Die Welt, aus dem Jenseits betrachtet

Einige Bemerkungen über Dantes Commedia, Theologie und Kunst

Wolfgang Vögele

Dico che la teologia e la poesia
 quasi una cosa si possono dire....
Giovanni Boccaccio

Wie viele Höllen, Purgatorien
und Paradiese ich in mir trage!
Fernando Pessoa

1. Glaube im Gedicht?

Vor einiger Zeit, bei einer Tagung in Eisenach, kam das Gespräch auf Schriftsteller, die dem christlichen Glauben Form und Erzählung, Gestalten und Gestalt, gegeben haben. Gibt es Romanfiguren, die als gelungene Beispiele gelebten christlichen Glaubens angeführt werden könnten? An negativ gezeichneten Romangestalten aus dem christlichen Kontext herrscht ja wahrlich kein Mangel, von all den bigotten und heuchelnden Pfarrern, die längst zum Klischee geworden sind, über die verknöcherten Nonnen, Stiftsdamen und Diakonissen bis hin zu den zurückgezogen lebenden sektenartigen Gruppen, die sich zur Pflege ihres Eiferertums in die Einöde Feuerlands oder auf einen Bauernhof im Bayerischen Wald zurückgezogen haben. Aus diesem Reservoir von Klischees bedienen sich die Drehbuchschreiber von Fernsehkrimis ebenso wie leider auch anspruchsvollere Autoren.

Bei der Tagung löste die gestellte Frage zunächst allgemeine Ratlosigkeit aus. Niemand wusste einen Namen zu nennen. Die Diskussion bewegte sich auf die These zu, die Literatur habe Unglaube und Zweifel stets sehr viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als Glaube und Gewissheit. Nur das erste erzeuge die notwendigen Brüche und Spannungen, die sich in eine Erzählung verwandeln ließen. Nur das Gebrochene, Leidende, Verletzte lasse sich dann in Roman und  Novelle darstellen. Man denke an die Kritik der Selbstgerechtigkeit und der Rechthaberei des puritanischen Christentums in Hawthornes „Scharlachrotem Buchstaben“, an George Bernanos' deprimierende Darstellung der verzweifelten inneren Kämpfe eines katholischen Priesters in seinem „Tagebuch eines Landpfarrers“ oder an einige der Romane John Updikes, zum Beispiel „Das Gottesprogramm“ (Roger's Version), der in einer theologischen Fakultät spielt und die Grabenkämpfe und theologische Stipendien und Studienprogramme zeigt, oder auch an  „Gegen Ende der Zeit“ (In the Beauty of the Lilys). Über die Unmöglichkeit des Glaubens und die Möglichkeiten, die sich aus dieser Unmöglichkeit ergeben, hat sich auch der Philosoph Sören Kierkegaard verbreitet, aber seine Werke rechnen eher unter die Philosophie als unter die belletristische Prosa, wenn auch Kierkegaard in dieser Hinsicht seine eigenen Ansprüche erhob.

Christlichem Glauben, so die Meinung bei der erwähnten Eisenacher Diskussion, kann die Literatur niemals Aufmerksamkeit schenken, weil der Glaubende mit sich selbst im Reinen ist. Er präsentiert einen Zustand der Eindeutigkeit und der Übereinstimmung mit sich selbst, der literarisch nicht von Interesse ist, weil er keine darstellenswerten Konflikte oder mindestens Spannungen erzeugt. Wer mit seiner Glaubensgewissheit zufrieden ist, dem können auch Tragik, Schicksal, Krankheit und Schmerz nichts mehr anhaben. Es lohnt sich nicht, von dieser Gewissheit zu erzählen. Wer es trotzdem versucht, wird an den Untiefen des Banalen stranden und selig in Langeweile zugrunde gehen. Es fehlen notwendig Zwang und Zerrissenheit, Abgründe und Tragik.

Wenn man es so betrachtet, würde für den Glauben Ähnliches gelten wie für die Familie, von der Leo Tolstoj am Anfang von „Anna Karenina“ bekanntlich gesagt hat: „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; jede unglückliche Familie jedoch ist auf ihre besondere Weise unglücklich.“ Bei Tolstoj mündet das Unglück der Familie in den Ehebruch, das Unglück des Glaubens kann nur der Zweifel sein. Nur Unglaube stiftet Erzählungen. Gelungener Glaube muss nicht dargestellt werden. So die allgemeine Meinung in Eisenach.

2. Florenz und Exil

Seligkeit und Glaubensfreude sind also zu banal für Lyrik und Prosa? Zu ernsthaft, zu schlicht, zu eindeutig, um spannend davon erzählen zu können? Erst auf der Heimfahrt von Eisenach fiel mir die eine Ausnahme ein, die in jedem Fall genannt werden muß: Dante Alighieri und seine „Göttliche Komödie“. Den Anfang macht eine Szene im dunklen, unbekannten Wald. Der Dichter, sowieso schon in seiner midlife crisis, wähnt sich in Gefahr und trifft auf sein Vorbild, der zu seinem ersten Reiseführer wird, den antiken Dichter Vergil. Vom dunklen Wald aus überschreiten beide schnell den Totenfluss zum Jenseits, dann hinein in die umgekehrte Pyramide der Hölle, über den Läuterungsberg (Purgartorio) bis ins lichtvolle Paradies und zuletzt zu dem, was die scholastischen Theologen die „visio beatifica Dei“ genannt haben. Noch mehr Metaphysik kann gar nicht sein, aber Dante mischt seine Theologie auch mit einer ganz besonderen Poesie.

