In aller Stille ausklingen lassen ...

Zur Interpretation von Passionsmusik zwischen Theologie, musikalischem Kommerz und bürgerlicher Religion

Wolfgang Vögele

1. Applaus und Stille

Nach einer im evangelischen Bereich sehr vernachlässigten liturgischen Tradition schweigen in den Gottesdiensten an Karfreitag Glocken und Orgel. Die Gemeinde kommt ohne die Erinnerung der Glocken zum Gottesdienst und singt die wenigen Choräle a capella. Solche liturgischen Traditionen, die das Besondere und Erschreckende des Karfreitags symbolisch zum Ausdruck bringen sollen, sind leider im Verschwinden begriffen, denn sie behindern die Kirchenmusik in ihrer Selbstdarstellung. Es wäre auch zu mühsam, den traditionsvergessenen Gottesdienstbesuchern den Sinn dieser liturgischen Verzichts deutlich zu machen. Entgegen der alten Zurückhaltung wird am Karfreitag, in der Karwoche und am Palmsonntag besonders viel und besonders aufwendig Kirchenmusik aufgeführt. Zum Programm gehören die einschlägigen Passionen von Schütz und vor allem von Bach, aber auch Frank Martins Golgotha.

In den Kirchenkonzerten hat sich ein letzter Rest liturgischen Entsetzens über die Kreuzigung in der Bitte um den Verzicht auf Applaus erhalten: „Wir bitten, die Passionsmusik während des Glockengeläuts in Stille ausklingen zu lassen.“ Einmal abgesehen davon, dass keine Stille herrschen kann, wenn die Glocken läuten, so verleiht der Verzicht auf Applaus dem Konzert doch einen besonderen Charakter: Es geht gut protestantisch nicht um die Aufführung, um die Leistungen der Solisten, des Chores und des Orchesters, sondern um die Leidensgeschichte selbst, hinter der das applauswürdige Können der Musiker fromm und demütig zurücktritt. Wobei der Leser des Konzertprogramms solche Hinweise als die Erlaubnis versteht, nach der vorgeblichen "Stille" des Glockengeläuts dann doch um so heftiger zu applaudieren.

Solcher Applausverzicht betrifft nicht nur kirchliche Passionsmusiken. Aufführungen von Richard Wagners „Parsifal“, in vielen Opernhäusern wie zum Beispiel in Mannheim stets am Karfreitag aufgeführt, müssen sich ebenfalls mit dem Applausproblem herumschlagen. Applaus nach der Abendmahlsszene des ersten Aktes? Nach dem zweiten Akt? Oder nur ganz am Ende? Dem Komponisten galt der „Parsifal“ ja nicht als Oper, sondern als Bühnenweihfestspiel. In Bayreuth wurden unterschiedliche Traditionen gepflegt, vom gänzlichen Verzicht auf Applaus bis zum Verzicht auf Klatschen zwischen den Akten. Aber heute sitzen in jeder Aufführung Menschen, die mit dieser Tradition nicht vertraut sind, und die lassen sich vom dauernden Applaudieren nicht abhalten, auch wenn sie dann von den bei Wagneropern zahlreichen Traditionalisten im Publikum ausgezischt werden.

Es ist ja auch eine Unsitte, insbesondere bei italienischen Belcanto-Opern nicht den letzten, verklingenden Schlußakkord des begleitenden Orchesters abzuwarten, sondern schon in diese Akkorde hinein die hohen und höchsten Töne in den Arien der Primadonna oder des Startenors zu bejubeln. Mancher Dirigent rettet sich bei Symphonien und Messen damit, dass er nach dem Schlußakkord den Dirigentenstab für einigen Sekunden erhoben hält, um das aufgeführte Werk verklingen und nicht im applaudierenden Jubel untergehen zu lassen. Ich würde die (musikalische) These vertreten, dass jedes anspruchsvolle Musikstück nach dem Schlußakkord einige Sekunden des Verklingens und des Nachhalls benötigt. Danach kann Applaus aufbranden.

