Tolerant

Eine christliche Tugend?

Hans-Jürgen Benedict

Wuppertal 18.3.2014

Wir haben zwar genug Religion einander zu hassen, aber nicht genug Religion einander zu lieben, hat Jonathan Swift einmal treffend bemerkt. Wieso sind Religionen, die die Liebe und Barmherzigkeit predigen, so oft intolerant?

Tolerant – eine christliche Tugend? Ja, Fragezeichen in der Tat. Denn als Christ stecke ich in einer Falle. Denn einmal abgesehen von der Sorge um das ewige Heil der Menschen, die als Grund der Intoleranz der Kirche lange sogar aus der Liebe abgeleitet wurde (etwa bei Thomas von Aquin) - kann ich, wenn ich voll und ganz von der Wahrheit meines Glaubens überzeugt bin, tolerant gegenüber anderen Glaubenshaltungen sein, mehr noch: ihnen mit Respekt begegnen? Auch das Christentum hat Teil an einer menschlichen Eigenart nämlich der Neigung, nicht nur eigene Überzeugungen zu haben sondern sie dem anderen aufzuzwingen. Wir merken das in kontroversen Diskussionen, in jeder Talkshow, wo es fast allen Diskutanten schon schwerfällt, den anderen ausreden zu lassen. Hat das Christentum diese anthropologische Neigung zur Selbstbehauptung durchbrochen oder sie im Gegenteil verstärkt, weil es sie mit dem Konzept der Liebe verbunden hat. Denken sie an die Gestalt der frommen Darja in Lessings Nathan der Weise, die Nathans Tochter Recha fürs Christentum gewinnen möchte: „Ach! die arme Frau, ich sag’s dir ja (so Recha zu Sittah) - ist eine Christin - muß aus Liebe quälen, ist eine von den Schwärmerinnen, die den allgemeinen, einzig wahren Weg nach Gott zu wähnen wissen.“ Kann ich also das Festhalten des anderen an seinen Überzeugungen als einen freien Akt einer Person sehen, der Respekt verdient? Und weiter: Wie verhalte ich mich in einer von ihrer Entstehung her christlich geprägten, aber faktisch multireligiösen Gesellschaft? Reicht es, wenn ich die anderen Glaubensgemeinschaften dulde? Sollte ich mit Lessings Ringparabel und Küngs Weltethos unterm Arm nach Gemeinsamkeiten suchen? Oder muss ich ihnen auch Anerkennung entgegenbringen, selbst wenn ich manche ihre rituellen Ausdrucksformen kritisch sehe? Schließlich auch die Frage (die Paul Ricoeur gestellt hat): gibt es nach Überwindung von Intoleranz nicht doch das Nicht-Tolerierbare, etwas was nicht in den „konfliktgeladenen Konsens einer Gemeinschaft“ aufgenommen werden kann – also Formen des Rassismus, des Antisemitismus, der sexuellen Gewalt gegenüber Schutzbefohlenen, der pornographischen Ausbeutung von Kindern, aber auch der Verletzung der Privatsphäre?

1. Von der Duldung zur Anerkennung – Formen der Toleranz

Zunächst ein paar Anmerkungen über den Toleranzbegriff, den ich zugrundelege.

Über Toleranz wird viel gestritten. Ist sie wirklich als eine Tugend zu empfehlen? Eine Tugend ist ja etwas, was einen Menschen auszeichnet! Ist es eine Auszeichnung, wenn ich jemanden als vorbildlich toleranten Menschen bezeichne? Würde es einen Christen schmücken, wenn ich ihm das Epitheton tolerant zulege? Ja und nein. Fragwürdig ist Toleranz als bloße Erlaubnis, als herablassende Geste von solchen, die andere zwar dulden, aber nicht achten. Goethe sagt in den „Maximen und Reflexionen“, Toleranz „sollte eigentlich bloß eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.“ (Goethe, HA Bd XII, 385) Friedrich des Großen vielzitierte Formel, dass in seinem Staat jeder nach seiner Facon selig werden kann, gehört hierhin.

a) Fragwürdig ist Toleranz zweitens als eine zu schwache Form der Anerkennung, die nur eine brüchige, jederzeit aufkündbare Koexistenz hervorbringt. Eine pragmatische Toleranz, die um des lieben Friedens willen von ungefähr gleich starken Gruppen eingegangen wird. Der Augsburger Religionsfrieden kann als ein Beispiel für ein solches Toleranzverständnis gelten. Wenn eine Gruppe sich stark genug fühlt, die andere zu besiegen, kündigt sie diese Toleranz auf. Die Existenz jüdischer Minderheiten in christlichen Mehrheitsgesellschaften in Osteuropa war jahrhundertelang von dieser jederzeit aufkündbaren Toleranz bestimmt, die sich im Fall der Kündigung stets in Pogromen entlud. Manche der heutigen Religionskonflikte in Afrika und Asien zwischen Christen, Moslems und Hindus entstehen aus dieser Haltung.

b) Fragwürdig ist Toleranz auch als eine letztlich unterdrückerische soziale Praxis bei formeller Gleichheit, die Unterschiede neutralisiert und der Beherrschung von Minderheiten dient. Deswegen hat Herbert Marcuse eine Toleranz, die sich gegenüber Zuständen der Unterdrückung neutral verhält, als „repressive Toleranz“ bezeichnet. Er meinte damit besonders das Verhalten in spätkapitalistische Konsumgesellschaften, die alles erlauben, ohne das in ihnen angelegte Unrecht zu thematisieren. Die von vielen Deutschen vertretene Position, Ausländer hätten sich gefälligst zu integrieren und deutschen Werten anzupassen, ist eine andere Form repressiver Toleranz. Die häufig beschworene jüdisch-christliche Wertegemeinschaft, in die sich die Migranten einordnen sollen, ist nicht wirklich tolerant, sondern setzt auf indirekten Zwang.

Der Politologe Ulrich K. Preuß hat in einem Artikel der Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2010 gezeigt, wohin die Rede von Wertegemeinschaft und Leitkultur führt. Sie macht die Rechtsgleichheit der Bürger abhängig von ihrer kulturellen Zugehörigkeit. Zuerst beschwören die Politiker eine Wertegemeinschaft, die religiös und kulturell so definiert wird, so dass Andersgläubige darin keinen Platz finden. In einem zweiten Schritt wird die homogene Wertegemeinschaft dann solange mit den bürgerlichen Grundrechten zu einer Einheit verschmolzen, bis der elementare Unterschied zwischen Verfassungsnormen und kulturellen Werten unkenntlich wird. Und auf einmal sind die Moslems davon ausgeschlossen, weil sie eben nicht unsere Werte vertreten. „Ein Verfassungsstaat, der rund 20 % seiner Staatsbürger gleiche staatsbürgerliche Rechte nur unter der Bedingung gewähren würde, dass sie sich unauffällig integrieren, der verletzt seine eigenen normativen Grundlagen, die ihn dazu verpflichten, das individuelle Recht auf Verschiedenheit und deren sichtbare Äußerung anzuerkennen.“ Auf des Alt-Bundespräsidenten Wulff Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, am 3.Oktober 2011 reagierte Seehofer am 10.10.2011 im Focus mit der Forderung eines Zuzugsstopp für Muslime, denn: „es ist doch klar, dass die Zuwanderer aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun, weil sie nicht in unseren jüdisch-christlichen Kulturkreis passen.“ Die Rede von der jüdisch-christlichen Wertegemeinschaft ist ein Versuch, das Grundgesetz nachträglich christlich zu taufen.

c) Akzeptabel ist Toleranz hingegen als ein Ausdruck wechselseitigen Respekts von Menschen, die sich bei allen Unterschieden als Gleiche achten. Ich verstehe also Toleranz als eine Beziehung zwischen Gleichberechtigten bei wechselseitiger Anerkennung unterschiedlicher Überzeugungen und kultureller Praktiken. Sie ist ein Aushalten von Unterschieden, das auf Selbstvertrauen und Charakterstärke basiert. Etwas, was relativ spät in der Menschheitsgeschichte auftritt und was immer wieder gefährdet ist. Sie ist in dieser Form des Respekts das, was Demokratien lebensfähig macht. „Die Toleranz ist eine hohe Kunst, setzt sie doch voraus, dasjenige zu dulden, mit dem man nicht übereinstimmt. Keine Gesellschaft hat diesen Lernprozess der Ausbalancierung von Gleichheit und Differenz je abgeschlossen“, sagt einer der führenden Toleranzkenner, der Frankfurter Philosoph Rainer Forst (zit. von W. Thierse, Die Zeit 2/2014). Etwa wenn wirtschaftliche Schwierigkeiten die Suche nach Sündenböcken provozieren und zu einem Erstarken rechter fremdenfeindlicher Strömungen führen(man denke an le Pen in Frankreich oder die Rechten um Wilders in den Niederlanden). In seiner Langzeitstudie Deutsche Zustände hat der Bielefelder Soziologe Wilhelm Heitmeyer solche Tendenzen unter dem Begriff „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ zusammengefasst. Toleranzbereitschaft, so Heitmeyer, nimmt ab angesichts von Ausgrenzungserfahrungen und ökonomischer Unsicherheit.

d) Über den Respekt geht Toleranz als Wertschätzung des anderen noch hinaus – in ihr wird die Andersartigkeit des anderen positiv bewertet, ohne selbst anders sein zu wollen. Man könnte sagen, diese Wertschätzung kann aus dem Respekt entstehen. In der Situation eines herrschaftsfreien Diskurses, etwa in einer Langen Nacht der Weltreligionen oder in einem Seminar über Jesus in den Evangelien und im Koran kann die unterschiedliche Vielfalt als Reichtum entdeckt und gewürdigt werden.