Nun würde man Dante allerdings nicht völlig gerecht, wenn man ihn als einen „christlichen“ Schriftsteller bezeichnen würde, denn er lebte in einer Zeit, der das Christliche noch völlig selbstverständlich war. Er kritisierte die Kirche, aber er zweifelte nicht an der Trinität. Er lebte innerhalb eines als selbstverständlich angenommenen Konsenses, den auch er nicht in Frage stellte. Das Konfessorische hatte Dante noch gar nicht nötig. Das hinderte ihn allerdings nicht an scharfer Kirchenkritik. Nein, Dante verfolgte mit seiner Commedia einen universalen Anspruch, noch diesseits des Dialogs der Religionen und des Dialogs mit dem Unglauben. Auf der Höhe der Wissenschaften und der Theologie seiner Zeit wollte er den Kosmos der Glaubenswelt abschreiten, um so zu einer fulminanten und mit Recht wagemutig genannten Kritik seiner Gegenwart auszuholen.

Im Mai oder Juni 1265 wurde er in Florenz geboren, über sein Sternzeichen, nämlich Zwilling, wissen wir besser Bescheid als über sein genaues Geburtsdatum. Und nur über sein Sternzeichen lässt sich der genaue Geburtstag ungefähr erschließen. Dantes Geburt jährt sich nun zum 750.Mal, und immer noch wird die Commedia gelesen, gedeutet, interpretiert, in andere Kunstwerke weiter entwickelt. Dante lebt weiter in Dante-Gesellschaften, in Scharen von Dantisten, Danteanern und Dantologen, die merkwürdige Dante-Bräuche pflegen, vor allem in Florenz[1], lebt weiter in Neuausgaben und Übersetzungen, in Bildern, Zeichnungen, Comics, Filmen und Theaterstücken, die sich auf die Commedia beziehen, in Anspielungen, Wiederholungen und Nachahmungen. Wie schon bei anderen Jubiläen erscheinen pünktlich die Artikel, die ihn pflichtschuldig auf den literarischen, theologischen oder künstlerischen Sockel stellen.[2] In Italien, wo die Lektüre der Commedia auf dem Lehrplan der Schulen steht, feierte man den Dichter mit Lesungen[3], bei denen der Schauspieler Roberto Benigni Auszüge aus dem Werk rezitierte. Er erreichte damit ein Millionenpublikum. Und sie alle, die kundigen und die unkundigen Leser, Liebhaber und Privatgelehrte, Professoren und Vereinsmeier, die, die des alten Italienisch kundig sind, und solche, die sich mit einer Übersetzung begnügen müssen, sie alle haben mit ihrer Bewunderung recht.

3. Demut des Lesers

Wenn man das Italienische, das Dante durch sein Werk begründet hat wie Luther das Deutsche durch seine Bibelübersetzung, nicht beherrscht, ist man auf Übersetzungen angewiesen. Solche Übersetzungen sind mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert: Sie müssen den historischen Abstand zwischen heutiger Lebenswelt und dem Florenz des 13. Jahrhunderts überwinden. Sie müssen entscheiden, ob sie den Text wie Dante in Versen wiedergeben oder sich auf die Wiedergabe des Inhalts in Prosa beschränken. Ich gestehe freimütig, dass ich mich als Leser mangels Kenntnissen nie an das Italienische gewagt habe. An mehreren Vers-Übertragungen ins Deutsche bin ich nach wenigen Gesängen gescheitert. Erst mit der Prosa-Übersetzung des Philosophen und Wissenschaftshistorikers Kurt Flasch[4] konnte ich mich bis zum Ende des Paradiso durcharbeiten und -kämpfen, und über große Strecken war es sogar ein (intellektuelles) Vergnügen.

Mit der Lesbarkeit ist es aber leider nicht getan. Je weiter die Lektüre voranschreitet, desto mehr bemerkt der Leser, dass er über das Florenz zu Lebzeiten Dantes, die politischen Kämpfe, die außenpolitischen Konstellationen, die damals aktuelle scholastische Philosophie und Theologie Bescheid wissen muss, wenn er der Lektüre Sinn und Bedeutung abgewinnen will. Und je mehr er sich darin vertieft, desto mehr gerät er ob Dantes umfassendem Anspruch, die ganze sichtbare und unsichtbare Welt seiner Zeit literarisch, theologisch und politisch zu vermessen, in ungläubiges Staunen, über dieses enzyklopädische Wissen, über diesen ungeheuren Mut des Exilanten, politische Gegner und Freunde frontal anzugreifen, über die frappierenden astronomischen Kenntnisse, die Dante mit der Theologie seiner Zeit verknüpft, und über vieles andere mehr. Auf seiner Wanderschaft durch Inferno, Purgatorio und Paradiso erschließt sich Dante, angeleitet von Vergil und seiner geliebten Beatrice, die gesamte damals bekannte Welt in der Spiegelung durch das Jenseits.

Die Commedia enthält eine Kosmologie, eine Eschatologie, sie ist, neben vielem anderen zugleich Schöpfungs- und Erlösungstheologie. Noch einmal: Für heutige Leser ist das schwer zu begreifen und zu durchschauen, und besonders die Lichttheologie des Paradiso bereitet heute Schwierigkeiten beim Verstehen.[5] Doch je weiter die Lektüre voranschreitet, desto mehr ahnt man wenigstens die ungeheure Weite des Raums, den Dante in der Commedia vermessen und durchschritten hat. Zu sehen und zu bewundern ist ein ungeheures kosmologisches Weltgebäude, in dem Theologie, Bibel, Astrologie[6] und Astronomie, Mathematik, Physik auf dem damaligen mittelalterlichen Wissensstand alle ihren angemessenen Platz finden. In dieses Weltgebäude eingezeichnet ist die Geschichte der Menschen von der griechischen und römischen Antike bis in die florentinische Gegenwart seines Lebens, samt tagespolitischen Intrigen und allen Fehlleistungen des katholischen Klerus: Papst und Kardinäle werden nicht verschont. Die Commedia lebt auch von der Enttäuschung des exilierten Dichters, nicht mehr in seine Heimat Florenz zurückkehren zu können. Dafür werden Gegner und ehemalige Weggefährten in der Hölle bestraft.