Aber hier soll das theologische und liturgische Problem betrachtet werden. Denn der Applausverzicht im Passionskonzert hat keine musikalischen, sondern eher theologische Gründe. Es ist eine spannende Frage, ob es sich bei solchen Passionsaufführungen um Gottesdienste, gottesdienstähnliche Veranstaltungen, um Gottesdienste mit den Mitteln der Kirchenmusik oder um Konzerte handelt. Das kommt natürlich auf den Ort an: Kirche, Staatstheater oder Konzertsaal. Und es kommt auf die Intention der Verantwortlichen, das Setting und den Kontext an: Handelt es sich um Kirchenmusik oder um Musik in der Kirche?

2. Musik in der Kirche?

Das ist ein alter Streit. Schon Johann Sebastian Bach selbst geriet ja mit den Oberen seiner Kirche regelmäßig aneinander, im übrigen gerade wegen der beiden Passionen, die als zu opernhaft und theatralisch empfunden wurden. Außerdem hätte er gerne seine Chöre mit besseren Sängern und sein Orchester mit besseren Solisten ausgestattet, was höhere Kosten zur Folge hatte. In der Gegenwart haben sich diese Streitthemen verwandelt, aber die grundsätzliche Auseinandersetzung ist geblieben.

In vielen Gemeinden hat die Kirchenmusik die Gottesdiensträume durch das gesamte Kirchenjahr hindurch in Konzertsäle verwandelt. Dass Karfreitag ist, erkennt man in solchen Kirchen nicht am leeren Altar, sondern daran, dass der ganze Altarraum mit scheußlichen aufsteigenden Aluminiumpodesten vollgestellt ist. Hinter dem Altar lugen Batterien halb zusammengeklappter Notenständer hervor, plus Geigenkästen und Kontrabaßhüllen und noch weiter rechts drei oder vier Pauken, die nur einmal im Jahr für das Weihnachtsoratorium benötigt werden. Wehe, es wagt sich ein Pfarrer daran, sich über diesen Zustand geistlicher Armut und Gleichgültigkeit zu beschweren! Das in solchen Fällen gerne gebrauchte Gegenargument lautet: Bei einer Aufführung der Matthäuspassion (oder der Johannespassion oder besonders des Weihnachtsoratoriums) kommen mehr Zuhörer in die Kirche als zu den Gottesdiensten des gesamten Kirchenjahres. Nur stellt sich dann die theologisch anspruchsvolle Frage, ob eine Aufführung der Johannespassion einem Gottesdienst gleichzusetzen ist. Man kann das auch an der Entwicklung ablesen, bei kirchenmusikalischen Konzerten Chor und Orchester nicht mehr unsichtbar auf den dafür vorgesehenen Emporen zu plazieren, sondern herunter zu holen in den Altarraum. Denn die im Publikum sitzenden zahlreichen Angehörigen wollen die mitsingende Großmutter im zweiten Alt gerne sehen.[1] Wer als Kantor solches zuläßt, der trägt im Konzert wie die männlichen Solisten dann auch den Frack, der eigentlich dem bürgerlichen Konzertbetrieb vorbehalten ist.

Kirchliche Marketingexperten vernebeln diese Unterscheidung zwischen Gottesdienst und Kirchenmusik gerne in eine riesige Grauzone, in der theologische Beliebigkeit herrscht. Wir können über jeden Menschen froh sein, heißt es dann, der überhaupt in die Kirche kommt. Ob diese Menschen einen Gottesdienst oder ein (geistliches) Konzert besuchen, das kann uns gleichgültig sein. Und wenn diese Menschen nach der Johannespassion für die Musiker applaudieren wollen, dann ist das doch gar nicht so schlimm. Wer sich darüber beschwert, der trägt das Kainszeichen der Zugehörigkeit zur traditionalistischen Kerngemeinde. Die sollen sich gefälligst nicht so anstellen. Wir (das klerikale Gemeinschafts-Wir) können froh sein,  dass überhaupt so viele Menschen die Kirchenkonzerte besuchen. Wieso soll man Gottesdienst, liturgisches Feingefühl noch ernst nehmen, wenn man allein auf Besuchszahlen schielt? Erlaubt ist, was Besucher bringt, nur so kann man gegen den Trend wachsen. Wie man so etwas ins Extrem treibt, können die kirchenmusikalischen und -politischen Werbestrategen am Zustand des öffentlich-rechtlichen Fernsehens sehen, das sich allein den Einschaltquoten verpflichtet fühlt.