Es wäre schön, wenn die verschiedenen Religionen in unserem Land sich in diesem Respekt und wechselseitiger Wertschätzung begegnen könnten. Einfach ist das nicht. Vor 14 Tagen habe ich in einer Morgenandachtsreihe im NDR eine Andacht über Jesus im Koran gehalten. Ich wies auf Jesu Geburtsgeschichte in Sure 19 hin, auf die Mutter und Kind nährende Dattelpalme, die aus dem Koran über das Pseudo-Matthäus-Evangelium Eingang in die abendländische Kunst fand(auf Bildern von der Flucht nach Ägypten), auf Jesu Eintreten für seine Mutter Maria und auf seine Selbstvorstellung, in der er sagt, er sei kein elender Gewaltmensch. Welch eine schöne Übereinstimmung zwischen Christentum und Islam, sagte ich. Wie gut, dass es ein gemeinsames gewaltfreies Erbe gibt, vermittelt über die Gestalt Jesu. Das war für einige Zuhörerinnen zu viel, ich bekam empörte Briefe – ich hätte Jesu Gottessohnschaft nicht genügend gewürdigt und versäumt zu sagen, dass es Rettung nur in Christus gibt. Erklärungen meinerseits, warum ich in einer kurzen Andacht lieber mal die Gemeinsamkeit herausstellen wollte, fruchteten nichts. Immerhin kann ich jetzt versichert sein, dass der Pastor und Professor im Ruhestand Benedict jetzt in das Gebet frommer Christinnen eingeschlossen wird, damit er wieder auf den rechten Pfad des Glaubens zurückkehre.

Auch die monotheistischen Religionen stellen trotz ihrer absoluten Wahrheitsansprüche Gründe für Toleranz bereit - so die Annahme einer allen religiösen Unterschieden vorausliegenden Einheit der Schöpfung,(darauf gehe ich noch ein). Zur Toleranz motiviert auch die unbedingt zu achtende Würde des Menschen als Ebenbild Gottes. Toleranz wäre auch eine Konsequenz des allen Religionen gemeinsamen Gebots der Nächstenliebe, das zur Duldung des Nächsten, ja des Fremden und Fernsten aufruft. Oder die Hypothese einer allen Religionen zugrundeliegenden Vernunftreligion, die zuerst Lessing und die Aufklärer postulierten.

2. Ausschließlichkeit und Leidensbereitschaft im Gottesglauben – von Mose bis Paulus

Ein Pfarrer und ein Rabbi diskutieren über eine Annäherung der Religionen. Das ist doch nicht so schwierig, sagt der Pfarrer. Jeder lässt von seinem Glauben etwas weg und dann kommen wir schon auf einen gemeinsamen Nenner. Nun, sagt der Rabbi, ihr habt es gut mit eurer Trinitätslehre. Aber was sollen wir weglassen, wir haben doch nur den Einzigen!

Wir kommen aus einer Tradition des Absolutheitsanspruchs und damit der Intoleranz, die vielleicht nötig war, um die Ausbreitung des Christentums durchzusetzen, die aber immer auch missbraucht werden konnte und auch missbraucht wurde. Wie ist dieser Absolutheitsanspruch entstanden?

Der christliche Absolutheitsanspruch hat einen Vorläufer im jüdischen Monotheismus. „Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine andern Götter haben neben mir.“ Wir haben im Studium gelernt, dass dieser exklusive Anspruch der bildlosen Verehrung des einen Gottes sich erst allmählich herausgebildet hat. Lange Zeit wurde zwar die Verehrung des eigenen Gottes gefordert, die Existenz anderer Götter aber nicht bestritten. Monolatrie also. Die Verneinung der anderen Götter geschah erst bei Propheten, die sich über die Götzen der anderen Völker lustig machten, Jeremia sprach von Kackgöttern. Dazu parallel lief die unter Strafandrohung durchgesetzte Kultuszentralisation der Reform des Josia. Die Verehrung fremder Götter wurde absolut nicht gestattet, vielmehr: „Du sollst ihre Altäre umstürzen und ihre Steinmale vernichten“ (Ex,34,13), ja: „Du sollst das Böse ausrotten aus deiner Mitte.“(Dt 13,6)

Es war der Ägyptologe Jan Assmann, Schwiegersohn von G. Bornkamm, der in seinem Buch Moses der Ägypter vor 15 Jahren auf die verhängnisvolle „mosaische Unterscheidung“ von wahr und falsch in Religionsdingen aufmerksam machte und die damit verbundene Gewalt und Aggressivität als religionsgeschichtliche Novität(die es vorher schon bei dem Pharao Echnaton gab) dem Judentum in die Schuhe schob. Aus seiner Sicht hat sich der Monotheismus „in der Darstellung der atl. Texte in Form von Massakern durchgesetzt.“ Der mosaischen Unterscheidung stellte Assmann das kosmopolitisch begründeten Gottesverständnis in der hellenistischen Antike gegenüber Plutarch sagte: "Da alle Menschen in derselben Welt leben, verehren sie dieselben Götter.“ Der altägypisch beeinflusste Kosmotheismus war gewissermaßen eine ökumenische Religion der Antike, die nach Assmann auf Ausgleich und Toleranz abzielte. Die Vergleichbarkeit und Anerkennung der Götter der anderen war eine frühe Kulturleistung und ermöglichte Austausch, Handel und Wandel. (In der Vernunftreligion der Aufklärung und im Pantheismus der deutschen Klassik und Romantik tauchte dieser antike Kosmotheismus des Gott ist Ein und Alles dann wieder auf. Die „Weisheit der Ägypter“, in der Moses nach Apg 7,22 erzogen worden war, war immer ein Subtext der europäischen Geistesgeschichte geblieben. Hen kai pan schrieb Lessing auf die Tapete in Gleims Freundschaftstempel in Halberstadt, Beethoven hatte eine hen kai pan-Formel auf seinem Schreibtisch liegen)

Weil er zu Recht viel Kritik für diese These vom Zusammenhang zwischen jüdischem Monotheismus und Gewalt bekam, akzentuierte Assmann noch einmal, dass das Judentum eine Religion der Selbstausschließung war. Es habe Gewalt nicht nach außen angewendet. Mit dem Absolutheitsanspruch des eigenen Glaubens war keine Missionierung verbunden. Dies geschah erst in den den jüdischen Monotheismus beerbenden Religionen Christentum und Islam. Aber auch ob Gewalt nach innen so grausam praktiziert wurde, wie sie in den biblischen Geschichten geschildert wird, ist nicht sicher. Vieles scheint Drohsymbolik und appellative Predigt zu sein. Jedenfalls hat sich die Jahwe allein-Verehrung als Konzept einer Minderheit gegen die polytheistischen Konzepte der Mehrheit (wie archäologische Befunde belegen, die weibliche Gottheiten neben Jahwe zu Tage förderte, sogar eine Frau Jahwes) sukzessive durchgesetzt. Die biblisch- mahnenden Texte etwa im Deuteronomium müssen als Stadien in diesem Prozess gelesen werden. Die nachexilischen Auseinandersetzungen werden in die Mosezeit rückprojiziert. Ein schreckliches Beispiel einer fatalen Wirkungsgeschichte ist die Erzählung von der ersten revolutionären Säuberung der Geschichte in Ex 32,als Mose mit dem Ruf an die Leviten „Her zu mir, wer dem Herrn gehört“ eine Strafaktion gegen die 3000 Götzenanbeter durchführt, leninistische Politik des Terrors bei Mose, die erste revolutionäre Säuberung der Geschichte, durchgeführt von einer Avantgarde. Ein Volk, im ägyptischen Religionsgebräuchen erzogen (dazu gehörte die Verehrung des Apis-Stieres) fällt in altes vorrevolutionären Verhalten zurück und muss vom Anführer eine blutige Lektion erteilt bekommen. Augustin, Calvin und Cromwell haben sich auf diese Stelle bezogen.