4. Kühnheit des Dichters

Man zögert doch, von der Commedia als einem theologischen Werk zu sprechen. Zwar steht die Theologie im Zentrum, aber sie wird eben angereichert und erweitert durch die Fülle der damals bekannten wissenschaftlichen Erkenntnisse. Wer als Leser bis zum 33. Canto des Paradiso vorangeschritten ist, der kann dort über die visio beatifica Dei lesen, über die glückselige Schau Gottes. Am Ende wird für Dante das Licht immer wichtiger, er verdichtet es, biblische Motive aufnehmend, zu einer Quelle, die so hell strahlt, daß kein Auge hineinblicken kann. Das ist der Gott, der erste Beweger (primum mobile) des Universums bei Aristoteles und genauso der biblische JHWH, der Mose im brennenden Dornbusch erscheint. Auch das Feuer des Dornbuschs, in das Mose nicht blicken kann, ist ja nichts anderes als ein Licht, das auf menschliches Maß heruntergebrochen wurde. Man kann die Commedia als ganz menschliche Geschichte lesen und wird dann vor allem vom Inferno fasziniert sein, wo der Dichter Intrigen, politische Ränke und Machtkämpfe vor allem seiner Geburtsstadt ausbreitet, um die Strafen zu begründen, die in streng hierarchischer und bürokratischer Ordnung in den sieben Kreisen der Hölle auf die Übeltäter warten. Man kann die Kosmologie und die Theologie Dantes ignorieren, weil sie noch schwerer zu verstehen sind als all die politischen Skandale und Kriege in und um Florenz, über die die Geschichte eigentlich längst hinweggegangen ist.

Gerade der Theologe muss sich die Kühnheit des Danteschen Unternehmens vergegenwärtigen. Wo man heute die Metaphysik aus den Augen verloren hat und sich in Predigten auf die Lebensgeschichte des Jesus von Nazareth konzentriert, so als ob man damit auf der sicheren theologischen Seite sei, wo man nicht mehr von einem wie auch immer gearteten Jenseits, nicht mehr richtig von Trinität und von Auferstehung redet, da besitzt der Dichter Dante eine Kühnheit, die schon über seine zeitgenössische Theologie und Philosophie hinausgeht. Er dichtet sich dorthin, wo sich schon damals nicht jeder Theologe in seinen Spekulationen hingewagt hat. Selbstverständlich gilt, dass es heute gute Gründe geben mag, theologisch nur noch zurückhaltend über Metaphysik und Kosmologie nachzudenken. Aber die Lektüre Dantes macht neben dem Staunen über dessen theologischen Mut eben auch die Dürre der gegenwärtigen theologischen Diskussion deutlich.

Heute noch beachtenswert ist Dantes Mahnung zu besonnenem Abwägen der Argumente, sei es im Theologischen, sei es im Politischen: „Und dies sei dir für immer wie Blei an den Füßen: Bewege dich langsam, wie ein müder Mann geht, wenn du etwas bejahst oder verneinst, was du nicht siehst. Denn wer ohne Unterscheidungen behauptet oder verneint, steht mit beiden Beinen auf der untersten Stufe der Torheit. Denn die eilige Meinung schlägt oft den falschen Weg ein, und am Ende bindet das Gefühl den Intellekt. Schlimmer als vergebens ist es, wenn einer vom Ufer abstößt und nach der Wahrheit fischt, aber die Kunst nicht beherrscht, denn er kehrt fragend zurück.“[7] Diese Mahnung zu intellektueller Redlichkeit legt Dante in den Mund Thomas von Aquins: Er warnt damit vor Ketzern, die vom richtigen Weg ins Paradies ablenken.

Dantes Kühnheit bestand darin, dem Leser eine ausgearbeitete Geographie, einen Atlas der jenseitigen Welt zu präsentieren. Dante behauptete, im Paradiso Gott geschaut zu haben, was in der Bibel dem Mose noch versagt wird. Dieser darf nur den Rücken Gottes sehen (Ex 33). Ähnlich ergeht es dem Propheten Elia, der Gott im Säuseln eines leichten Windes (1 Kön 19) entdeckt. Elias sieht Gott nicht, er spürt ihn nur. Dante wird diese Schau Gottes zuteil, und er beschreibt sie ohne ein Moment von Peinlichkeit oder Scheu. Und Dante scheut sich nicht, in Inferno und Purgatorio eine hierarchisch geordnete, streng nach Gesichtspunkte der Tatschwere verhängte Ordnung der Strafen für Sünde zu entwickeln, so als ob er genau gewusst hätte, wie Gott seine eigene Gerechtigkeit, welche die ungerechte Gerechtigkeit des Menschen aufhebt, einmal aus- und durchführen wird.

Im Inferno begegnet der Gott der Gerechtigkeit, im Paradiso begegnet der Gott der Liebe: „Die Natur der Welt läßt die Mitte ruhen und alles andere ringsum sich bewegen, und sie beginnt hier mit ihrem Ziel. Und dieser Himmel hat kein anderes Wo als Gottes Geist, in dem die Liebe sich entzündet, die ihn bewegt, und die Kraft, die er auf alles weiterleitet. Ihn umschließen nur Licht und Liebe, während ER alle anderen Sphären umschließt. Seine Bewegung wird durch nichts anderes bestimmt, aber alle anderen werden nach ihr gemessen (...).“[8] Gott ist keineswegs der alte Herr mit dem Rauschebart, wie er kindliche Vorstellungen prägt. Gott ist die immaterielle Quelle von Liebe und Licht, welche allererst in dieser Welt eine Ordnung stiftet. Ich hege Sympathie für Dantes unbedingtes Bedürfnis nach einer geordneten, geregelten Welt, und der Dichter hatte seinen guten Gründe dafür.