Es lohnt sich nun, einen Blick auf die kirchenmusikalischen – sagen wir – Kooperationsstrategien zu werfen. Die erste und durchaus vernünftige Strategie schließt ein Bündnis zwischen Theologie und Kirchenmusik. Aus dieser Zusammenarbeit resultieren wunderbare Gottesdienstreihen wie zum Beispiel „Bach um Fünf“ (http://hofundstadtkirche.de/termine/chor-um-funf/ ) an der Neustädter Hof- und Stadtkirche in Hannover, wo einmal im Monat am Sonntagnachmittag im Gottesdienst eine kirchenjahreszeitlich passende Bachkantate oder –motette aufgeführt wird. Liturgie, Predigt und Choräle nehmen die biblischen oder erbaulichen Themen der Kantate auf und versuchen sich an einer theologischen Deutung, denn die oftmals der lutherischen Orthodoxie des 17.Jahrhunderts verpflichteten Kantatentexte bedürfen ja ihrerseits der Erklärung und Deutung für die Gegenwart[2].

Im misslungenen Fall sieht die „Kooperation“ so aus, dass der Sonntagsgottesdienst durch ständig eingespielte Chor-, Orgel- oder Orchesterstücke außerordentlich aufgebläht wird. Das gilt insbesondere für Weihnachtsgottesdienste, zumal das kirchenmusikalische Weihnachtsliederrepertoire in der Regel doch außerordentlich begrenzt ist. Und viele Kantoren sind nicht bereit, für solche Gottesdienste eigens zu proben, da ja die Proben den Werken der konzertanten Aufführung vorbehalten sind. Die Kirchenmusik wird so im Gottesdienst zum Ornament und läuft spirituell, aber auch theologisch ins Leere. Am Ende haben beide, Gottesdienst wie Kirchenmusik verloren.

Die nächsten Strategien betreffen die kirchenmusikalische Aufführungspraxis. Viele Kantoren arbeiten sich Jahr für Jahr an denselben Werken ab: Johannespassion, Matthäuspassion, H-Moll-Messe, Weihnachtsoratorium von Bach, Elias von Mendelssohn, Brahms-Requiem, Mozart-Requiem. Damit ist der kirchenmusikalische Mainstream in einem Vierjahresturnus abgedeckt. Moderne oder auch nur unbekannte Kirchenmusik kommt nicht vor. Das Publikum bekommt serviert, was es erwartet, passend zur Kirchenjahreszeit „Es ist ein Ros entsprungen“ und „O Haupt voll Blut und Wunden“.

Die Chöre werden insbesondere in den Frauenstimmen bis an die Grenze der Überfüllung vergrößert. Wenn das Verhältnis von Männer- zu Frauenstimmen Eins zu Vier beträgt, kann kein ausgewogener Chorklang mehr entstehen. Diese riesigen Chöre entsprechen auch nicht der Aufführungspraxis Bachs. Die meisten Kantoren wissen mittlerweile um die historische Aufführungspraxis, die inzwischen aber – kleiner rhetorischer Trick – „historisch informiert“ genannt wird. „Informiert“ kann bedeuten, dass der jeweilige Kantor einmal eine CD des aufgeführten Werkes mit Nicolas Harnoncourt oder Philippe Herreweghe gehört hat, es bedeutet nicht, dass man sich unbedingt und unter allen Umständen auf historische Instrumente, Spielpraxis und Aufführungsbedingungen einlässt. Der große Anteil an Frauenstimmen ist der zivilreligiöse Kompromiss der Kirchenmusik. Denn die Menge der beteiligten Sängerinnen und Sänger sorgt vor der Aufführung für Werbung und während der Aufführung für Zuhörer. Eine musikalische und theologische „Erziehung“ des Publikums findet nicht mehr statt, wenn man sich nicht auf das Risiko schlecht besuchter Konzerte einlassen will. Die Furcht, vom Mainstream abzuweichen, begrenzt das Repertoire und macht das Kirchenkonzert zum beliebig wiederholbaren Ritual. Das ist in der Oper nicht anders: Das Abonnentenpublikum liebt die „Fledermaus“ und die „Zauberflöte“ eben mehr als eine moderne oder eine unbekannte Oper.