Also das Judentum ist intolerant in der Frage des Gottesglaubens, der eigene Gott ist der einzige und wahre. Dieser Glaube aber wird nach außen nicht mit Gewalt durchgesetzt, sondern er wird bezeugt durch entsprechendes vorbildliches ethisches Verhalten. Der Glaube an den einen barmherzigen Gott beinhaltet neben der Nächstenliebe zu den Volksgenossen, dass die Fremden nicht unterdrückt werden sondern in das Zusammenleben aufgenommen werden. Der Monotheismus Israels ist sozial konnotiert. Und er ist selbstkritisch. Das ohnmächtige zwischen den Großmächten zerriebene kleine Israel unternimmt in einer waghalsigen Neuinterpretation seines Glaubens eine Kehrtwende – aus dem kleinen Stammesgott, der Israel in heiligen Kriegen verteidigte, wird Gott als der Herr der Welt, der durch seinen Knecht Nebukadnezar das ungehorsame Israel besiegt und in die Verbannung führt. Und der dem persischen König Kyros den Auftrag gibt, es wieder ins gelobte Land ziehen zu lassen.

Der Absolutheitsanspruch des Gottes Israels als Schöpfer und Herr der Welt entsteht paradox genug in der Niederlage, im Exil. Es ist ein Gott, der mit seinem Volk ins Leiden geht: So wie Israel als Gottesknecht ein leidender ist, der keine Gestalt noch Schöne hat. Jesus als leidender Messias und Sohn Gottes ergreift in der Verkündigung des Paulus mit ihrer Dialektik von Erniedrigung und Erhöhung die Sinn suchenden Menschen der antiken Welt.

Jesus stellt in seiner Verkündigung das nahe Reich Gottes ins Zentrum. In der Perikope von dem wichtigsten Gebot in Mk 12,28ff antwortet er dem Schriftgelehrten, ausdrücklich das Schemah Jisrael zitierend (was oft übersehen wird). „Höre Israel, der Herr unser Gott, ist Herr allein, und du sollst den Herrn deinen Gott von ganzem Herzen lieben, mit ganzer Seele und all deinem Verstand und mit all deiner Kraft. Das andere ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.“ (Mk 12,28-31) In keiner anderen Stelle der Evangelien wird Jesu Bekenntnis zum Monotheismus so deutlich. Jesus sieht sich nur zu den „verlorenen Schafen des Hauses Israel“ gesandt (fast ein wenig xenophobisch benimmt er sich) und wird erst von der Schlagfertigkeit der syrophönizischen Frau dazu motiviert, auch Nichtisraeliten sich hilfreich zuzuwenden. Indem er Gott vertrauensvoll als Vater anredet, verleiht er dem strengen Monotheismus die Wärme einer personalen Beziehung und lehrt es so auch seine Jünger. Seine Nachfolgereden klingen allerdings intolerant. Man kann nicht zwei Göttern dienen – entweder Gott oder dem Mammon. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Wer die Hand an den Pflug legt und schaut zurück usw. Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Reicher ins Himmelreich kommt. Der Gott, den Jesus verkündigt, sagt Theissen, ist ethische Energie, im Konstruktiven der Liebe wie im Negativen des Zornes und der Verdammung. Der Gast ohne hochzeitliches Gewand „wird hinausgeworfen in die Finsternis. Da wird Heulen und Zähneklappern sein.“ (Mt 22,13f) Es ist aber eine gewaltlose Intoleranz, verbal-dinghaft denkend, mit Segen und Fluch als Wirkungsräumen arbeitend. Keine Macht mit dem Schwert steht dahinter, um die Verdammungen durchzusetzen. (Wie in dem jüdischen Witz: Und was glaubt ihr – das Haus ist nicht zusammengestürzt!)

Der neue Absolutheitsanspruch ist verbunden mit Leidensbereitschaft und Nächstenliebe. Wo die politischen und religiösen Mächte attackiert werden, geschieht es im Namen des Christus, der gehorsam ward bis zum Tode am Kreuz. Der neue Glaube verlässt seine judenchristlichen Ursprünge in der Verkündigung des Paulus,die die Rechtfertigung aus Glauben für alle sündigen Menschen ohne das Gesetz durch das Versöhnungswerk Christi ins Zentrum stellt(Röm 3,23-25;5,18;2 Kor 5,19f). Die frühe Christenheit gewinnt missionarisch-werbend durch vorbildliche Ethik immer mehr Anhänger.

Tertullian sagt um 200 n Chr stolz: „Die Sorge für die Hilflosen, die wir üben, unsere Liebestätigkeit, ist bei unseren Gegnern zu einem Merkmal für uns geworden. Sieh nur, sagen sie, wie sie einander lieben.“ Noch Kaiser Julian Apostata muss das 363 nChr. anerkennen: „Kein Jude braucht jemals zu betteln und die gottlosen Galiläer (d.h. die Christen) ernähren ausser ihren Armen auch die unsrigen“, schreibt er an seine Oberpriester. Und der aus dem frommen Wuppertal stammende Friedrich Engels hat in seiner Einleitung zu Marx Geschichte der Klassenkämpfe in Frankreich 1884 den Siegeszug des frühen Christentums in der römischen Antike als Beispiel dafür zitiert, wie eine neue gesellschaftliche Bewegung sich gewaltfrei unwiderstehlich durchsetzen kann; ähnlich unaufhaltsam sei heute, so Engels, der Sieg der Arbeiterbewegung in Gestalt der Sozialdemokratie mittels Parlamentswahlen.

Der neue Glaube verheißt Lebensgewinn in Christus. Dieser Christus ist erhöht über alle und alle Gewalten sollen sich vor ihm beugen – so die verwegene frühchristliche Vision Phil 2 in einem Kontext von Kaiserkult, der genau das irdisch praktizierte. Was aber die Lebensführung der Bekehrten angeht, so sind die Forderungen durchaus drohend und intolerant. „Ungerechte werden das Reich Gottes nicht ererben. Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe etc.“( 1 Kor 6,9ff) Abendmahl und Götzendienst zugleich sind nicht möglich. Das warnende Beispiel Israels wird paränetisch einschüchternd zitiert – der Tanz um das Goldene Kalb und seine Bestrafung Ex 32, das Huren mit den Töchtern der Moabiter und der Verehrung des Baal Peor. „Lasst uns nicht Hurerei treiben wie einige von ihnen, sodass an einem Tag 23.000 umkamen etc.“ „Geschrieben als Warnung an uns, auf die das Ende der Zeiten zukommt“ (1 Kor 10,7ff). Vielleicht verständlich bei dem Versuch, eine Gemeinde aufzubauen und sie gegenüber Versuchungen aus der heidnischen Umwelt zu schützen – der alte Mensch im Kampf mit der neuen Schöpfung. Solche Kirchendisziplin war ermahnend, oft aus der Ferne nur per Brief, geschrieben von einem oft kranken Missionar, der sich vor allem seiner Schwachheit rühmte, „denn meine Kraft , sagt Christus, ist in den Schwachen mächtig“ (2 Kor 8,9).

Später in christlich-obrigkeitlichen Gemeinwesen wurde sie mit Gewalt durchgesetzt. Etwa gegenüber den donatistischen Häretikern schon bei Augustin. Luther und der milde Melanchthon befürworteten gewaltsame Maßnahmen dann doch gegenüber den Wiedertäufern, gegenüber aufrührerischen Bauern ohnehin. Calvin ließ den Trinitätsleugner Servet hinrichten. Aus der Strenge beim Gemeindeaufbau im römischen Reich, wo sich die neue Religion gewaltlos behaupten musste, wurde Kirchendisziplin mit Gewalt. Nur mit dieser von der Obrigkeit unterstützten Strenge konnte sich die Reformation behaupten, im Kampf gegen den Katholizismus und gegen die Abweichler in den eigenen Reihen. Es macht einen traurig, wenn man sieht, was aus den gewaltlosen Anfängen des Christentums geworden ist, als es Staatsreligion wurde und Kirchenpolitik wie Missionierung 1500 Jahre lang auch mit Gewalt betrieb. Insofern ist die Trennung von Kirche und Staat vor 100 Jahren, das Ende ihrer gegenseitigen Unterstützung durch Salbung (des Königs) und Sanktion (gegen die Häretiker), die verfassungsrechtliche Religionsfreiheit und die damit gebotene Toleranz auch eine Rückkehr an die Anfänge.