An keiner Stelle flüchtet sich Dante in wolkige, vieldeutige, flache oder dürre Formulierungen, die den Leser irgendwie vermuten lassen, der Autor habe sich wie ein schlechter Prediger mit einem oberflächlichen Blick auf die theologische Spekulation begnügt. Heutiger Theologie ist die Metaphysik nur noch herausoperierter Wurmfortsatz, der Dialog mit der physikalischen Kosmologie ist zu einem dünnen Rinnsal verebbt. Dantes Werk läßt noch heute deutlich spüren, daß er als Dichter diesen Dialog mit den kosmologischen Wissenschaften auf der Höhe seiner Zeit geführt hatte. Dabei referiert die Commedia diesen Dialog nicht, sondern setzt ihn voraus. Das Werk erweist sich am Ende nicht als reale metaphysische Geographie, sondern als ein langer mystischer Traum, der sich wie alle andere menschliche Erfahrung nicht vom Subjekt dieser Erfahrung, also seinem Autor, ablösen läßt. Nicht anders schrieb Paulus über seine Visionen des Auferstandenen (1 Kor 15).

Das Sehen Gottes im Licht taucht an mehreren Stellen im Paradiso auf. Der Kern dieses Lichts bleibt unsichtbar, denn es ist so hell, dass niemand ihn anschauen kann. Und Dante kommt trotzdem, trotz Ohnmacht und Schwindelgefühlen, erheblich über den Blick in die Sonne hinaus. Aber am Ende, im letzten, ist er nicht mehr in der Lage, das was er im Paradiso gesehen hat, noch in Worte zu fassen, weil er von diesem Blick ins Licht so überwältigt ist. „Mir geht es wie einem Menschen, der im Traum etwas sieht, aber nach dem Traum bleibt nur ein erregtes Gefühl zurück, alles andere gibt das Gedächtnis nicht her: Was ich gesehen habe, ist fast ganz erloschen, aber das süße Gefühl, das daraus entstand, tropft noch in mein Herz. So schmilzt Schnee in der Sonne, so verwehen die leichten Blätter der Weissagungen der Sibylle im Wind.“[9]

5. Kirchenkritik

Durchweg kritisch schreibt Dante über den Klerus seiner Zeit. Ihn ekeln die Grabenkämpfe um Kardinalshüte und die Tiara des Papstes. Ihn stören die massive Parteinahme der Kleriker für bestimmte kirchliche Gruppen, ihre Einmischung in politischen Streit und Gebietskämpfe. In Dantes Sicht sollte der Papst eine übergeordnete geistliche Instanz sein, die sich aus dem Tagesgeschäft heraushielt und nicht für eine bestimmte politische Seite Partei nahm. Auffällig viele der Päpste, die zur Zeit Dantes ihre Residenz nicht mehr in Rom, sondern in Avignon nahmen, finden sich auf den tieferen Stufen des Höllentrichters nieder. Dante gelangt auf seiner Wanderung mit Vergil in der Hölle zu den bestraften Kirchenleuten und entdeckt dort Widerwärtiges: Er sieht „einen Kopf, der so beschmiert war mit Scheiße, daß nicht einmal zu sehen war, ob er Laie war oder Kleriker.“[10] Dieser verschmierte Mann gehört zu denen, die im Leben nur geschmeichelt haben. Aus Gründen einer kompensierenden Gerechtigkeit (für Dante enorm wichtig) müssen sie nun das ertragen, was sie bei ihren Schmeicheleien übersehen haben. Die Simonisten, welche sich ihr geistliches Amt mit Geld erkauft haben, stehen mit dem Kopf nach unten in Erdlöchern, weil sie die Ordnung der Welt verkehrt haben.[11]

Im Paradies später, nicht mehr von Vergil, sondern von Beatrice begleitet, entdeckt Dante dann keine Kirchenpolitiker mehr, sondern nur noch Theologen: Thomas von Aquin, Augustin, Franziskus, Petrus Lombardus, dazu die Evangelisten und Apostel. Verrat ist für Dante auch aus Gründen der eigenen Biographie die schlimmste Sünde: Am Grund der Hölle vegetieren, zu Eis erstarrt, Judas und die beiden Mörder Caesars, Brutus und Cassius.[12] Dante ist begierig, Himmel und Hölle mit eigenen Augen zu sehen, er will sowohl die Verdammten als auch die Seligen befragen. Nur zweimal verschlägt es ihm die Sprache: am tiefsten Grund der gefrorenen Hölle und am höchsten Punkt des Paradieses, einmal aus Grauen, das andere Mal aus überwältigender Glückseligkeit.

Dante übt sich in der Commedia in einer Kritik an zeitgenössischen Predigten, die noch heute frappiert: „Christus sagte nicht zu seiner ersten Gemeinde: 'Gehet hin und prediget der Welt Mätzchen!' Nein, er stellte sie auf den Grund der Wahrheit. Heute geht man ans Predigen mit Witzen und Späßchen, und wenn nur gelacht wird, bläht sich die Mönchskapuze, und mehr wird nicht verlangt.“[13] Wenn man nur die Mönchskutte durch den Talar ersetzt, so treffen diese Worte auch auf die Gegenwart zu. In dieser Richtung sind in der Commedia noch viele weitere Entdeckungen zu machen.

6. Beatrice: Menschlichkeit und Glaube

Im Paradiso begegnet er auch der geliebten Beatrice wieder. Beatrice bleibt ein Rätsel. Konnte Dante die junge Frau meinen, die er als Knabe einmal in Florenz kennengelernt hat? Die 'reale' Beatrice, wenn es sie denn überhaupt gegeben hat, heiratete einen Florentiner Bürger und starb als junge Frau. Im Paradiso nimmt sich Beatrice Dantes an, sie bringt ihn zu den großen Theologen, mit denen er disputiert, und sie gibt ihm Antworten auf seine erstaunten Fragen. Sie ist der einzige Mensch im Paradies, der kein Heiliger, Theologe, Märtyrer oder Papst ist. Sie zeichnet sich 'nur' durch die Liebe Dantes aus, von der sie auf Erden gar nichts gewusst haben kann. Insofern gibt sie dem Paradiso, diesem abstrakten Ort aus Licht, Geometrie und Heiligkeit einen Zug ins Menschliche. Der Himmel ist nicht nur den Heroen des Glaubens vorbehalten, sondern steht auch für einfache Menschen offen. Und Beatrice steht auch für das Erotische, auch wenn dieses Moment in diesem Raum der Strahlen, Kreise und Parallelen nur flüchtig aufscheint. Vor allem die Figur der Beatrice konterkariert den Eindruck, das Paradies habe sich Dante vor allem für Astrophysiker ausgedacht.

