die Briefe ihres Vaters nicht.

[59]   Etwa bei TC 00:04:40.

[60] Diese seelische Wunde Franks, seine Beziehungslosigkeit zu seiner Tochter, verheilt trotz Franks Bemühungen bis zum Ende des Films nicht. Als eine Art Trostpflaster kann er dafür eine funktionierende und liebevolle Vater-Tochter-Beziehung zu Maggie aufbauen.

[61]   Der Seelsorger interpretiert Franks Verhalten weniger als Hilfe suchend, denn als Provokation.

[62]   Etwa bei TC 01:51:46. Bereits bei TC 01:36:20 erhofft sich Frank vergeblich in der Kirche Hilfe; Frank ist in dieser Szene allein, der Priester ist nicht anwesend.

[63]   Der Priester sagt zum weinenden Frank: „Sie halten sich raus, Frankie, und überlassen sie [= Maggie] Gott. Frank entgegnet: „Sie hat ja nicht um Gottes Hilfe gebeten, sondern um meine.“ [...] Der Priester: „Ein Mensch, der so oft in die Kirche kommt, ist jemand, der sich selbst irgendetwas nicht vergeben kann. Was immer das auch für Sünden sein mögen, im Vergleich hierzu sind sie nichts. Vergessen Sie mal Gott oder Himmel oder Hölle. Wenn Sie das tun, sind Sie verloren. In so furchtbaren Tiefen, dass Sie sich selbst nie wieder finden.“ Frank weinend: „Ich glaub, das bin ich schon.“ Der Priester legt seine Hand kurz auf Franks Knie und geht weg, lässt Frank mit seinem Problem allein.

[64]   Etwa ab TC 02:02:14.

[65]   Der Originaltitel Changeling beschreibt die Verwechslung des Sohnes Walter der Hauptfigur Christine Collins. Christine wird von der Polizei, die nicht in der Lage ist und auch kein Interesse daran hat, Christines richtigen Sohn zu finden, ein anderer Junge als Sohn übergeben. Die Polizei beharrt darauf, dass der ‚Ersatzsohn’ Christines Sohn Walter ist, und dass Christine, wenn sie dies anders sieht, Unrecht hat. Laut Vorspanntext handelt es um eine wahre Geschichte, die im Jahr 1928 spielt.

[66]   Etwa bei TC 02:02:34.

[67]   Dass Christine gerechter als andere handelt, spricht der für seine Kindesentführungen und –ermordungen verurteilte Gordon vor Gericht fest. Er sagt, dass er vom Gericht keine gerechte Chance erhalten habe, und auf Christine zeigend: „Sie ist die einzige, die mich nicht vor der Presse schlecht gemacht hat, die einzige, die weiß, wie es ist, wenn die Polizei einem etwas anhängt, was man nicht getan hat“ (etwa bei TC 01:48:45).

[68]   Etwa bei TC 00:05:00.

[69]   Etwa bei TC 01:45:20.

[70]   Etwa bei TC 01:56:50. Dass es in Der fremde Sohn zwei Pfarrerfiguren gibt, den quasi staatlich sanktionierten, negativ charakterisierten Gefängnispfarrer, der bei Gordons Hinrichtung diesem Sündenvergebung zunickt, und den positiv besetzten, der nicht ‚offiziellen’ Amtskirche angehörenden Presbyterianerpfarrer Briegleb, ähnelt dem Film Ein wahres Verbrechen, indem es ebenfalls zwei Pfarrerfiguren gibt, von denen der ‚offizielle’ Pfarrer negativ, der ‚freikirchliche’ Pfarrer positiv charakterisiert wird.

[71]   Einschränkend muss jedoch gesagt werden, dass Gordon als gestörte Persönlichkeit charakterisiert wird, der in allem, was er tut, nicht voll zurechnungsfähig ist. So kann auch das, was er über seine Sündenvergebung sagt, und das Singen von ‚Stille Nacht’ nicht ganz ernst genommen werden.