3. Zeugnisse schöpferischer Toleranz von - Noah bis M. L. King

a. Neben der exkludierenden Linie gibt es eine inkludierende Sicht Gottes in der Bibel, auf die ich hinweisen möchte . Sie beginnt mit der Sintflutgeschichte. Nach der Sintflut geht Gott in sich und sagt: „Ich will die Erde nicht wieder verfluchen um des Menschen willen, denn das Trachten und Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.“ Gott gibt der Welt eine Bestandsgarantie. Und dann schließt Gott einen Bund mit Noah, indem er Regeln aufstellt: der Mensch darf über die Schöpfung herrschen, er darf alles essen, auch Tiere, aber in dem Fleisch darf kein Blut mehr sein. Und als Zeichen seines Friedenswillens setzt Gott den Regenbogen in die Wolken. Gott toleriert also auch das böse Verhalten des Menschen bis zu einem gewissen Grad. Das nenne ich Gottes schöpferische Toleranz. Gott hat Geduld mit den Menschen. Einiges aber wie Mord ist nicht tolerierbar.

Folgerichtig sagt das Judentum, alle Völker und Nationen können gerettet werden, wenn sie die Regeln des Bunds zwischen Noah und Gott beachten. Das schildert auch die Geschichte von Jona, der die verdorbene Stadt Ninive zur Umkehr aufrufen soll. Widerwillig folgt Jona, kündigt Ninive den Untergang an, doch die Menschen und Tiere in Ninive erschrecken, tun Buße, gehen in Sack und Asche und dann heißt es: „Und Gott gereute das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.“ Eine schöne, lehrreiche Geschichte. Gott erinnert sich gewissermaßen an das, was er Noah versprochen hatte – keine Vernichtung mehr. Im Gewand der mythischen Noah- und der legendenhaften Jona-Erzählung wird also ein humaner Fortschritt ausgedrückt – sich als unterschiedliche Menschen zu achten und den Menschen für veränderbar zu halten..

b. Jesus knüpft daran an, wenn er in der Bergpredigt verkündet: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel seid. Denn er lässt seien Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte.“(Mt 5, 43-45) Was er fordert, ist eine Überwindung des Freund-Feind-Schemas. Jesus schlägt in menschlichen Beziehungen zwischen einzelnen und Kollektiven eine „Entfeindung“ vor. Auch der bisherige Feind hat einen Platz in dieser Welt, ist nicht der zu vernichtende. Als Argument für diese in der Menschheitsgeschichte neue Einstellung (auch das Alte Testament kennt allerdings schon das Gebot der Fremdenliebe, s. Lev 19, 34) bringt er die Überparteilichkeit Gottes, des Schöpfers, ins Spiel – Gott lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte. Daran, an Gottes schöpferischer Toleranz, sollen seine Jünger sich orientieren. Gott macht keine Unterschiede - die Sonne als Leben schaffende Kraft, der das Land feuchtende Regen, die sind für alle da, für Freund und Feind. Das klingt simpel, ist aber eine befreiende Einsicht. Aus einer Naturbeobachtung, die Sonne scheint über alle, wird ein Argument für eine andere Ethik, wird eine Haltung der Toleranz gegenüber den Feinden. Indem man die Feinde duldet und ihr Existenzrecht anerkennt, kommt man Gottes Überparteilichkeit nahe, wird man ein Kind des Vaters im Himmel, wie Jesus sagt. Toleranz als Schritt zur Entfeindung - ein kleiner Satz Jesu, ein großer Schritt für die Menschheit. Und noch zwei schöne Beispiele.

c. Das von Gott in uns - die Quäker und ihre schöpferische Toleranz. Der Gründer der Quäkerbewegung war George Fox. Der 1624 in England geborene war das Kind kirchlicher Eltern, doch der Glaube auch der Frommen schien ihm zu äußerlich und heuchlerisch. Als zwanzigjähriger verließ er das Elternhaus und durchwanderte als schwermütiger Grübler und die Begegnung mit Gott Suchender das Land.1646 erlangte er die Gewißheit, dass die innere Salbung mit dem Geist ihm die Vollmacht zur Verkündigung gebe, ohne Amt und Kirche. Er wurde verlacht, verfolgt, gefangengesetzt. 1652 baute er in Swarthmoor eine Gemeinschaft auf, die „Gesellschaft der Freunde“, die sich auf der ganzen Welt ausbreitete. Sie wurden abwertend Quäker genannt, Schüttler, weil Fox gelegentlich ein krampfhaftes Zittern überlief. Zentrale Glaubensüberzeugung war – jeder hat ein unmittelbares Gottesverhältnis – das ist der Funke, das Licht Gottes, das von Gott in uns. (Jesus Christus ist der echte Lehrer, der das innere Licht als Saat Gottes in uns aufgehen lässt.) Weil das so ist, lehnten die Quäker den Kriegsdienst, den Eid und Unterdrückung des Menschen ab, traten für Gleichberechtigung der Frauen ein. Ihre schöpferische Toleranz war mutig und entschieden. Die nach Nordamerika ausgewanderten Quäker engagierten sich im 19.Jahrhundert besonders in dem Kampf gegen Sklaverei. So richteten sie für entlaufene schwarze Sklaven einen freedom trail, einen Freiheitsweg ein.

Ich kenne eine Quäkerin in Hamburg, Christel S., die sich seit 20 Jahren in der Flüchtlingsarbeit engagiert. Sie unterstützt mit anderen zusammen Menschen, die von Abschiebung bedroht sind, indem sie ihnen eine Wohnung besorgt, in der sie zeitweilig untertauchen können, bis ihr Fall entschieden ist. Denn sie sagt, in jedem ist „das von Gott“, das vor ungerechter Behandlung beschützt werden muss. Das Kirchenasyl von Kirchen gemeinden steht in dieser Tradition, wenn es von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge Schutz gewährt..

d. Mit der ganzen Welt frühstücken – M.L.Kings Weltvision. King war ein entschiedener Verfechter gewaltfreien Protests. Auch wenn jemand Zwang oder Gewalt gegen ihn ausübte , sei es ein Rassist, der ihn mit einem Stein bewarf, ein Polizist, der ihn verprügelte, hat er sich nicht gewehrt oder zurückgeschlagen. Er wollte der „physischen Kraft mit der Würde der Seele“ entgegentreten. Keine Toleranz für die Feinde der Toleranz – das war nicht sein Wahlspruch. Auch der schlimmste Rassist kann sich ändern, daran glaubte er.

Zwei Gedanken bestimmen das Toleranzdenken Martin Luther Kings. Da ist zum einen der Gedanke der gegenseitigen Abhängigkeit. „Alle Menschen sind voneinander abhängig. Ob wir es wissen oder nicht, jeder von uns bleibt ewig in der Schuld der anderen. Wir sind ewige Schuldner bekannter und unbekannter Männer und Frauen. Wenn wir morgens aufstehen, gehen wir in das Badezimmer und nehmen einen Schwamm, der uns von einem Bewohner der pazifischen Inseln gegeben wurde. Wir nehmen die Seife, die von einem Europäer für uns gemacht wurde. Dann trinken wir den Kaffee, der uns von einem Südamerikaner, oder den Tee, der uns von einem Chinesen. Oder den Kakao, der uns von einem Westafrikaner gegeben wurde. Ehe wir zur Arbeit gehen, sind wir schon mehr als der halben Welt verpflichtet.“ Eine schöne Einsicht - schon unser Frühstück verbindet uns mit vielen anderen auf der Welt. Ich ertrage den anderen nicht nur, er trägt mich in dem, was er tut. Dienstleistungen und Handel sind ein Element von Friedlichkeit. Über den weltweiten Austausch von Gütern sind wir alle miteinander verbunden. Das ist ein sehr praktisches Argument. Das andere ist theologisch.

King spürt „ den Ruf nach einer allumfassenden und bedingungslosen Liebe für alle Menschen. Ich spreche von jener Kraft, die alle großen Religionen als das alle Trennungen überwindende Grundprinzip des Lebens angesehen haben. Man kann sagen, dass Liebe der Schlüssel ist, der die Tür zur letzten Wirklichkeit aufschließt.“ Hindus, Moslems, Christen, Juden und Buddhisten teilten diesen Glauben an eine letzte Einheit der Wirklichkeit. Diese Liebe, griechisch agape, „sei verstehendes, schöpferisches, erlösendes Wohlwollen allen Menschen gegenüber.“ Auch gegen den Augenschein hält King daran fest, dass die Menschheit in einen Prozess verwickelt ist, in dem sich die Liebe langsam durchsetzt. King war allerdings aus seinem Christusglauben heraus der Meinung, dass unverdientes Leiden erlösende Kraft hat und den Gegner verändert. Das ist eine aktive Toleranz, die viel mehr ist als die bloße Duldung des anderen. „Seid versichert“, ruft er seinen Gegnern Weihnachten 1967 zu, „dass wir euch durch unsere Leidensfähigkeit aufreiben werden; wir werden so sehr an euer Herz und euer Gewissen appellieren, daß wir euch in dem Prozeß gewinnen, und unser Sieg wird ein doppelter Sieg sein.“ Das klingt vielleicht etwas überzogen und allzu idealistisch, doch viele seiner Mitstreiter haben die Wahl eines Schwarzen zum US-Präsidenten 2008 als Erfüllung dieses Traums erleben können.