7. Porte d'enfer

Die ungeheuer vielfältige und komplexe Mischung aus Theologie, Politik und Poesie, die Dante in den Gesängen der Commedia entwickelt, hat Generationen von Dichtern, Künstlern und Theologen inspiriert. Die literarische, künstlerische und theologische Wirkungsgeschichte der Commedia ist unübersehbar. Dante ist für sein Werk bewundert und gewürdigt worden. Er wurde auch darin gewürdigt, dass nachfolgende Künstler versucht haben, die Bilder zu malen, zu zeichnen[14] oder zu gestalten, die der Dichter durch seine Verse in der Phantasie seiner Leser erzeugte. Dantes Commedia wurde zum Gegenstand von Comics[15], und sie tauchte in Fernsehserien auf: In einer prominenten Szene der Serie „Mad Men“ liest eine der Hauptfiguren in Dantes Inferno.[16]

Als einer der ersten und wichtigsten Künstler illustrierte im 15.Jahrhundert der Florentiner Maler Sandro Botticelli[17] die Commedia mit Zeichnungen für eine Prachtausgabe, die für Lorenzo di Pierfrancesco di Medici bestimmt war. Dabei kooperierte er mit dem Kalligraphen Nicolò Mangone.

Viele andere haben es Botticelli nachgetan, unter anderem Auguste Rodin (1840-1917)[18], der an seinem bekanntesten und bedeutendsten Werk, der „Porte d'enfer“, dem Tor zur Hölle zehn Jahre lang arbeitete und dafür mehr als zweihundert Figuren schuf. Teilweise gliederte Rodin einzelne Figuren wieder aus dem Tor aus und machte daraus eigenständige Kunstwerke. Zu Lebzeiten Rodins wurde das Werk gar nicht in Bronze gegossen, das geschah erst nach seinem Tod.

Heute sind solche Abgüsse in Paris im Rodin Museum[19], im Park des Hotel Biron, sowie im Musée d'Orsay, für das es auch ursprünglich bestimmt war, aber auch in Zürich zu sehen.[20] Die bekannteste ausgegliederte  Figur ist der berühmte Denker (Le Penseur), der im Portal vermutlich den Dichter Dante selbst darstellt. Rodin hat aus Dante eine muskulöse nackte Figur gemacht, die zusammen gekauert auf einem niedrigen Sockel sitzt, das Kinn vergrübelt auf die rechte Hand gestützt, so als wolle der Dichter sagen: Was habe ich mir da nur ausgedacht? Der Dichter sitzt düster und verzweifelt inmitten eines Infernos leidender Menschen. Von dem umgekehrten Trichter, den Dante für die Architektur des Inferno vorgesehen hatte, ist nichts mehr wahrzunehmen. Das Tor zur Hölle zeigt schmerzverzerrte, gequälte Menschen. Rodin konzentriert die metaphysische Architektur Dantes auf den leidenden Menschen. Fragen der jenseitigen Gerechtigkeit Gottes, nach dem Verhältnis von Tat und Strafe stellen sich nicht mehr. Das Tor, das Rodin gestaltet hat, ist zur Schwelle geworden.

Die leidenden Figuren, die er darstellt, könnten die Welt diesseits oder jenseits des Tores zeigen. Dann würde diejenigen, die das Tor durchschreiten, noch eine ganze andere, unvorstellbar schlimmere Welt erwarten. Je länger Rodin an diesem Werk arbeitete, umso mehr entfernte er sich auch von Dantes Vorlage. Rodin zog weitere literarische Quellen hinzu. Er konzentrierte sich auf die Darstellung von Leiden und Elend, seine Frage lautete: Was können Menschen einander antun? Die Wirklichkeit des dargestellten Leidens stellt gleichzeitig die empörte Forderung nach ihrer Überwindung dar. Das klang bei Dante noch ganz anders, wo die Höllenstrafen einer ganz bestimmten Gerechtigkeitstheorie eingeordnet waren, wobei allerdings auch der Höllenwanderer Dante bei bestimmten bestraften und leidenden Personen Mitleid erkennen lässt.

8. Inferno aus Afrika

Neben Rodin will ich Beispiele afrikanischer Dante-Rezeption vorstellen. Im Jahr 2014 war im Frankfurter Museum für moderne Kunst eine für die Dante-Rezeption bedeutsame Ausstellung zu sehen. Sie trug den Titel „Die Göttliche Komödie. Himmel, Hölle, Fegefeuer aus Sicht afrikanischer Gegenwartskünstler[21]. Das klingt eigentlich eher nach dem Titel einer Akademietagung als nach einer Kunstausstellung. Doch die Ausstellung selbst strafte die hölzerne Titelgebung Lügen. Der Aufbau kehrte die Reihenfolge der Commedia um. Am Anfang, im Erdgeschoß standen die Werke des Paradieses, im ersten Stock folgte das Fegefeuer, im zweiten Stock die Hölle. Die Commedia beginnt bekanntlich in einem dunklen, gefährlichen Wald, in dem sich Dante verirrt. Zu diesem dunklen Wald wird durch die Anordnung des Museums die Stadt selbst, das Museum für Moderne Kunst liegt in der Nähe des Römers.

Die Kuratoren der Ausstellung hatten zuvor Künstler aus zwanzig afrikanischen Staaten gebeten, sich mit Dantes Commedia auseinanderzusetzen. Die Ausstellung präsentierte dann im Jahr 2015 die Ergebnisse.