Diese musikalische Kritik der Kirchenmusik wäre noch weiter zu entfalten, aber das soll hier nicht das Thema sein. Hier interessiert vor allem das Verhältnis von Musik und Theologie bzw. Liturgie.

In der nächsten, hier zu betrachtenden Strategie setzt sich der Kantor an die Stelle des Theologen und beginnt, in der Regel um der Pluralität der Zuschauer willen, eine Art Widerlegung der Passionsgeschichte mit theologischen und musikalischen Mitteln. Manchmal macht das der Kantor auch nicht selbst, sondern er läßt stellvertretend einen ambitionierten Deutschlehrer aus dem Bass einen Essay im Programmheft schreiben. Man muss kein Prophet, um vorherzusagen, dass in solchen kurzen Essays regelmäßig Hans Blumenbergs langer Essay über die „Matthäuspassion“[3] und Adornos[4] Bach-Aufsatz zitiert werden, um die jeweilige Passion (Johannes, Matthäus oder Markus spielt keine Rolle) gegen angeblich konventionelle Kirchlichkeit zu distanzieren. Das läuft dann in der Regel darauf hinaus, dass das Musikalisch-Ästhetische in der säkularen Welt zur Fluchtburg des Religiösen geworden ist: Passionsgeschichte läßt sich nur dann ertragen, wenn sie als Chor, Choral und Rezitativ gesungen wird. Einzig dort ist dann noch ein „Funke“ (oder wahlweise auch ein „Vorschein“ oder „Abglanz“) des Religiösen zu finden. Das kirchenmusikalische Konzert wird zum kompensatorischen, säkularen Ersatz-Gottesdienst stilisiert, der Kirchenmusikdirektor wird zum Ersatz-Hohepriester, die Solisten zu Diakonen, der Pauker oder der Continuospieler zum Kirchendiener. Die Partitur wird zur Liturgie, der riesenhafte Chor zur Schar der kerzentragenden und Weihrauch schwenkenden Meßdiener, und die Gemeinde zur unverbindlichen Masse der Religionsinteressierten und Bildungsbeflissenen.

Zelebriert wird selbstverständlich nicht ein christlicher Gottesdienst, sondern eine Art Religion des halben und ganzen Zweifels, des klugen und vermeintlichen Unglaubens in einer am Christentum nicht mehr interessierten Welt. Dazu gehört auch das Ressentiment gegenüber den traditionellen Beständen der Theologie, die ihre Legitimation plötzlich nicht mehr aus sich selbst, sondern durch die Bach'sche Musik erhalten. Die Bußpropheten dieser modern-säkularen kirchenmusikalischen Zweifelsreligion heißen Blumenberg und Adorno, jedenfalls werden sie zu solchen stilisiert, unabhängig davon was beide in ihren einschlägigen Aufsätzen und Büchern behauptet haben. Das ist alles so langweilig wie voraussehbar, und im besten Falle dementiert die Musik solche verschwurbelten philosophisch-theologischen Gedanken, und man findet Erleichterung in der Tatsache, dass neunzig Prozent aller Konzert- und Theaterbesucher kein Programmheft erwerben.

Sehr merkwürdig wird es allerdings, wenn nun die offizielle Kirche plötzlich anfängt,  solch eine merkwürdig säkular angepasste Zweifelsreligion zu goutieren, denn der Erfolg der vielen Zuschauer gibt den theologisierenden Kirchenmusikdirektoren ja scheinbar recht. Der „fünfte Evangelist“ (so Albert Schweitzer) wird plötzlich zum Anführer der fünften Kolonne des Evangeliums. Mit seiner Musik lässt sich das Evangelium im melodischen Gewand in die bürgerliche Zuschauerkultur hineintransportieren.  Und von dort ist es  dann nicht mehr weit zu den berüchtigten religionspädagogischen Schreittänzen um den Altar herum, wenn denn die Podeste endlich einmal weggeräumt sind.

Aus der Sicht der klerikalen Hierarchie spricht wenig dagegen, das Argument der schlechten Theologie zu vernachlässigen, denn das hat man ja gelernt, sich vor den Zumutungen theologischer Argumente durch einen sozusagen gymnastischen und geschmeidigen Umgang zu schützen. Kirchenleitungen betreiben nicht mehr selbst Theologie, sie sind nur noch – um die in diesem Fall treffende Wendung der historischen Aufführungspraxis aufzunehmen – „theologisch informiert“[5].

