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Von Psychiatern und NationalsozialistenEine BuchbesprechungAndreas Mertin
Im September 2014 ist als 357. Band der Anderen Bibliothek das Buch von Jack El-Hai „Der Nazi und der Psychiater“ erschienen. Thema des Buches ist jener amerikanische Militärpsychiater Douglas M. Kelley, der Hermann Göring und die anderen führenden Nationalsozialisten, die sich vor dem Nürnberger Gericht verantworten mussten, befragt und untersucht hat. Es ging den Amerikanern seinerzeit nicht nur um die Frage der gesundheitlichen und psychischen Verfassung der Angeklagten, sondern auch darum, überhaupt zu verstehen, was Menschen dazu bringen konnte, derartige Verbrechen wie die nationalsozialistischen in Auftrag zu geben. Waren diese Menschen im psychiatrischem Sinne krank, kam in ihnen etwas zum Ausdruck, was der Mentalität der gesamten deutschen Bevölkerung entsprach, oder war es denkbar, dass sich derartige Persönlichkeiten überall auf der Welt entwickeln konnten? Und was machen diese Gespräche mit den Menschen, die sie durchführen, wie veränderten die Erkenntnisse sie und welchen Einfluss hatte das auf ihr Leben? Zu welchen Ergebnissen kommen Menschen, die von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen aus, diese Fragen angehen? Denn neben dem Militärpsychiater Douglas M. Kelley wird auch noch der Psychologe Gustav Mark Filbert in dieser Sache tätig und kommt zu anderen Schlussfolgerungen. Das hätte also einen spannenden Band ergeben können, aber nach der Lektüre fragt man sich dann doch, ob es nicht auch anders gegangen wäre und was dieser Band eigentlich in der bibliophilen Reihe der Anderen Bibliothek zu suchen hat. An den 629 hochgestellten Fußnoten in roter Farbe im Text und den eingeschobenen Schwarz-Weiß-Fotos der Protagonisten kann es wohl nicht liegen. Und an den zu kolportierenden Inhalten auch nicht. Das Buch hätte meines Erachtens besser in irgendeine Spiegel-Reihe gepasst, die sich ja auf diverse Darstellungen rund um den Nationalsozialismus spezialisiert haben. Dass Hermann Göring sich mit Zyankali umgebracht hat und Jahre später sein amerikanischer Militärpsychiater auch, gehört in die Kategorie Panorama einer Wochenzeitschrift, muss aber nicht bibliophil über 300 Seiten ausgebreitet werden.
Ganz am Ende seines Buches kommt Jack El-Hai noch einmal auf die Bedeutung der psychiatrischen Untersuchungen der Nazigrößen zu sprechen. Die neueren Forschungsergebnisse gäben dem Psychiater Kelley Recht, „dass die einzigartige NS-Psyche ... ein Märchen ist“ (286), dass mit anderen Worten, nahezu jeder, der in die entsprechende Situation komme, auch zum monströsen Verbrecher werden kann. Diese erschreckende Erkenntnis bleibt als Bilanz des Buches stehen. Empfehlenswert ist das Buch für jene, die sich noch nicht mit der Frage beschäftigt haben, wie jene Menschen funktionierten, die für die grausigsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts verantwortlich waren. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/92/am485.htm
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