Am Anfang stand eine Installation: In einem weißen Raum standen drei verschlossene, fächerartige Kreise aus Stofftüchern, rot, weiß und schwarz. Über den Stoffkreisen war je eine Kristallkugel aufgehängt. Das Innere der Kreise war nicht zugänglich und durfte nicht betreten werden. Das Werk „Les Cercles de cristal“ stammte von dem Künstler Pascal Marthine Tayou[22] aus Kamerun.  In dem hohen Ausstellungsraum, der sein Licht aus weit oben eingelassenen Fenstern erhielt, wirkten die Farben intensiv und strahlend. Der Künstler wählte Schwarz als Farbe des Krieges, Weiß als Farbe des Friedens und Rot als Farbe des Lebens. Die drei Farben erinnerten aber auch an die drei Teile der Commedia. Jeder Besucher der Ausstellung erhielt einen kleinen Ausstellungsführer, in dem der Künstler schrieb: „Les Cercles de cristal spricht von meinem Blick auf die Welt, die mich wie ein unauflöslicher Knoten umgibt, die mich verschluckt, würgt, abweist, erdrückt und begräbt. Das Werk hat zum Ziel, mir Abstand von der Wüste der Einsamkeit zu gewähren, durch das Innerste des existentiellen Chaos zu wandern und schließlich das Leben wieder am Herz dieser brutal zivilisierten Welt zu verorten. Die drei Kreise mit den Tüchern bilden einfache, schlichte Rückzugsorte vor der unübersichtlichen Vielfalt und Unordnung der Welt.“ Das nun erinnerte sehr direkt an Dante, der sich ja in der Commedia auf eine Jenseitsreise begab, um das Diesseits zu verstehen: seine Verdammung, das korrumpierte und verweltlichte Papsttum, die Bürgerkriege, in deren Mittelpunkt das von ihm geliebte Florenz stand. Tayou fügte dieser Auseinandersetzung mit der Unordnung ein weiteres hinzu: das Bedürfnis, ein wenig Ordnung zu schaffen in der eigenen Seele, um dem Chaos der Welt ein wenig Widerstand zu leisten und nicht gänzlich von ihm verschlungen zu werden. Rodin hatte in der „Porte d'infer“ die metaphysische Hölle auf eine Anthropologie des Leidens konzentriert. Tayou entschied sich weder für Metaphysik noch für Anthropologie, sondern wählte einen Weg der Abstraktion: Farbige Tücher stehen für eine Welt, in der sich das Furchtbare, das Grausame und das Schöne so sehr miteinander mischen, dass sie gar nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Die strikt voneinander getrennten Farbkreise der Tücher sind dann der Versuche, solch eine Ordnung wieder zu gewinnen.

An Ndary Los[23] Arbeit „The Day After“ war zu verstehen, was Dante mit „Schatten“ meint. Die „Schatten“ der verstorbenen erklärt Dante ja als entkörperte 'Seelen', aber auf seiner Wanderung durch das Jenseits scheint er sie wahrzunehmen wie Menschen mit Körper. Das war für den Schriftsteller ein Problem, das er erklären mußte. Wie konnte Dante die 'Schatten' der verstorbenen Seelen sehen? Bei Lo schwebten kleine menschliche Figuren in einem Kreis. Arme und Beine waren langgestreckt und ganz schmal, dazu kamen sehr kleine Köpfe und größere Hände und Füße. Die Figuren an dem Mobile sahen aus, als würden sie zugleich schweben, stürzen oder paradoxerweise im Aufwind steigen. Sie schwebten schwerelos in einem Raum, für den kein Oben und kein Unten existiert. Die Seelen schwebten vom Purgatorio ins Paradies hinüber. Im Katalog hieß es über diese schwebenden Figuren: „Ndary Lo konzentriert sich auf jene Momente, in denen Menschen einen Ort und damit eine Lebenshaltung verlassen und an einen neuen ziehen, was das ganze menschliche Leben aus solchen Momenten besteht, die es von Minute zu Minute verwandeln.“[24]. In Frankfurt hingen die Figuren in mehreren Kreisen im Lichthof des Treppenhauses.

Maurice Pefura[25] hatte Dutzende großformatiger weißer Blätter kreisförmig aufgehängt. In Weiß waren darauf, für den Betrachter kaum sichtbar, Schriftzeilen gedruckt. Es handelte sich um Teile des Paradiso im italienischen Original. Der Betrachter war aufgefordert, in die Installation hineinzugehen, sich darin umzuschauen, einige Zeilen zu lesen. Der Himmel, das Paradiso hat etwas Unzugängliches, deswegen weiße Buchstaben auf weißem Papier. Sie waren weder leicht zu entziffern noch leicht zu durchschauen. Der Künstler zeigte mit seiner Arbeit einen schwierigen, aber gangbaren Lebensweg auf. Leben will entziffert, gedeutet und verstanden werden. Dante selbst begibt sich im ersten Gesang des Inferno in einen dunklen Wald und damit in Gefahr. Aber er findet in dieser Gefahr auch Unterstützer, Ratgeber, Begleiter wie Vergil und später dann im Paradies die geliebte Beatrice. Er befragte alle Schatten, denen er begegnet, und bittet sie, ihm ihre Geschichte zu erzählen. Er will zum Beispiel wissen, was mit den Menschen geschieht, die historisch keine Möglichkeit besaßen, zum Glauben an Jesus Christus zu finden. Er sucht das Jenseits, um sich über sein Diesseits zu trösten. Pefura machte dieses Wandern und Fragen sichtbar, und es gelang ihm gerade deshalb so gut, weil er mit der Farbe Weiß und einem weichen, sanften Licht arbeitete. Schon für Dante war Licht das Immaterielle, war das Licht letztendlich Gott. Der Glaubende, der ins Paradies gelangen will, geht im Licht auf, er wird transparent und von allen Schatten gereinigt. Das Licht wird zum einzigen Medium des Universums.