Die Kirchenmusik segelt unter der Flagge einer vermeintlich säkularen bürgerlicher Religion und betreibt dennoch das Geschäft der Affirmation überkommener  und gefrorener kirchlicher und liturgischer Praxis. Wenn man sich gegenseitig vor den eigenen Karren spannen lassen will, verlieren am Ende beide Beteiligten. Das, wovon man sich distanziert, wird indirekt wieder affirmiert. Der Grund dafür ist ganz einfach. Kirchenmusik kann den Gottesdienst im Konzert nicht läutern, übertreffen oder gar verwandeln, weil sie an den Raum der Kirche gebunden bleibt. Die harten, rückenunfreundlichen Kirchenbänke sorgen dafür, dass kein Zuschauer den Ausführungen der Programmhefte Glauben schenkt. Kirchenräume lügen nicht.

Aber es geht auch anders.

3. Erzählte Passion mit Musik und Theater

Palmsonntag, Anfang der Karwoche 2014, im ausverkauften Baden-Badener Festspielhaus: Simon Rattle, die Berliner Philharmoniker und der Rundfunkchor Berlin führen Bachs Johannespassion auf. Eine zweite Vorstellung folgt am Karfreitag, fünf Tage später. Eine Aufzeichnung davon war auch im Fernsehen zu sehen.[6] Das Festspielhaus ist – wie der Name sagt – keine Kirche, und es verträgt auch nicht jede Form geistlicher Musik. Vor einigen Jahren war das Bach Collegium Japan mit der H-moll-Messe zu hören, und diese nun wahrhaftig historisch gut informierten Musiker kamen mit der Akustik und der Größe des Festspielhaussaales nicht richtig gut zurecht. Sie verstärkten damit noch die Vermutung, dass zur historischen Aufführungspraxis eben nicht jeder beliebige Konzertsaal taugt, sondern dass die Praxis im Falle historischer Kirchenmusik auch konstitutiv den „richtigen“ Raum, eben eine Kirche benötigt.

Denselben Effekt kann man bei vielen der im Moment beliebten Barockopern sehen. In der Regel trifft eine Musik, die möglichst „historisch“, also mit alten Instrumenten, alter Stimmung, Spieltechnik und Phrasierung aufgeführt wird, auf eine moderne Regietheater-Aufführung, der jegliche Form von Historismus auf das Gründlichste ausgetrieben worden ist. Löbliche Ausnahmen bilden die Karlsruher Händel-Festspiele, die mit Inszenierungen wie „Radamisto“ und "Riccardo Primo"[7] die historische Regiepraxis und barocke Gestenkunst wieder belebt haben.

Nun wird ein Dirigent wie Simon Rattle nie in den Verdacht geraten, sich der historischen Aufführungspraxis verschrieben zu haben, obwohl sich in der Continuo-Gruppe seiner Johannespassion ein barockes und ein klassisch-modernes Cello abwechseln. Er hat sich auch eine andere Strategie zurecht gelegt, die er vor einigen Jahren schon an der Matthäuspassion erprobt hat. Für die Aufführung spielt ein verkleinertes Ensemble der Berliner Philharmoniker,  der Berliner Rundfunkchor singt mit ca. 60 Stimmen, also für eine historisch informierte Aufführung ein vergleichsweise großer Chor. Aber das Neue ist, dass Chor und Solisten die Johannespassion „spielen“.  Dafür zeichnet der amerikanische Regisseur Peter Sellars verantwortlich.  Dieser hat die Passionsgeschichte nicht inszeniert, für die Matthäuspassion sprach er von einer „Ritualisierung“ der Geschichte, und das kommt auch bei der Johannespassion dem, was die Zuschauer erleben, doch sehr nahe. Chor und Solisten sind mit Ausnahme der Sopranistin und der Altistin in Schwarz gekleidet. Der Johannespassion fehlt im Gegensatz zu ihrer Schwester die monumentale Ambition, sie gilt als inniger, konzentrierter, meditativer - und darum als besser geeignet für kleinere Ensembles. Simon Rattle, der vor einigen Jahren die Johannespassion in der Berliner Philharmonie mit diesem Konzept der Konzentration und Innigkeit ergreifend aufführte, gelingt an diesem Abend etwas ganz Anderes, Besonderes. Chor und Sänger agieren halb-szenisch - ohne Kulisse, ohne Kostüme, mit Ausnahme eines Tuches, das zum Verbinden der Augen dient, ohne Requisiten. Und hier geschieht nun wirklich etwas Neues.