e. Und aktuell bei uns – keine Toleranz für die Feinde der Toleranz? Toleranz kann schöpferisch werden, das zeigen die geschilderten Beispiele. Vom bloßen Dulden von etwas kann sie zur Anerkennung kommen. Aber natürlich gibt es dabei ein Problem - was tun mit den scheinbar unbelehrbaren Feinden der Toleranz? Mit denen, die anderen das Lebensrecht absprechen? Oder für Migranten mindere Rechte vorsehen? Mit Gewalt gegen Minderheiten vorgehen? Man denke an die Ermordungen von Ausländern, Obdachlosen und Behinderten durch Neonazis. Rassismus, Antisemitismus, Apartheid, sexuelle Ausbeutung von Kindern sind nicht zu tolerieren. Es gibt das Nicht-Tolerierbare, das Niederträchtige. Keine Toleranz für die Feinde der Toleranz, sagt das Bündnis gegen Rechts, gegen Neonazis und ihre schrecklichen Parolen und Aktionen. Richtig! Aber was kann man tun, um sie aus ihrer Intoleranz herauszuholen? „Toleranz fördern, Kompetenz stärken“, heißt ein Programm des Bundesfamilienministeriums. Zum Beispiel: Bildungsfernen männlichen Jugendlichen mit Tendenz zur Fremdenfeindlichkeit Gelegenheit geben, etwas Sinnvolles tun´- zunächst einmal Ausbildungsplätze, Freizeiteinrichtungen, ehrenamtliche Betätigungsfelder. Vielleicht kommen sie dann von ihrem intoleranten Verhalten weg. Das Wachsen intoleranter Gruppen zeigt auch immer an, dass etwas falsch läuft in der Gesellschaft. Man muss den Neonazis zeigen, dass für sie als Neonazis kein Platz in der Gesellschaft ist, wohl aber für sie als Menschen, die einen sinnvollen Platz suchen, auch wenn sie zwischenzeitlich den braunen Rattenfängern in die Arme gelaufen sind. Dass man andere Menschen als fremd empfindet und zeitweilig dadurch irritiert ist, ist nicht schlimm. Das ist eine alte Menschheitserfahrung. Entscheidend ist, wie man mit dieser Befremdung umgeht. Aggressiv, abweisend, gewalttätig oder neugierig, nachfragend, lernbereit. Ein Aushalten von Unterschieden, das auf Selbstvertrauen und Charakterstärke basiert, ist nicht jedem mitgegeben. Die braunen Jugendlichen in mitteldeutschen Kleinstädten müssen von der Ersatzprogrammatik national-rechten Gedankenguts wegkommen. Und klar gezeigt kriegen, dass die Gesellschaft das nicht duldet, öffentlich nicht und auch nicht im Geheimen. Das gilt auch für die Mittelschicht bei der Lektüre von Sarrazins volkseugenischen Gedankengängen.

Wie der SPIEGEL berichtet (Nr. 10/2014) nimmt die Zahl radikaler Islamgegner in Deutschland zu. Mit dem Bau einer Moschee fängt es oft an. Dann wird aus Abneigung offener Widerstand. In Berlin; Hanau und Hannover wurden in den letzten 2 Jahren Brandanschläge auf islamische Gotteshäuser verübt. Laut einer Studie der Friedrich Ebert-Stiftung halten 56 % der Deutschen den Islam „für eine archaische Religion, unfähig sich der Gegenwart anzupassen.“ Auf der Internet-Plattform Political Incorrect wird Hass auf den Islam gepredigt. Anti-Islamismus, so der Spiegel, hat seinen Weg in die Mitte der Gesellschaft gefunden. Bundesregierung und Verfassungsschutz halten sich aber noch bedeckt.

4. Lessings Ringparabel und der religiöse Partikularismus

In der Ringparabel vertritt Lessing die gegenseitige Tolerierung der Religionen. Denn jeder Versuch, den Absolutheitsanspruch einer Religion in theoretischer Argumentation zu begründen, ist zum Scheitern verurteilt. Religion muss ihre Überzeugungskraft in praktischer Humanität ausweisen. Der wahre Ring ging verloren, sagt der weise Richter den streitenden Brüdern, doch glaube jeder seinen Ring den wahren, erweist sich doch seine Kraft darin, „vor Gott und den Menschen angenehm zu machen“. Deutlich zielt Lessings Umschreibung der ethischen Kraft der Religion auf einen Habitus, auf die ethische Haltung: also „von Vorurteilen freie unbestochne Liebe, Sanftmut, Verträglichkeit und Wohltun.“ Und schließlich das Glaubensargument in wohlgemerkt islamischer Version: „Ergebenheit in Gott“ (denn das meint ja Islam). Dieser ethische Minimalkonsens (heute vertritt ihn Küng in seinem Weltethos-Projekt) meint aber keine Entprofilierung der jeweiligen Religion. Denn Lessing schließt dabei das Traditionsargument nicht aus, im Gegenteil. Saladin unterbricht ja Nathans Erzählung an einer Stelle mit dem Argument, die Religionen wären doch wohl zu unterscheiden bis hin zur Kleidung und den Speisevorschriften. Ja, sagt Nathan, aber von Seiten ihrer Gründe sind sie nicht zu unterscheiden, weil sie sich alle auf die jeweilige Geschichte berufen, die die Väter den Söhnen überlieferten. Und fährt so fort:

Denn gründen sich nicht alle (Religionen) auf Geschichte?
Geschrieben oder überliefert!
Und Geschichte muss ja wohl auf Treu
und Glauben angenommen werden? Nicht?
Nun, wessen Treu und Glauben zieht man denn
Am wenigsten in Zweifel? Doch der Seinen?
Wie kann ich meinen Vätern weniger
Als du den deinen glauben? Oder umgekehrt?
Kann ich von dir verlangen, dass du deine
Vorfahren Lügen strafst, um meinen nicht
Zu widersprechen? Oder umgekehrt.
Das nämliche gilt von den Christen. Nicht? (III,7)

Jeder soll also durchaus auf seine Religion bauen, die er von den Vätern und Müttern ererbt, aber er soll sie nicht über die anderen Religionen setzen. Saladin sagt: „Bei dem Lebendigen, der Mann hat Recht: ich muß verstummen.“

Zu Lessings Zeiten gab es keine praktizierenden Muslime in Deutschland. Das hat sich geändert. Sicher würde sich Lessing über den Satz des damaligen Bundespräsidenten Wulff, auch der Islam gehöre zu Deutschland, am 3. Oktober 2011 gefreut haben. Aber die muslimische Zuwanderung bringt auch alltagsweltliche Probleme mit sich. Immer häufiger werden die Deutschen inzwischen mit fremden islamischen Praktiken konfrontiert (Diese alltagsweltliche Konfrontation hat die ältere zwischen Protestanten und Katholiken abgelöst – ich weiß noch, wie konsterniert ich war, als mein neuer Klassenkamerad Heinz- Hermann aus dem Rheinland nach Hamburg zugezogen mit dem Aschekreuz am Mittwochmorgen in der Schule auftauchte). Wie gehe ich als Christ und Bundesbürger damit um? Siehe das Kopftuchtragen. Interessant dass es auch eine christliche Wurzel hat - Paulus gebietet es den Frauen in Korinth wegen der Versuchlichkeit der männlichen Engel. Maria und die anderen Frauen unter dem Kreuz tragen ein Kopftuch. Und bis vor 50 Jahren war es auch in Deutschland noch üblich, ich denke an meine Großmutter in Ostfriesland und die russlanddeutschen Frauen in meiner Gemeinde in Hamburg-Steilshoop. Glaubt eine muslimische Frau es vom Koran geboten, der deutsch-türkische Schriftsteller Zaimoglu nennt es Schamtuch, warum sie daran hindern, wenn sie ansonsten Rechtsgehorsam zeigt und sich in die Mehrheitsgesellschaft integriert?! Wir sprechen ja auch den Nonnen und Diakonissen, die ihr Habit tragen, damit nicht ihre Integrationsbereitschaft oder ihren Rechtsgehorsam gegenüber dem Grundgesetz ab. Etwas anderes ist es mit der total verschleiernden Burka (in Frankreich ist sie als Frauen diskriminierend verboten), aber die Zahl derer, die sie tragen, ist verschwindend klein. Doch der Konflikt zwischen westlichem Universalismus der Menschenrechte und partikularen religiösen Bräuchen betrifft nicht nur die Muslime.

