Handbuch der Evangelischen Ethik

Eine Buchvorstellung

Andreas Mertin

Huber, Wolfgang; Mereis, Torsten; Reuter, Hans-Richard (Hg.) (2015): Handbuch der Evangelischen Ethik. München: Beck, C H.

Klappentext: „Dieses Handbuch bietet eine von führenden Fachleuten verfasste Gesamtdarstellung der evangelischen Ethik. Sie umfasst deren Grundlagen und Teilgebiete auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion und im Gespräch mit Philosophie, Rechts, Sozial- und Naturwissenschaften. Die wissenschaftlich-technischen Entwicklungen mit ihren riskanten Folgen, die Globalisierung und die zunehmende Individualisierung der Lebensentwürfe stellen frühere Selbstverständlichkeiten in Frage und werfen neue ethische Fragen auf. Dabei wächst das Interesse an den Orientierungspotentialen der Religionen. Das Handbuch der Evangelischen Ethik bietet einer weiteren Öffentlichkeit in Wissenschaft, Politik, Verwaltung, Justiz, Wirtschaft, Gesundheitswesen, Medien und in den Kirchen kompakte Informationen zur Urteilsbildung in den wichtigsten Handlungsfeldern. Zugleich dient es als Lehrbuch für Studium und wissenschaftliche Forschung.“


Gut 700 Seiten umfasst dieses grundlegende Handbuch zur Evangelischen Ethik. Es gliedert sich in 10 Abschnitte:

Hans Richard Reuter              Grundlagen und Methoden
Wolfgang Huber                    Rechtsethik
Reiner Anselm                       Politische Ethik
Torsten Meireis                      Ethik des Sozialen
Traugott Jähnichen                Wirtschaftsethik
Petra Bahr                            Ethik der Kultur
Frank Surall                          Ethik der Lebensformen
Peter Dabrock                       Bioethik des Menschen
Ulrich H.J. Körtner                 Bioethik nichtmenschlicher Lebewesen
Elisabeth Gräb-Schmidt         Umweltethik

Abgesehen vom grundlegenden ersten Kapitel ist dabei jedes Sachgebietskapitel aufgeteilt in (1) eine definitorische Bestimmung und einen einleitenden Überblick, (2) Problemgeschichte, Theorieansätze und Grundbegriffe, (3) Problemfelder und (4) Literatur.

Warum Ethik – so lautet die erste Frage des ersten Kapitels und Hans Richard Reuter meint beobachten zu können, dass – anders als vor vierzig Jahren – heute die Fragestellungen der Ethik wieder Konjunktur hätten. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Beobachtung stimmt. Biographisch urteilen kann ich nur über die Zeit vor dreißig Jahren und die war mit ethischen Fragestellungen gesättigt. Das war die Zeit vor den Diskussionen zur Postmoderne, die Zeit der Nachwehen der 68er-Revolution – ein in ethischen Fragestellungen sehr ausgeprägte Zeit. Wenn also heute mehr über Ethik gesprochen wird, dann sicher nur in dem Sinne, dass bestimmte ethische Fragestellungen heute präsenter sind als seinerzeit. Dass aber der gesamtgesellschaftliche Stellenwert der Ethik tatsächlich gestiegen ist, würde ich im Blick auf die im gleichen Zeitraum zu beobachtende dramatische Ästhetisierung der Lebenswelten stark bezweifeln. Das aber könnte gerade ein Grund sein, sich über die Grundlagen, die Reflexionsfelder und die Lösungsansätze der Ethik, insbesondere hier natürlich der evangelischen Ethik noch einmal Rechenschaft abzulegen. Es könnte ja sein, dass es zwar durchaus evangelische ethische Reflexionen zu diversen Aspekten gibt, diese aber gesamtgesellschaftlich gar nicht wahrgenommen werden und daher in einem gewissen Sinne bedeutungslos sind. Es könnte aber auch sein, dass die evangelischen ethischen Reflexionen deckungsgleich zu den analogen Reflexionen einer säkular gewordenen Gesellschaft geworden sind. Tatsächlich hängt es wohl stark vom jeweiligen Handlungsfeld ab, zu welchem Urteil man hier gelangt.

Darin sehe ich das besondere Verdienst dieses Handbuches, Rechenschaft über das Denken und die Tragweite evangelischer Ethik in heutiger Zeit zu geben. Jeder Leser kann sich hier selbst überzeugen, wie überzeugend die evangelischen ethischen Reflexionen zur Zeit sind.


Notabene

Das Kapitel über die Ethik der Kultur ist nicht nur das kürzeste im Handbuch, es perpetuiert zugleich die Sprachlosigkeit evangelischer ethischer Reflexionen zu kulturellen Fragen. Hier kommt man selten über tugendhafte Apelle hinaus. Das liegt nicht zuletzt an der Uferlosigkeit des in Anschlag gebrachten Kulturbegriffs, zum anderen aber auch daran, dass an dieser Stelle gerade nicht an den konkreten Herausforderungen der Gegenwart gearbeitet wurde. Die Weltgesellschaft bewegt zurzeit in oft schrecklicher Weise die Auseinandersetzung um die Grenzziehungen von Religion und Kultur. Ist die aus der Aufklärung übernommene Grenzenlosigkeit der Kultur noch zeitgemäß? Gibt es ethische Regeln für Phänomene, die man nur als Widerstreit zum Ethischen bezeichnen kann? Das Konfliktbeispiel der juristischen Auseinandersetzung um George Grosz Bilder zum Thema „Maul halten und weiter dienen“ greift schlichtweg zu kurz, denn hier wird keinesfalls ein wirkliches aktuelles ethisches Konfliktfeld berührt, denn die Konstellationen haben sich geändert. Der Konflikt um die Darstellbarkeit des Propheten Mohammed oder des Propheten Isis in einer globalisierten säkularen Kultur wäre da wesentlich präziser gewesen. Wie ist die zur Kunstaktion erklärte Verbrennung einer Bibel oder eines Korans zu bewerten? Wie ist ethisch zu urteilen, wenn Religion und Kunst in einen antagonistischen Konflikt geraten? Hier hätte ich mir mehr Antworten gewünscht.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/94/am498.htm
© Andreas Mertin, 2015