Beeindruckend gelungen war auch die Arbeit von Bili Bidjocka. Er zeigte im Inferno, also im obersten Stockwerk an der Stirnseite eines kleineren Raums eine großformatige Fotografie. Im Gegenlicht war die Silhouette eines Mannes zu sehen. Er trug einen Poncho sowie einen breitkrempigen Hut, und er stand auf einem schwarzen Felsen, die beiden Arme hatte er über die Schultern gehoben. Sein Gesicht, das im Schatten lag, war nicht zu erkennen. Der Mann schien die Betrachter zu grüßen, ihnen zu predigen, mindestens aber eine Rede über die Schönheit der Welt zu halten. Hinter ihm lag das Meer, mit ganz leichtem Wellengang zum Strand hin. In der Ferne, am Horizont tauchten die Lichter eines Schiffes auf. Der Himmel war kaum bewölkt, ein Streifen Orange zeigte an, dass die Sonne gerade untergegangen war. Vom Horizont her strebten Regenwolken auf die Küste zu. Die großformatige Fotografie war gleichmäßig und engzeilig mit einem Auszug aus der Commedia im italienischen Original überschrieben. Die Schrift legte sich über die Wirklichkeit, über den Moment des fotografierten Augenblicks, aber auch über die Geschichte, die Dante erzählt. Der Mann mit dem Hut könnte der Jenseitswanderer Dante selbst sein, wie er auf seinen kundigen Führer Vergil wartet. Die Schrift wird zum Vergrößerungsglas, durch das der Leser auf die Geschichte und die Wirklichkeit blickt. Diese Blickrichtung kann man auch umkehren. Die Wirklichkeit ist erst dann zu verstehen, wenn der, der in der Welt nach Sinn sucht, ein Netz aus Schrift über sie ausgeworfen hat. Eine frühere Arbeit Bidjockas hatte ein einschlägiges Sprichwort illustriert: Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert. Dante begab sich in die Hölle und darüber hinaus, weil er vom Begehren nach seiner geliebten Beatrice erfüllt war, und genauso von dem Wunsch, aus dem Exil in seine geliebte Heimatstadt Florenz zurückzukehren und dort friedlich und ohne gewaltsame Konflikte zu leben.

Dominique Zinkpé aus Benin fragte sich nach der Lektüre der Commedia, was unter einer Seele zu verstehen ist. Schon mit dieser Frage kam er Dante sehr nahe, und noch näher kam er ihm mit der Installation, die er aus dieser Frage entwickelte. In einem dunklen Raum hingen über zwölftausend kleine Figuren von einem Deckengitter, verteilt auf mehrere große Wolken. Durch Spiegel auf dem Boden wurden diese kleinen, schmalen Figuren vervielfacht. Zum einen wirkten die Seelen im wahren Sinne des Wortes wie aufgehängt (wir befanden uns in der Hölle), zum anderen schienen sie im Raum zu schweben. Die Figuren waren Ausdruck einer verspielten Metaphysik, auch eine Suche nach einem entschwundenen Jenseits. Plötzlich konnte man sich ein wenig vorstellen, wie sich Dante die Hölle dachte, wie er sich das Zusammensein der Menschen als Schatten vorstellte.

Hier können nicht alle Werke der Frankfurter Ausstellung vorgestellt werden, die im übrigen durchaus von sehr unterschiedlicher Qualität waren. Dante als Dichter lehrt Demut und Staunen. Das merkt jeder Leser, und der Betrachter bemerkte das auch an manchen der Frankfurter Kunstwerke, denn vieles von dem, was ausgestellt wurde, wurde ihm auch nicht gerecht, nicht die eingefärbten Stoffbahnen, nicht die geformten Kuhhäute, welche die vier philosophischen Kardinaltugenden repräsentieren sollten, auch nicht die Porträtfotos afrikanischer Männer in Anzug und Krawatte, deren Träger Plastiktüten (erste Serie) oder alte afrikanische Masken (zweite Serie) aufgesetzt haben. Die meisten der Künstler versuchen erst gar nicht, die Fülle von Dantes Personen, Geschichten, astronomischen und metaphysischen Details gerecht zu werden. Manchmal machten sie sich zu klein vor dem Reichtum der Commedia. Trotzdem entstand aus den drei Etagen dieser musealen Jenseitswelt in Frankfurt ein stimmiges und zum Nachdenken anregendes Gesamtbild, das auf Dante verwies.

9. La teologia e la poesia

Wie kein anderes Kunstwerk hat Dantes Commedia Anschluss- und Folgekunstwerke erzeugt. Dante vermischte Theologie und Poesie zu einem Schlüsselwerk seiner Zeit, aber eben nicht nur, sondern die Einfälle Dantes wirkten über die Jahrhunderte bis in die Moderne weiter. Betrifft dieses anhaltende Fortwirken auch das Verhältnis von Theologie und Literatur oder Poesie? Als ein Motto dieses Essays wird ein kurzer Satz von Giovanni Boccaccio aufgeführt, der in seiner Lebensgeschichte Dantes zu der Schlussfolgerung kam, bei der Theologie und der Poesie handele es sich sozusagen um dieselbe Sache, und Dantes Commedia habe das ganz meisterhaft gezeigt. Dante traute sich eine wahrhaft kühne Spekulation zu, welche die Grenzen von damaligen Wissenschaften und Kunstgattungen sprengte. Spekulation kommt vom lateinischen speculari = beobachten,spähen, der Begriff hat auch mit dem Spiegel (lat. speculum) zu tun. Im Spiegel eigener Imagination begibt sich Dante auf diese Jenseitsreise, die Erkenntnisse der Wissenschaften seiner Zeit, biblische Theologie und seine eigene Kreativität, die von bestimmten biographischen Motiven gespeist war, miteinander verband. Zu den erwähnten biographischen Motiven gehören die (enttäuschte) Liebe zu Beatrice, die Kritik an Politik und Klerikalismus seiner Zeit sowie das Leiden unter der Situation im Exil. Man kann also das Werk aus der biographischen Situation Dantes und aus der damaligen Zeitgeschichte erklären. Die Kühnheit seiner im wahren Sinn des Wortes grenzüberschreitenden Dichtung besitzt allerdings bleibende Aktualität. Denn sie gerät heute, siebenhundert Jahre nach ihrer Entstehung, zum Gegenbild einer defensiven, auf Besitzstandswahrung bedachten Theologie, die sich ängstlich an einem reduktiven Jesusbild, an Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, an einem gänzlich zukunftsfreien Historismus, an politischer Korrektheit und an jeglichen Moden, die ihr von anderen Wissenschaften und sozialen Gruppen zugespielt werden, festklammert.