5. Konflikte wegen alter religiöser Bräuche – Kruzifix, Kopftuch, Beschneidung

Aus der obrigkeitlichen Duldung Andersgläubiger ist in der Demokratie ein Recht auf freie Religionsausübung geworden, das die Gläubigen wie die Ungläubigen einander als freie Bürger gegenseitig einräumen und anerkennen. Eine Gemeinschaft kann nicht funktionieren ohne diesen Respekt vor den kulturellen und religiösen Unterschieden. Der weltanschaulich neutrale Staat muss den Religionsgemeinschaften diese freie positive Religionsausübung garantieren. Wie das Zusammenleben bei unterschiedlichen religiösen Praktiken gestaltet wird, das entscheidet sich aber in der Zivilgesellschaft und bei den Religionsgemeinschaften. Von ihnen kann eine Praxis gegenseitiger Anerkennung erwartet werden. Aber es gibt Konflikte, einzelne oder Gruppen melden Grenzen der Tolerierbarkeit an, man geht vor Gericht und lässt diese entscheiden. Die Garantie positiver Religionsfreiheit heißt nicht, dass alle religiösen Praktiken sankrosankt sind. Wenn eine in Süddeutschland lebende Sekte (Stämme Israels) aufgrund ihrer wörtlichen Bibellektüre Prügelstrafe bei ihren Kindern befürwortet, so ist das nicht durch die freie Religionsausübung gedeckt.

Andererseits: Ein Lehrer in der Oberpfalz wollte es seinen Kindern in den 90er Jahren nicht zumuten, dass sie unter dem Kruzifix, sprich dem Körper eines gequälten Mannes unterrichtet werden und klagte beim BVerfG gegen Kruzifixe in bayrischen Schulräumen und Gerichten – und bekam Recht. Es berühre seien negative Religionsfreiheit, er müsse es nicht hinnehmen, weil es Ausdruck der positiven Religionsfreiheit der Mehrheit sei.

Denn es geht sowohl beim Kreuz wie beim Kopftuch in den Schulen um die Frage, wer die Macht über die Werte von Bildung hat. Der Staat beansprucht dieses Recht. Gerade in Bildungsfragen gibt er sich zivilreligiös, das heißt er versucht zivile Angelegenheiten religiös unter Verwendung eines Symbols seiner christlichen (Vor)Geschichte zu überhöhen. Deswegen das Kreuz in Schulzimmern und Gerichten. So hat das Land Baden-Württemberg einer muslimischen Lehrerin verboten, mit Kopftuch unterrichten, da sie damit politische Ziele des Islam erkennen lasse, jetzt unterrichtet sie in Berlin mit Kopftuch.

Und auf muslimischer Seite: Die Eltern eines muslimischen Mädchens in Wuppertal gingen vor Gericht um zu verhindern, dass ihr Kind am nicht nach Geschlechtern getrennten Schwimmunterricht teilnehmen muss. Das Bundesverwaltungsgericht wies die Klage der Eltern ab und entschied, dass dem Mädchen der Anblick von Jungen in kurzen Hosen zuzumuten sei und sie sich Ganzkörperschwimmkleidung besorgen könnten. Mit besonderer Heftigkeit wurde 2012 der Streit um die Beschneidung des männlichen Kindes bei Juden und Muslimen ausgetragen. Ein Jura-Professor hatte es zu seinem persönlichen Anliegen gemacht, die religiös begründete Beschneidung als Verletzung des Kindeswohls zu verbieten und hatte schließlich Erfolg. In dem Urteil des Kölner Landgerichts im August 2012 hieß es, „letztlich wiege das Recht des Kindesauf einen unversehrten Körper schwerer als das Recht auf Zugehörigkeit zur Religion der Eltern. Eine Beschneidung, der die medizinische Begründung fehlt, ist Körperverletzung.“ Die Sensation, der Skandal war da. Die Feuilletons der Zeitungen füllten sich mit Artikeln über das Urteil. Juden, Muslime, aber auch Christen kritisierten es. Kinderärzte begrüßten es. Die Wellen schlugen hoch. Der Bundestag verabschiedete eine Resolution, die das Recht auf Beschneidung absicherte. Auch in den Kirchen wird das Recht der Beschneidung verteidigt. Aber (Kastrations-) Ängste vor einem archaischen Ritual bleiben dennoch.

6. Toleranz ist inzwischen auch eine christliche Tugend! Die religiöse Differenzierung in der BRD infolge der Migration als Toleranz-Lernfeld

Nun will ich an dieser Stelle aber auch einmal den positiven Lernprozess in Sachen Toleranz bei vielen Christen und Nichtchristen erwähnen. In der Kindertagesstätte Augsburgerstraße meiner beiden Enkelkinder in Berlin-Wilmersdorf hängt ein vom Berliner Amt für Integration herausgegebener interkultureller Kalender. Dort sind die Feste der Christen, der Muslime, der Juden, der Hindus, der Buddhisten und der Bahai verzeichnet, dazu die politischen Feier-und Gedenktage. Ein recht bunter und vielfältiger Kalender ist da entstanden, der weltanschaulich neutrale Kindergarten feiert aber keinesfalls alle Feste seiner Schutzbefohlenen, sondern orientiert sich grob am christlichen Jahreskreis. Da muss ich doch einige evangelische Kindergärten rühmen, so den meiner damaligen Gemeinde im Neugebiet Hamburg-Steilshoop, die sich durchaus bemühten, auch die muslimischen Feste zu berücksichtigen – das Beiram- und das Opferfest beispielsweise. Respekt, Respekt, kann man dazu nur sagen. Das Motto „Mit Gott groß werden“ wurde nicht christologisch verengt, sondern in ökumenischer Weite gelebt. „Gott der einzige Gerechte, weiß für jedermann das Rechte: sei von seinen hundert Namen dieser hochgepreiset. Amen“ (Goethe)