Denn die Inszenierung macht unaufdringlich die "Geschichte", die "Erzählung" der Passion sichtbar, vielleicht sogar gegen die Intention des Evangelisten Johannes, bei dem ja der ins Fleisch (Joh 1,1ff.) gekommene Christus sofort weiß, dass die Kreuzigung nur Durchgangsstadium zur Auferstehungswirklichkeit ist. Der Gottessohn im Johannesevangelium leidet gar nicht richtig. Diesen Eindruck korrigiert in einem ersten Schritt das Libretto von Bachs Werk, auch durch die eingefügten interpretierenden Choräle. In der Inszenierung von Sellars wird plötzlich die Geschichte wie ein kammerspielartiges Theaterstück sichtbar. Im Zentrum dieses Kammerspiels stehen die Figur des Jesus und der Evangelist. Jesus steht im Mittelpunkt, und das zeigt eine einsame Lampe die vom Schnürboden herunter mitten im Bühnenraum hängt. Im Schein dieser Lampe hält er sich auf, wird er gefangen genommen, verhört, verurteilt, gefoltert, gekreuzigt.

Die Solisten der Passion, die wie der Chor alle auswendig singen, spielen nun die Passionsgeschichte, die Verhaftung, den Verrat des Petrus, das Verhör, die Verurteilung, die Kreuzigung selbst. Der Evangelist als zweite zentrale Figur begleitet die Hauptfiguren Jesus, Petrus, die Magd, Pilatus wie ein Deuter, Kommentator und Interpret. Er schaut dem Pilatus bei seinem Urteil über die Schulter, er begleitet den weinenden Petrus, er ist ein "Teilnehmer" an der Passionsgeschichte, ohne dass ihn die anderen sehen und erkennen. Er ist der "Geist der Erzählung". Er ist von dem Geschehen überwältigt, er leidet mit, aber zugleich ist er auch so etwas wie ein gestaltender Regisseur, womit die Rolle des Evangelisten als Autor der Passionsgeschichte meines Erachtens richtig eingefangen wäre. Die ganze so erzählte Geschichte wird nicht drastisch und plakativ, sondern behutsam und vorsichtig dargestellt. Dem gefangenen Jesus binden die Wächter ein Tuch um die Augen. Nach seiner Verurteilung wird Jesus auf dem Hügel Golgotha ans Kreuz geschlagen, in der Baden-Badener Aufführung liegt er auf dem Boden, mehr nicht. Kein Holzkreuz, keine weiteren liturgischen Requisiten.

Das gilt auch für die anderen Figuren: Pilatus trägt als einziger ein weißes Hemd zum schwarzen Anzug. Nach der Verurteilung Jesu sitzt er ratlos auf dem Podest hinter dem Chor und grübelt über seine Entscheidung.

Der Chor wird sozusagen um dieses Kammerspiel herum angeordnet. Zwar greift er in den Turbae-Chören (Kreuzige, Wir haben ein Gesetz etc.) ins Geschehen ein, aber da er in den Chorälen das Geschehen auch interpretiert, hat ihn Sellars auf einem flachen Podest auf der linken Seite platziert. Von dort kommt er immer dann herunter, wenn es nötig ist, ins Geschehen einzugreifen. Am ergreifendsten geschieht das nach dem Tod Jesu, als der gesamte Chor rund um den Leichnam kniet und die entsprechenden Passionschoräle singt. Als Trauernde beweinen die Sänger den vom Kreuz abgenommenen Leichnam. Am Anfang der Passion liegen alle Sänger schlafend auf dem Boden und erwachen erst zu den "Herr, Herr"-Rufen des Eingangschors. Sie erheben sich, fangen an zu gestikulieren und zeigen staunend mit dem Finger in den Himmel: Die Passionsgeschichte des Gottessohnes wird wieder lebendig. Später schütteln die Sänger als Soldaten unter dem Kreuz den Würfelbecher, um die Kleider Jesu zu verteilen. Und in der berühmten Arie mit den "Wohin?"-Einwürfen verteilt sich der Chor in kleinen Gruppen über die gesamte Bühne, um eine Art Stereo-Effekt zu erzeugen, was im übrigen das einzige ist, was diesem hervorragenden Chor an diesem Abend nicht ganz richtig gelingen will.

