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„Die Kindheit Jesu“Eine Literaturlesung von J.M. CoetzeeHans-Jürgen Benedict
Über 10 Jahre hatte sich das große Berliner Internationale Literaturfestival bemüht, den öffentlichkeitsscheuen Literaturnobelpreisträger J. M. Coetzee nach Berlin zu holen. Jetzt endlich klappte es. Der 73 jährige aus Südafrika stammende, jetzt in Australien lebende Coetzee las am 9. September vor 600 Zuhörern aus seinem neuen Roman The Childhood of Jesus. Kein Frage- und Antwort-Spiel zwischen Autor und Moderator vorweg oder hinterher. Nein, ganz Konzentration auf das Werk. Nach einer kurzen Einführung trat Coetzee auf, begrüßte das Publikum knapp auf Deutsch, dankte Reinhild Böhnke, dass sie seinen Roman „übergesetzt“ habe (er erscheint zur Frankfurter Buchmesse) und las dann den ersten Abschnitt englisch und im Wechsel mit dem Schauspieler Frank Arnold weitere drei Passagen aus dem Roman. Der Titel Die Kindheit Jesu ist ein wenig irreführend. Zwar gibt es eine Reihe von Anspielungen auf die Jesusgeschichte, besonders auf die apokryphen Kindheitserzählungen. Doch der Roman ist eine lakonisch erzählte hintergründige Parabel über Emigration, Ankunft, Erinnerung und das wahre Leben. Ein Mann namens Simon kommt, nachdem er das Durchgangslager Belstar passiert hat, in eine Stadt namens Novilla, in ein Land, in dem Spanisch gesprochen wird und eine Art von Sozialismus herrscht. Es dominiert harte körperliche Arbeit ohne viel Technik, Brot ist das vorherrschende Nahrungsmittel, Geld spielt keine große Rolle, desgleichen Begehren und Sexualität (wohl aber bei Simon, der sich schwer daran gewöhnen kann). Es erinnert so ein wenig an den Urkommunismus der Jerusalemer Urgemeinde (sie brachen täglich das Brot und hatten alles gemeinsam) und den Asketismus der frühen Christenheit. Bei sich hat Simon einen fünfjährigen Jungen, David, dessen Mutter verlorengegangen ist, desgleichen der Brief, der von ihr berichtet. Simon, der sich als Schauermann verdingt, sucht diese Mutter, die er nicht kennt, trifft auf die in einer Luxus-Residencia lebende und Tennis spielende Ines, die er kurzerhand zu Davids Mutter erklärt. Sie akzeptiert diese irrationale Wahl, zieht mit dem Jungen in ein Armenviertel und verteidigt seine Eigenarten wie eine Löwenmutter. David, hochbegabt, er lernt Schach in einem Tag und schlägt alle, stellt dauernd Fragen, die unser In der Welt Sein betreffen. Was sind natürliche Bedürfnisse? Warum ist Inzest verboten? Was sind Zahlen? (Inseln in der großen schwarzen See des Nichts). Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wer ist Gott? In dieser Hinsicht ist er so etwas wie ein kleiner Messias, der die Schriftgelehrten mit seiner Direktheit verwirrt. Weil er in der Schule Schwierigkeiten macht, sich dem Lesen lernen und Addieren verweigert, zugleich die Mitschüler fasziniert, steckt ihn der Staat in eine Besserungsanstalt, aus der aber entkommt. Eine zweite Einweisung wissen Simon und Ines zu verhindern. Am Ende steht der anderen Heiligen Familie ein neuer Aufbruch (vergleichbar der Flucht nach Ägypten) in den Norden bevor, von David lustvoll als ‚Zigeuner werden‘ mitgemacht. “Wo können wir bleiben, um unser neues Leben anzufangen“, lautet der letzte kursiv gesetzte Satz. Davids Gespräche mit Simon, die Simons mit den anderen Bewohnern Novillas, mit seinen Arbeitskollegen im Hafen, mit den an Sexualität uninteressierten Frauen, kreisen immer wieder um die Frage, warum wir hier sind, ob eine so einfache Welt wie die Novillas vielleicht doch die beste aller Welten sein kann. So betreibt der Roman wie sein Vorbild, der Don Quixote von Cervantes, den der kleine David liest und über den er mit Simon immer wieder spricht, ein Spiel um Schein und Sein. Das Erstaunliche ist nun, dass Coetzees einfache klare Prosa, sie hat wenig Glanz, trotzdem einen fast magischen Sog entwickelt, dem man sich nicht entziehen kann. Er hangelt sich bei geringer Handlungsdichte von Frage zu Frage, wickelt uns so in seine philosophisch-narrative Grundlagenforschung ein. Platons Ideenlehre steht im Hintergrund, die spätantike Gnosis mit ihrer Weltfremdheit, die hier gewissermaßen umgekehrt wird. Als Leser kommen wir uns zunehmend vor wie Eltern oder Großeltern, die nach einem Leben in Luxus und Verschwendung ihren Kindern und Enkeln unter Anleitung Coetzees noch einmal die elementaren Frage beantworten müssen, ob wir nicht auch anders und einfacher hätten leben können. So wie es die ersten Christen taten, die ihr altes Leben hinter sich ließen und doch wie Simon nicht ganz davon lassen konnten, man denke an die Konflikte des Apostels Paulus mit der Gemeinde in Korinth. Nicht von ungefähr zitiert Coetzee einmal Psalm 8: „Aus dem Mund der jungen Kinder und Säuglinge hast du dir eine Macht zubereitet.“ Sicher, der Autor Coetzee, der sich schon in Elizabeth Costello und dem Tagebuch eines schlechten Jahres zum Philosophen entwickelt hatte, ist in diesem Roman als der ständig mit allen im sokratischen Dialog befindliche Simon eher die zentrale Figur. Eine Figur, die sich an der Querköpfigkeit des Jungen und der sympathischen Beschränktheit der Zeitgenossen in Novillas immer wieder abarbeiten muss. Es sind wahre Perlen von Nachdenklichkeit und schlichter Wahrheitsfindung in diesen Gesprächen zu entdecken. Ein merkwürdig faszinierender Roman! Nach der Lesung in Berlin signierte Coetzee eine Stunde lang geduldig seine Bücher. Man konnte ihn sogar in kleine Gespräche verwickeln. Ich sagte ihm, wie sehr die deutsche Literaturtheologie seine Romane, besonders Schande schätzt und dass ich gespannt auf den Jesus-Subtext seines Romans sei. I hope you will enjoy it, antwortete er, lächelte und signierte sein neues Buch. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/85/hjb22.htm
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