Vielleicht macht es keinen Sinn, christliche Romane und Gedichte zu schreiben, obwohl ich gerne einmal einen Roman lesen würde, der den christlichen Glauben als lebbare anthropologische Alternative aufzeigt. Boccaccio wollte mit seiner Identifikation der Poesie und der Theologie die Poesie adeln. Heute wäre das Umgekehrte nötig: Die Theologie sollte von der Poesie lernen und sich an ihr aufrichten. Das würde ihr Hoffnung, Zukunft und Glaubwürdigkeit verschaffen.

Solch eine im tieferen Sinn des Wortes poetisch aufgefrischte Theologie wäre einen Versuch wert. Mit der Lektüre der Commedia könnte eine solche Theologie ihren Anfang nehmen. Und selbst, wenn, was wahrscheinlich ist, dabei nur etwas herauskommt, was sich nicht mit Dante messen kann: Etwas Besseres als der allenthalben verbreitete lähmende und fatalistische Klerikalismus innerhalb und außerhalb von Fakultäten und Konsistorien sollte sich finden lassen.

Anmerkungen

[1]    Dazu Elif Batuman, A Divine Comedy. Among the Danteans of Florence, Harper's Magazine, September 2001, 55-65, https://filmmargins.files.wordpress.com/2011/08/dante.pdf.

[2]    Zum Beispiel, sehr lesenswert Michael Jäger, Mißklang in heiligen Sphären, Der Freitag 1.2.2015, https://www.freitag.de/autoren/michael-jaeger/missklang-in-heiligen-sphaeren. Schon im Jahr 2000, siebenhundert Jahre nach Ostern 1300, der Zeit, in der die Commedia spielt, erschien, genauso lesenswert:  Wolfgang Fuhrmann, Aus der Hölle in den Himmel, Berliner Zeitung 22.4.2000, http://www.berliner-zeitung.de/archiv/700-jahre-jenseitsreise--zu-ostern-feiert-dante-alighieris--goettliche-komoedie--jubilaeum--eine-wiederbegegnung-mit-einem-monument-der-weltliteratur--aus-der-hoelle-in-den-himmel,10810590,9793206.html.

[3]    Vgl. dazu Thomas Schmidt, Viva Dante, viva Italia, Roberto Benigni ehrt den Dichter zu seinem 750.Geburtstag, 5.5.2015, http://schmid.welt.de/2015/05/05/viva-dante-viva-italia-roberto-benigni-ehrt-den-grossen-dichter-zu-seinem-750-geburtstag/.

[4]    Dante Alighieri, Commedia in deutscher Prosa, übers. von Kurt Flasch, Frankfurt 2013. Ungefähr zeitgleich ist erschienen Dante Alighieri, La Commedia/Die göttliche Komödie, übers. von Hartmut Köhler, Stuttgart 2012. Köhler stellt dem italienischen Originaltext ebenfalls eine Prosa-Übertragung zur Seite. Alle Zitate aus der Commedia in diesem Essay folgen der Übersetzung von Flasch. Flasch hat über seine Übersetzertätigkeit unter anderem in diesem Interview Auskunft gegeben: Marc Reichwein, Kurt Flasch, „Er wollte eine neue Welt“, Die Welt 23.5.2015, http://www.welt.de/print/die_welt/literatur/article141390818/Er-wollte-eine-neue-Welt.html.

[5]    Parallelen zwischen Dantes Kosmologie und der modernen Theorie des Urknalls hat, vor allem im Anschluss an das, was Dante über das Licht und die Himmelssphären gesagt hat, der Schweizer Physiker Bruno Binggeli gezogen. Vgl. Bruno Binggeli, Primum Mobile. Dantes Jenseitsreise und die moderne Kosmologie, Zürich 2006.

[6]    Zur Astrologie Purgatorio 16 = Flasch 233.

[7]    Paradiso 13 = Flasch 376.

[8]    Paradiso 27 = Flasch 441.

[9]    Paradiso 33 = Flasch 468.

[10]   Inferno 18 = Flasch 84.

[11]   Inferno 19 = Flasch 85.

[12]   Inferno 34 = Flasch 155.

[13]   Paradiso 25 = Flasch 450.

[14]   Beispiele bzw. Verweise auf andere Webseiten mit Arbeiten u.a. von Dali, Blake, Doré finden sich unter http://www.openculture.com/2015/04/artists-illustrate-dantes-divine-comedy-through-the-ages.html.

[15]   So in Arbeiten des bekannten französischen Comiczeichners Moebius. Vgl. http://www.openculture.com/2015/01/moebius-illustrates-dantes-paradiso-1999.html.

[16]   Dazu Marta Bausells, Why did we see Don Draper reading Dante's Inferno in Mad Men, The Guardian 5.4.2015, http://www.theguardian.com/tv-and-radio/2015/apr/05/why-did-we-see-don-draper-reading-dantes-inferno-in-mad-men.

[17]   Abbildungen bei Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, übers. von Karl Bartsch. Mit Illustrationen von Sandro Botticelli, Wiesbaden 2010.

[20]   Eine detailreiche Interpretation des Zürcher Abgusses des Höllentores findet sich bei Felix Forrer, Das Höllentor von Zürich. Geschichte, Restaurierung und Transport, Bern 2006, http://felixforrer.com/05_files/Hoellentor_Zuerich.pdf.

[24]   Susanne Gaensheimer, Simon Njami, Die Göttliche Komödie. Himmel, Hölle, Fegefeuer aus Sicht afrikanischer Gegenwartskünstler, Bielefeld 2014, 160.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/95/wv18.htm
© Wolfgang Vögele, 2015