4. Ritualisierung der Passionsmusik?

Peter Sellars, dem man nun einen Hang zum Punk, zum Schrillen und zum Provokativen wahrlich nicht absprechen kann, hat sich für diese Aufführung eine beinahe protestantische Zurückhaltung auferlegt: Die grellen Farben sind alle im Köcher geblieben. Damit gelingt es ihm, einen bedeutenden interpretatorischen Gewinn zu erzielen. Die Rezitative, die bei den kirchlichen Aufführungen oft zu den langweiligen Interludien zwischen den Chorteilen degradiert werden, werden plötzlich aufgewertet. Die Balance zwischen deutendem Chorälen, interpretierenden Arien und erzählenden Rezitativen erscheint wieder hergestellt.

Die sparsam eingesetzte Theatralik verschafft der Erzählung wieder ein Übergewicht über die Musik. Sie  stiftet in diesem Fall eine größere Einheit als es konventionelle, rein musikalische Aufführungen vermögen. Das ist die größte Wirkung, welche diese Aufführung erzeugt: eine Humanisierung der ewig wiederholten Passionsgeschichte, die unter ihrer theologischen, liturgischen und musikalischen Patina gar nicht mehr zu erkennen war. Das Programmheft spricht anbiedernd und liebedienerisch von einer "überkonfessionellen" Interpretation. Aber das erscheint zu einfach. Es ist eine humane, schimmernde Interpretation, die der Passionsgeschichte ihr Geheimnis läßt. Jedenfalls erscheint sie frei von klerikaler Vereinnahmung. Im Festspielhaus handelt es sich nicht um die Fortsetzung des Gottesdienstes mit musikalischen Mitteln, sondern um eine Freilegung des Evangelischen, indem das Klerikale einfach weggesprengt wird. Das ist das Verdienst von Sellars' Deutung, dass sie die eingefahrenen Interpretationskanäle aufreißt und neue Deutungselemente sichtbar macht.

Sellars selbst hat sich zu seiner Auffassung der Bach'schen Passionen schon einmal aus Anlaß der Aufführung der Matthäuspassion in Salzburg mit denselben Ensembles, den Berliner Philharmonikern und dem Rundfunkchor geäußert.

Diese Passage, die dann leicht verändert auch in das Baden-Badener Programmheft aufgenommen wurde, sei hier zitiert: „Die heutige Aufführung von Bachs Matthäus-Passion mit den Berliner Philharmonikern findet nicht in einer Kirche oder in einem Gottesdienst statt. Wir predigen keine Glaubenssätze, und wir bekräftigen keine Dogmen, weder musikalische noch religiöse. (...) Vielleicht erschließt ein weltlicher Rahmen dem Werk neue Möglichkeiten und ein neues Publikum. Wir möchten von den spirituell aufgeladenen Lebensentwürfen und den von moralischen Herausforderungen gesäumten Pfaden sprechen, mit denen sich jeder Mensch zu jeder Stunde befassen muss. Vielleicht gelingt es uns, die Choräle nicht als formelhafte Aussagen einer offiziellen Körperschaft zu begreifen, sondern als zutiefst persönliche Gedanken und Äußerungen, die niemand von uns auch nur im Traum anderen gegenüber laut aussprechen würde. Was wir als Künstler bestenfalls leisten können, ist, jedem von uns einen individuellen und, angesichts unserer kurzen gemeinsamen Zeit hier im Konzertsaal, hier auf der Erde, ganz persönlichen Zugang zu diesem Werk zu eröffnen.“[8]) Das klingt nach einem pluralistischen Versuch der Befreiung von den Zwängen enger klerikaler Dogmatik, auch eines eng verstandenen Konfessionalismus. Aber hier scheint Vorsicht geboten. Die Standardaufführungen in den Kirchen kehren die Musik hervor, um damit die Geschichte letztendlich zu verdecken, man kehrt die große Leistung der Laienchöre heraus, während die Rhetorik der Passionserzählung zum Mittel der Selbstdarstellung degradiert wird. Musik triumphiert über Passionsgeschichte. Es siegt die unverbindliche Religion der halb glaubenden Zweifler, der Weihnachtschristen, die nur ihre Kirchensteuer zahlen. Sellars macht sich die musikalische Rhetorik Bachs und die literarische Rhetorik des Evangelisten zunutze, um mit den Mitteln von Theater, Text und Musik die Passionsgeschichte erneut in den Mittelpunkt zu stellen. Insofern zeigt Sellars' Ritualisierung der Passionen sehr viel mehr theologischen Geist als jede konventionelle Oratorienchoraufführung, die sich im Programmheft gekonnt oder weniger gekonnt von der Passionsgeschichte distanziert.