Wenn man bedenkt, wie einheitlich trotz der Zulassung kleiner christlicher Gruppierungen (die sog. Religionsverwandten) und der großen Flüchtlingsbewegung am Kriegsende, die zu einer gewissen konfessioneller Durchmischung führte, die religiöse Landschaft in der Bundesrepublik noch in den 50er,60er und 70er Jahren ausgesehen hat, mit den beiden großen Kirchen, die 85% der Bevölkerung umfassten. Es gab eine funktionierende kirchliche Parallelgesellschaft in der Bonner Republik. Vom Kindergarten über das Jugendfreizeitheim die Gemeindeschwester, den Jugenddiakon, das Krankenhaus, die Mütterkreise und Frauenhilfe bis hin zum Altenheim, kirchliche Parallelwelt im nachtotalitären Biedermeier. So habe ich es in meiner Hamburger Ortsgemeinde als Jugendlicher erlebt. Vor allem die Migrationsbewegung, die in Europa in den 60er Jahren einsetzte (war letztes Jahr nicht 50 Jahre Gastarbeiter in der Bundesrepublik?) hat dieses einheitliche Bild zusammen mit Säkularisierung und Kirchenaustrittsbewegung einschneidend verändert. Die alte eng gefügte kirchliche Lebenswelt ist in den Städten schon längst zerfallen, und auch in Kleinstädten und auf dem Land löst sie sich zunehmend auf. Die Republik ist auch sichtbar multireligiös und kulturell geworden. Das hat vor allem mit dem Zuzug von 4 Millionen muslimischer Menschen zu tun, aber auch mit der Einwanderung von Katholiken verschiedenster Nationalität, dem Zuzug der Russlanddeutschen und besonders hoffnungsvoll zu betrachten der osteuropäischen Juden, den Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, schließlich der Migrationsbewegung aus Afrika, die wegen der europäischen Abschottung der Mittelmeerküsten zuletzt für viele traurige Schlagzeilen gesorgt hat. Das hatte Folgen für das religiöse Erscheinungsbild der BRD. Erstaunlich was sich da in den letzten 50 Jahren vor unseren Augen an Wandel vollzogen hat. Eine erste wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Veränderungsprozesses lieferte 1994 das Hamburger Religionsatlas genannte Lexikon der Hamburger Religionsgemeinschaften (hg. von Grünberg, Meister und Slabaugh). Über 100 organisierte religiöse Gemeinschaften wurden befragt und konnten sich selbst darstellen. Es war also keine Apologetik bzw. negative Bewertung der anderen Religionen aus Sicht des christlichen Glaubens. Die Erhebung war von Respekt geprägt, was in den Kirchen selbst einige verärgerte. Die Liste des Hamburger Religionsatlas ist beeindruckend. Sie beginnt mit der afghanischen Hindugemeinde und der African Fellowship und dem Alevitischen Kulturzentrum und endet mit der vietnamesischen buddhistischen Gemeinschaft, der Vihwa Hindus Parishad und der christlichen Gemeinschaft „Wort des Glaubens“. Dazwischen finden sich christliche Gemeinden aus aller Welt, von Japan bis Äthiopien, von Korea bis Armenien. 90 % der Religionsgemeinschaften gehören zum christlichen Spektrum, ca 10 % zu den großen Weltreligionen Muslime, Hindus, Buddhisten, Sikhs. Die größte nichtchristliche Gruppe stellen die Muslime ,sie wurden in Hamburg zur 3. großen Konfession nach den Lutheranern und den Katholiken. M.Biehl (OWEP 2003/1) schätzte 2003, dass es in Hamburg etwa 60-70 islamische Gebetsstätten gibt, von solchen wie der großen Imam-Ali-Moschee, von iranischen Kaufleuten 1969 gegründet, schön an der Alster gelegen für 600 Besucher, ich gehe dort täglich bei meinem Nachmittagsspaziergang vorbei, über die vorwiegend von Türken besuchten Merkesz-Camil-Zentralmoschee Böckmannstraße Nähe Hbf bis hin zu kleinen Hinterhofmoscheen und Gebetsstätten, wo sich 20-bis 30 Gläubige versammeln. Angesichts dieser Präsenz des Islam wird leicht übersehen, dass die Zuwanderung auch zu einer weiteren Differenzierung innerhalb der Christenheit beitrug. Denn es kamen nicht nur Kopten, Armenier, Serben, Koreaner oder Indonesier sondern serbische und rumänische Orthodoxe, ukrainische Katholiken, armenische und koptische altorientalische Kirchenmitglieder, syrische und äthiopische Orthodoxe, schwarze Baptisten und Methodisten, reformierte Indonesier, koreanische Presbyterianer. In der katholischen Grund, Haupt-und Realschule in Billstedt sind über 25 Nationalitäten vertreten. In der Domkirche St. Marien folgt am Sonntag eine Messe auf die andere, neben deutsch auf portugiesisch, kroatisch, polnisch, spanisch, französisch und englisch. Es gibt ca. 50 Neugründungen schwarzer Kirchen in Hamburg, also das Phänomen kleiner indigener Kirchen in Afrika, die noch schneller wachsen als die Pfingstkirchen, zeigt sich auch bei uns. Ein wahrhaft ökumenisches Pfingstwunder findet jeden Sonntagmorgen in Hamburg statt, wenn sich all diese verschiedenen Denominationen zum Gottesdienst versammeln und in vielerlei Zungen das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser sprechen - ein postmodernes „Brausen vom Himmel“ „und sie fingen an in andren Sprachen zu predigen, wie der Geist es ihnen eingab“. Man darf eben nicht nur auf die oft dürftig besuchten Gottesdienst der Lutheraner schauen(knapp unter 40 % der Hamburger sind hier noch Mitglied) sondern muss diese konfessionelle Vielfalt in den Blick nehmen. Die Religionssoziologie stellt fest, dass der scheinbar unumkehrbare Prozess der Säkularisierung, den man besonders in Städten wie HH beobachtete, in dieser Hinsicht gestoppt ist. Insgesamt hat sich die Zahl der religiös orientierten Menschen in den letzten 20 Jahren nicht verringert. Schien zunächst die „Rückkehr der Götter“ mit esoterischen Kleinstgruppen, spirituelle Zentren und sogenannten Jugendsekten gekoppelt zu sein, so zeigt sich heute, dass nicht die neureligiösen Gruppierungen wachsen, sondern die Denominationen und Fraktionen der klassischen Weltreligionen, die weitaus den größten Teil der religiös orientierten Menschen bei sich versammeln. Es gibt aber bei einheimischen Lutheranern und auch bei Katholiken kaum wachsende Gemeinden. Die Bedeutung der beiden großen Konfessionen verdankt sich stark ihrem Engagement auf sozialem und politischem Gebiet.

Schönstes Beispiel die St. Pauli-Gemeinde, die die illegalen Lampedusa-Flüchtlinge aufnahm – sie ist als Gottesdienst- und Gruppengemeinde ziemlich ausgedünnt gewesen, aber durch ihre Tat-Predigt des Asyls für 300 aus Lybien geflohene Männer wurde sie überregional bekannt und viele kirchlich distanzierte Menschen kamen um zu helfen, bis hin zu dem muskelbepackten Türsteher aus dem Kiez, der Wache schob wegen eventueller fremdenfeindlicher Übergriffe. „Welch eine bunte Gemeinde, an Gottes Tisch sitzen Freunde und Feinde“ (Goethe). Führe ich noch an, dass es in Hamburg an der Uni eine Akademie der Weltreligionen gibt, ins Leben gerufen von meinem Freund Wolfram Weiße, an der Professoren verschiedener Religiosität lehren und eine während der jährlichen Lessing-Tage am Thaliatheater veranstaltete Lange Nacht der Weltreligionen, mag der grimmige Hauptpastor Goeze noch so sehr in seinem Grabe rotieren. Und wahrlich ist all das kein religiöser Einheitsbrei, wie der damalige EKD-Vorsitzende Huber 2004 beim 475 jährigen Jubiläum der Hamburger Reformation Lessings Ringparabel unterstellte, sondern es geschieht in konfessioneller Differenziertheit, wie Nathan es gegenüber Saladin schilderte.

Also: den anderen Traditionen Respekt entgegenbringen, das kann man lernen, auch als frommer Christ. Getreu dem Satz Christi: In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen.

Entschuldigen Sie, dass ich jetzt so lange von Hamburg sprach, da kenne ich mich ein bisschen aus. Eine Studie der Ruhr Universität Bochum aus dem Jahr 2008 beschreibt die Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen. Ihr Herausgeber Volker Krech merkt an: „Es gibt Anzeichen für die Vermutung, dass die Religion dann an Bedeutung in der Selbst- und Fremdwahrnehmung gewinnt, wenn vor dem Migrationshintergrund entstehende Problemlagen nicht anders zu lösen sind. Dann besinnt man sich auf die Herkunftstraditionen, zu der offenbar insbesondere die Religion gehört, und schließt sich einer entsprechenden religiösen Organisation an.“ Dieses Phänomen war auch im 19. und 20. Jh. in den USA zu beobachten, Max Weber sah in den religiösen Denominations der Einwanderer den Prototyp der voluntary associations und damit der Fundamentaldemokratisierung. Also Religion als Lebensbewältigungshilfe in der Immigration, als ein „Stück Holz zum Festhalten“ (Kant) in der Fremde, die langsam auch über Religion zur Heimat wird, die aber damit die indigene Mehrheitsreligion mit fremden religiösen Bräuchen konfrontiert. Dies als Lebenshilfe zu anzuerkennen wäre die Bewährungsprobe für die Toleranz der einheimischen Christen. Ein schönes Beispiel ist für mich die muslimische Studentin der Sozialpädagogik, die ein Kopftuch trägt aus Achtung für ihre religiöse Tradition, aber eine engagierte Soziallarbeiterin wird, die später deutschen Familien Hilfestellungen gibt, ihr Leben zu bewältigen. Ich finde, diese Veränderung des religiösen Feldes ist neben dem Wandel der Lebensformen im Bereich Familie und Sexualität eine große Herausforderung, und man muss auch mal die positiven Leistungen dieses Lernens, auch wenn es von Rückfällen bedroht ist, nennen dürfen (Ähnlich in der Literatur, s. Stanisic, Vor dem Fest, Leipziger Buchpreis).

7. Ein letzter Kontroverspunkt - Toleranz als gelebter Respekt vor den konkurrierenden Religionen aktuell.

Der Rat der EKD hat den Orientierungsbedarf im schwierigen Prozess einer Verständigung zwischen evangelischen Christen und Muslimen in der Bundesrepublik erkannt und mit einer Handreichung zu befördern versucht. Im November 2006 veröffentlichte er den Text „Klarheit und gute Nachbarschaft“. Der Text ist anspruchsvoll formuliert und schlägt einen weiten Bogen von dem einführenden theologischen Kapitel „Evangelische Christen in der Begegnung mit den Muslimen“ bis zu dem abschließenden Kapitel „Ziele und in Inhalte interreligiöser Zusammenarbeit.“ Trotzdem ist der Text sowohl von der Wissenschaft wie von den Praktikern des Dialogs z.T. heftig kritisiert worden (Chr. Bultmann, Was fördert wechselseitigen Respekt zwischen Christen und Muslimen, in: PTh2009/3, dem ich im Folgenden mich weitgehend anschließe). Warum? Ein Teil der Kritik bezieht sich darauf, dass der Text gewisse Vorurteile gegenüber dem Islam als dogmatisch und eng reproduziere und damit der Islamfeindlichkeit Vorschub leiste. Ein Beispiel: „Der evangelischen Kirche wäre es willkommen, wenn der Islam in Deutschland als humanisierende Kraft in dieser Gesellschaft wirksam würde.“ (23) Die Unterstellung ist also: Er ist es momentan nicht. Was teilweise sogar stimmt, wenn man ein zivilgesellschaftlich-altruistisches Engagement eines deutschen Mittelschichtangehörigen als Maßstab setzt oder die vielfältige diakonische Arbeit der Kirche. Aber das hat ja Gründe, die man hätte erwähnen müssen -ein Muslim kann sich nicht sofort für andere engagieren, wenn er als Einwanderer in einer fremden Gesellschaft erst einmal Fuß fassen muß. Die muslimischen Verbände können nicht gleich institutionelle Sozialarbeit organisieren. Auf der anderen Seite haben die vielen muslimischen Vereine durchaus wichtige humanisierende Integrationsarbeit geleistet. Positive neuer Entwicklungen wie die ehrenamtlichen Beauftragten an den Moscheen für den interreligiösen Dialog werden leider nicht erwähnt.