[72]   Etwa bei TC 00:18:39 fragt Walt den Priester Janovich: „Was zum Teufel wissen Sie über Leben und Tod?“ Der Priester antwortet: „Ich würde sagen, ‚ne ganze Menge. Ich bin Priester.“ Walt: „Ja, Sie halten Predigten über Leben und Tod, aber das wissen Sie nur von Ihrer Priesterschule, aus dem Handbuch für Predigergrünschnäbel.“

[73]   Über den Eastwood-Film Hereafter von 2010 wurde geschrieben (z. B. von Harald Steinwender: Der neueste Wurf von Clint Eastwood. In: www.ard.de/kulur/film-theater/herafter, abgerufen am 31.01.2011), dass er sich auch deswegen mit dem Sterben und dem Leben nach dem Tod beschäftige, weil dies Themen seien, die einen Menschen im Alter und damit auch den 1930 geborenen Eastwood beschäftigten. Die Themen Sterben und Tod sind allerdings auch schon in Gran Torino, insbesondere durch die Rahmung mit zwei Begräbnisgottesdiensten und die Gespräche zwischen Walt und dem Priester über das Leben und den Tod sehr präsent. Der Filmtod Walts ist darüber hinaus das Ende der Arbeit Eastwoods als Schauspieler. Eastwood sprach davon, dass Walt seine letzte Rolle als Schauspieler sei.

[74]   Der Priester wird in diesem Film möglicherweise aus Rücksicht auf seine Jugend, seine Erfahrungsarmut und seine Bereitschaft zu lernen positiv charakterisiert. In diesen Charaktereigenschaften ist der Priester der Hauptfigur Thao ähnlich; auch er ist jung hat wenig Erfahrung und ist lernwillig.

[75]   Es geht dabei um eine Erlösung des Menschen vor Gott und von seiner als Last empfundenen Schuld. Die strafrechtliche Verfolgung von Vergehen bleibt davon unberührt.

[76]   Walt erzählt dies Thao etwa ab TC 01:36:10.

[77]   Da Walts Schuld darin besteht, dass er im Koreakrieg einen asiatischen Jungen (, der sich gerade ergeben wollte,) erschossen hat, muss es, entsprechend der für Eastwood-Filme charakteristischen Gleichartigkeit von Schuldtat und Sühnetat, auch ein asiatischer Junge (oder Mensch) sein – der asiatische Thao und seine Schwester Sue –, an dem er (stellvertretend für den erschossenen Jungen) seine Schuld wieder gut machen kann.

[78]   Etwa bei TC 00:19:26 sagt Walt zu Priester Janovich über das, was er im Koreakrieg getan hat: „Bis zu meinem Tod werde ich mich daran erinnern“.

[79]   Walt erzählt dies Thao etwa ab TC 01:36:10. Der Orden ist zu sehen etwa bei TC 00:03:52.

[80]   Etwa ab TC 00:20:11.

[81]   Originaltitel: Invictus.

[82]   Etwa bei TC 00:02:56.

[83]   Etwa bei TC 00:13:25.

[84]   Etwa bei TC 01:07:45.

[85]   Etwa bei TC 02:01:10.

[86]   Keine Fixierung auf einen bestimmten, z. B. christlichen Gott oder die christliche Lehre.

[87]   Hier handelt es sich möglicherweise um eine Anspielung auf das evangelische, von Paul Gerhardt gedichtete Kirchenlied ‚O Haupt voll Blut und Wunden’.

[88]   Bei TC 01:16:14.

[89]   In einem Fernsehinterview sagt Mandela: „Wenn ich nicht in der Lage bin, mich zu ändern, sofern die Umstände es erfordern, wie kann ich das dann von anderen erwarten“ (bei TC 01:04:50).

[90]   Z. B. dass Mandela den Kapitän der Rugby-Mannschaft Francois, als er diesen im Präsidentenpalast empfängt, bedient, ihm dabei auch Tee einschenkt, lässt sich durchaus als Analogie zu Jesu Handeln an seinen Jüngern, wenn er ihnen im Johannesevangelium (Joh. 13, 1-19) die Füße wäscht, interpretieren.

[91]   Originaltitel: Hereafter.

[92]   Etwa bei TC 00:12:50.

[93]   Etwa ab TC 01:47:00.

[94]   Etwa ab TC 01:57:05.

[95]   Für die Fähigkeit Georges liefert die Film keine übersinnliche, sondern eine wissenschaftliche Erklärung (etwa ab TC 00:57:10).

[96]   Etwa bei TC 01:50:56.

[97]   Etwa ab TC 00:40:09.

[98]   Wie der Gefängnispfarrer in Ein wahres Verbrechen ist er ein offiziell bestellter Pfarrer, Repräsentant der Institution Kirche.

[99]   Zum Begriff ‚Diesseitsreligion’ s. o., Anm. 16.

[100] Zum Individualismus in den Filmen Eastwoods s. o., Anm. 5.

[101] Vonseiten der Repräsentanten staatlicher Institutionen kann es in Eastwood-Filmen durchaus Willkür geben, da staatliche Institutionen und deren Repräsentanten in Eastwood-Filmen in der Regel negativ charakterisiert werden.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/85/hawe1.htm
© Harald Weiß, 2013