Man kann die mit Sellars' Inszenierung begonnene Entwicklung noch weiter treiben. Weitere Vorbilder sind durchaus vorhanden. So hat der verstorbene Basler Regisseur Herbert Wernicke unter dem Titel "Actus tragicus" eine Folge von sechs Bachkantaten in Szene gesetzt, indem er mit einem genialen Setzkasten- Bühnenbild mehrere triviale Alltagsgeschichten parallel inszenierte und diese in Beziehung setzte zu den theologischen Reflexionen der Kantatentexte.[9] Ein weiteres Beispiel wäre eine Aufführung von Händels "Messias" im Theater an der Wien[10] aus dem Jahr 2009. Der Messias erzählt die Erlösergeschichte in einer besonderen Version. Die Pointe der Wiener Aufführung besteht darin, dass der Regisseur die biblische Erlösungsgeschichte auf der Bühne mit einer Alltagsgeschichte von Liebe, Tod und Vertrauensbruch konfrontierte, was dann als Kommentar zur Erlösungsbedürftigkeit des Menschen und zum anderen als Humanisierung eben dieser Erlösungsgeschichte gelesen werden konnte. 

5. Verklingende Stille

Was will der Konzertbesucher hören, wenn er ein Passionskonzert besucht? Die viva vox evangelii oder den historischen Originalklang? Beides ist, so steht zu fürchten, verloren gegangen. Und beides ist nur noch in Annäherungen zu haben, die ihrerseits in Frage gestellt werden. Mißtrauisch macht die allzu offensichtliche Funktionalisierung der Musik, in welche Richtung auch immer. Bachs Musik ist weder Vehikel zur Mission noch Sedativ gegen den Skandal des Wortes vom Kreuz, das sich in der Passionsgeschichte zeigt. Sie fördert auch kein bürgerliches Restchristentum, das die kirchenentfremdeten Musikliebhaber jahreszeitenabhängig in die zu Konzertsälen verwandelten Kirchen treibt. 

Viel wäre gewonnen, wenn in einer Passionsaufführung das Inkommensurable der Passionsgeschichte wie auch der Musik dazu deutlich würde. Also die Passionsgeschichte als Widerspruch zum Geschehen der Welt und die Musik als der paradoxe Versuch nachzuvollziehen, was doch nicht nachzuvollziehen ist.  Die Paradoxie besteht darin, nach ästhetischen Kriterien darzustellen, was doch nichts anderes als das schiere Grauen ist.


[1]    Der besondere Fall, dass väterliche Tenöre oder mütterliche Sopranistinnen ihre schreienden Babies oder ihre gelangweilt quengelnden Grundschulkinder mitbringen, sei hier außer Acht gelassen.

[3]    Hans Blumenberg, Matthäuspassion, Frankfurt/M. 1988.

[4]    Theodor W. Adorno, Bach gegen seine Liebhaber verteidigt, Frankfurt/M. 1963.

[5]    Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Theologische Aufklärung. Abschiedsvorlesung am 28.1.2014, München 2014.

[9] Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Freiheit – Entscheidung – Gewohnheit – Frömmigkeit. Anmerkungen zum Projekt einer theologischen Alltagsethik, BThZ 24, 2007, 215-226 sowie ders., Arien am Bügelbrett, 2007.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/89/wv10.htm
© Wolfgang Vögele, 2014