Für uns als Theologen ist folgender Passus besonders diskussionsbedürftig: „Die Feststellung des Glaubens an den einen Gott trägt nicht sehr weit. Bei dem Glauben an Gott in Christus kann es nicht um ungefähre Übereinstimmung mit anderen Glaubensvorstellungen gehen. Denn Glauben ist Vertrauen auf den Gott der Wahrheit und Liebe, der uns in Jesus Christus begegnet. Am rechten Glauben entscheidet sich nach Martin Luther gerade zu , was für den Menschen überhaupt Gott heißen darf. Woran der Mensch sein Herz hängt, das ist sein Gott (Gr. Katechismus). Ihr Herz werden Christen jedoch schwerlich an einen Gott hängen können, wie ihn der Koran beschreibt und wie ihn Muslime verehren.“(19) Was soll diese scharfe Abgrenzung? Wenn sie als Warnung vor einer schnell vollzogenen Konversion dienen soll, mag sie noch hingehen. Aber als grundsätzliche Außenwahrnehmung des Islam aus evangelischer Sicht ist der Satz fragwürdig und widerspricht der Einsicht einer Theologie der Religionen, dass der Glaube an den einen barmherzigen und gerechten Gott auch ohne den Bezug auf die Erkenntnis Gottes in Jesus Christus existenzerhellende und den Menschen vergewissernde Bedeutung haben kann. Haben wir doch gelernt, dass die Aussagen der hebräischen Bibel etwa von der Gnade Gottes in ihrer Zeit vergebende Kraft entfaltet haben und nicht nur in der Deutung, die sie prophetisch in Jesus Christus erfüllt sieht. Haben wir nicht im jüdisch-christlichen Gespräch nach der Shoah einbekannt, dass der jüdische Glaubensweg nicht durch den christlichen aufgehoben ist, sondern weiter gilt, dass Israel das erwählte Volk ist. Deswegen ist zu fragen: gilt das nicht auch für Glaubenserfahrungen, die sich nach der Zeit der Apostel im arabischen Raum ereigneten, durchaus beeinflusst von monophysitischen judenchristlichen Christentümern und die ihr Zentrum in der Erfahrung eines gerechten, vergebenden und barmherzigen Gottes hatten, von der auch der Gesandte Jesus, der Sohn Marias spricht. Der schönste der 99 Namen Allahs ist der Erbarmende, überall stößt man auf ihn im Koran. Müssen wir uns nicht deswegen von Luthers kategorischer Feststellung trennen: „Denn was außer der Christenheit ist, seien es Heiden, Türken, Jüden oder falsche Christen und Heuchler, ob sie gleich nur einen wahrhaftigen Gott gläuben und anbeten, so wissen sie doch nicht, wie er gegen sie gesinnet ist, können sich auch keiner Liebe und noch Guts zu ihm versehen.“ (Gr. Katech. 560) Immerhin gibt der EKD-Text zu, „dass sich der Gott der Bibel auch Muslimen nicht verborgen hat“, dass es „unbestritten“ sei, „dass der Koran häufig von der Güte und Barmherzigkeit Gottes Rede“(19). Müsste es uns nicht interessieren, wie die muslimischen Gläubigen diese Aussagen verstehen. Der berühmte Dogmengeschichtler Adolf von Harnack hat einmal bemerkt, das in die Wüste geschickte Judenchristentum, das innerchristlich untergegangen ist, sei auf dem Boden des Arabertums durch einen großen Propheten wieder auferstanden. Das ist ein Paradox weltgeschichtlichen .Ausmaßes. Es macht mich nachdenklich. Jedenfalls möchte ich nicht, nachdem theologisch der Antijudaismus endlich aufgegeben wurde, ihn antiislamisch wiederauferstehen lassen.

Als Christ kann ich daran festhalten, dass die Gnade des einen Gottes in Jesus Christus auf eine besonders tiefe und umstürzende Weise erschienen ist - als Inkarnationsglaube: Gott wird Mensch und leidet, um die sündige Menschheit mit sich zu versöhnen. Oder anders gesagt: um den Menschen wieder mit sich in Übereinstimmung zu bringen. An diesem in Jesus Mensch gewordenen Gott sollen wir Christen nach Barmen I im Leben und Sterben festhalten. Diese tiefe Differenzerfahrung scheint dem Islam zu fehlen. Dafür ist bei ihm stärker die Haltung ausgebildet, alles, was einem widerfährt, auch das Negative, als von Gott bewirkt, anzunehmen, Gott nicht aufzuspalten wie wir es oft tun. Gott ist für sie das Ganze. Eben wie der Name Islam sagt, der Ergebung in Gottes Willen bedeutet. Aber auch dieser Glaube enthält eine Leidensmystik, die ich als Christ respektieren kann, etwa wenn sie sich so äußert wie in N. Kermanis Buch Attah, Hiob und die metaphysische Revolte. Auch dies ist ein Gott, an den Menschen ihr Herz hängen und zu dem sie sich „aller Liebe und Guts versehen“ können (mit Luther zu sprechen). Im Übrigen: wenn ich mit der Anwesenheit Gottes im Weltprozess rechne, daran glaube, dass er sich in den drei abrahamitischen Religionen auf unterschiedliche Weise als gerechter und barmherziger Gott den an ihn glaubenden Menschen erfahrbar gemacht hat, dann kann ich nicht die eine oder andere Religion als minderwertig in diesem Prozess bezeichnen. Ich muss ja kein Moslem werden wollen, um dem Islam mit Respekt zu begegnen. Aber ich darf dem Islam nicht den Respekt einer ernsthaft-existentiellen Gottesbeziehung, einer Beziehung, an die man sein Herz hängt, verweigern.

Tolerant - eine christliche Tugend? Ja auch, einerseits aufgezwungen durch die geschichtliche Entwicklung zum weltanschaulich neutralen Staat, in dem Kirche und Staat getrennt sind und Religion Privatsache ist, in dem das Christentum dennoch eine geschichtlich bedingte privilegierte Position hat, andererseits befördert durch die von der Immigration hervorgerufene multireligiöse Veränderung konfessionell einheitlicher Staaten in Westeuropa. Damit muss ich mich als Christ auseinandersetzen, diese Entwicklung produktiv nutzen und verstehen. Die Begegnung mit anderen Religionen, vor allem dem Islam, ist die Einladung mein Leben im Lichte der biblischen Schriften noch einmal neu zu lesen. Es ist ja aufschlussreich, dass viele distanzierte Christen in der Konfrontation mit dem Islam ihr Christentum entdecken. Zumeist leider nur in der Haltung der Abwehr oder des Vorurteils – der intolerante dogmatische Islam und das liberal-humane Christentum (was ja so nicht stimmt). Leider kommen sie nicht so weit, etwa den Christushymnus Phil 2 noch einmal für sich zu buchstabieren, was es denn heißt, dass Gott sich in Christus seiner Macht entäußert, dass seine ganze Macht in seiner Schwäche liegt.

Und was das sowohl für den Dialog mit den anderen wie für eine Praxis für und mit anderen in den Konflikten unserer Zeit bedeutet. In den Worten Paul Ricoeurs: „Auf genau dieser Grundlage eines Glaubens an Gott als einem wahrhaft Anderen, anders als ich, anders als meine Vorstellungen, können wir uns aber dazu bekennen, daß sich sein Anderssein offenbart hat und sich durch Vermittlung der sonstigen Schriften noch andernorts offenbart.“(Ricoeur in; R. Forst, Toleranz, Frankfurt 2000, 43)

Ich hoffe ich habe mit meinen wenig systematischen Ausführungen dazu beitragen können, einige Fragen der Toleranz zu klären. Und schließe mit dem Witz von dem Rabbi, zu dem ein Gemeindemitglied kommt und ihm seinen Streit mit dem Nachbarn schildert. Der Rabbi: Du hast Recht. Als nächster kommt der Nachbar, schildert den Streit aus seiner Sicht. Der Rabbi: Du hast Recht. Darauf die Frau des Rabbi, die zugehört hat: Es können doch nicht beide Recht haben. Drauf der Rabbi: Du hast auch recht.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/89/hjb29.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2014